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Einer Sünde Wert

„Die Sünde“ …von der Schuld zum Wahn, von der Sühne zur Therapie
DGPA München 25.-28.10.2001

Das…oder der… oder die… ist schon eine Sünde wert – eine scherzhafte Redensart, nichts weiter?

Schneller Sex in der Besenkammer? – Ist er die Millionenzahlungen wert? Blow-Job im Oval Office, riskiert man dafür das höchste Regierungsamt der Welt?. Oder ganz banal eine Steuerfahndung? (Nach Auskunft der Finanzämter kommen die meisten Anzeigen von enttäuschten Beziehungspartnern).

Wir rechnen munter Wert gegen Sünde auf und was dann unter dem Strich steht, schauen wir uns erst einmal gar nicht an. Bis wir merken, dass diese Rechnung doch nicht aufgehen kann. Weil wir den wesentlichsten Faktor darin nicht berücksichtigt haben: Den Wert der Sünde.

Alle Religionen schreiben in ihrer Weise bestimmte Regulative des Handelns vor. Sie sollen das persönliche- und/oder Gemeinschaftsleben steuern. Der Bruch mit diesen Regeln wird als Sünde begriffen und geahndet. Frömmigkeit in unserem christlich-religiös geprägten Kulturkreis ist aus dem öffentlichen und privaten Leben weitgehend in einen Sonderbereich verschwunden; mit Folgen für die physische und psychische Gesundheit. Dazu später zwei Beispiele.

„Freilich, Sokrates, das tun doch alle, die auch nur ein wenig über gesunden Verstand verfügen: wenn sie am Anfang einer Unternehmung stehen, sei sie klein oder groß, so rufen sie immer Gott an.“(Platon: Timaios 27 a). Nicht nur die Griechen hatten ein enges Verhältnis zu Gott, das durch Gebet aufrecht erhalten wurde; in den sogenannten Stammesreligionen ist nahezu keine Handlung ohne Bezug auf die Sinnmitte des Lebens denkbar. Auch für den Muslim gibt es kein Ereignis, das nicht von Allahs Willen hergeleitet wird. Wo das Verhältnis zu Gott gestört ist, herrscht nach dem Begriff des Alten- und Neuen Testaments Sünde. Heute sind wir nicht mehr gottesfürchtig, halten uns etwas darauf zugute, Gott los zu sein und schließen daraus, hemmungslos sündigen zu können. Und weil es scheinbar alle (auch gerne öffentlich) tun hoffen wir, die Folgen würden uns erspart. Gesellschaftlich gibt es kaum noch Einschränkungen. Man kann auch viermal heiraten und Bundeskanzler werden. Oder als Minister (nicht nur der Bundeswehr) alle Konventionen des guten Scheins vernachlässigen zu können. …Seit dem 11. September gibt es doch hier und dort Zweifel, ob wir mit unserer grenzenlosen Freiheit auch verantwortungsbewusst umgehen.

Der Wert der Sünde zeigt sich erst, wenn wir die Konsequenzen unserer Handlungen erkennen. Der Sündenfall im Paradies mit dem „alles“ begann, war – genau genommen – ein hypnotischer Auftrag von Gott an die Menschen. Er muss die Sünde gewollt haben, als Entwicklungsvoraussetzung vielleicht, oder um die Spannung zwischen den Polen nicht zu vereinbarender Bedürfnisse zu erzeugen, aus deren Widerstreit der „Vater aller Dinge“ kommt. Gerade dadurch, dass der Baum so hervorgehoben wurde, musste das Gebot übertreten werden. Wie sonst hätte die Schlange gesprochen: „Gott weiß, dass welches Tages ihr davon esset, so werden euch eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott, und wissen, was gut und böse ist.“ (1.Mose 3.5). Der Sündenfall ist die Voraussetzung dafür, zwischen Sünde und Nicht-Sünde unterscheiden zu können. Ohne Sünde keine Tugend, keine Engel oder Teufel, kein Himmel oder Hölle, keine Entscheidung für das Eine oder das Andere, keine Spannung, die „die Welt im innersten zusammenhält“. …

Aber: Sünden haben Folgen, es ist ein Preis zu bezahlen, den man vorher noch nicht kennt – oder nicht kennen will. Meist ist die Versuchung so groß, dass man – ganz wie ein Spieler – glaubt mehr zu gewinnen als zu verlieren.

Dabei wissen wir: schon die erste Unbotmäßigkeit wurde mit, Strafe und Fluch geahndet. Es folgt auch typischerweise sofort der Versuch, die Untat zu verheimlichen und die Verantwortung abzuschieben. „Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum“. (1. Mose 3.12). In der weiteren Folge der Geschichte geschieht auch schon der Brudermord – und so geht es fort bis zur Sintflut: Strafe, Sühne, darauf Vergebung in einem neuen Bündnis, aber dann werden schon wieder neue Sünden begangen, diesmal am Bau, in Babel … und wieder Sünde – Strafe – Sühne! Trotz härtester Bestrafung ging jedoch das Sündigen immer weiter; – und der Fortschritt bekam immer längere Beine. …

Und wie sieht es heute mit den Sünden aus? –

Straft unser Gott, wenn es ihn denn gibt, noch?

Ein von seiner schweren reaktiven Depression genesener Patient fühlt sich in der Lage, seine Medikamente langsam abzusetzen. Im gleichen Verhältnis wird er wacher und unternehmungslustiger. Er nimmt seine Umgebung wieder farbig und anregend wahr, erfreulicherweise ohne die geringsten Anzeichen einer Manie! Er verliebt sich heftig, wird aber von einem Nebenbuhler ausgeschaltet. Das wirft den frisch Genesenen nicht um, denn inzwischen macht ihm eine attraktive Kollegin Avancen. Diese Dame aber fordert von ihm die sofortige Trennung von seiner langjährigen Lebensgefährtin. Er wird unruhig, überfährt mehrmals Ampeln bei Rot, wird wegen zu hoher Geschwindigkeit ertappt und findet sich schließlich eines Nachts auf der Autobahn mit eingeschalteten Warnblinkern auf dem Seitenstreifen wieder, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen war. Es war ihm nichts geschehen, er beachtet diese Vorfälle aber als Warnung und beendet das aufreibende Verhältnis.

Nun aber melden sich Gewissensbisse. Er hat als guter Katholik das Bedürfnis zu beichten, sein Pfarrer aber wiegelt ab, das sei heute nicht mehr üblich, die Einzelbeichte sei in seiner Gemeinde weitgehend abgeschafft. Daraufhin will er seiner Lebensgefährtin ein Geständnis machen, wohl in der stillen Hoffnung nun von ihr Absolution zu erhalten, wartet aber noch, denn er fühlt, dass er damit die Beziehung riskiert. Nun flüchtet er sich wieder in seine vertrauten Depressionen. Er lässt sich in einer Luxus-Klinik behandeln, sein Zustand verschlechtert sich jedoch. Darauf liefert er sich selbst in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrischen Klinik ein und bleibt dort auf eigenen Wunsch für drei Monate, obwohl er keine Suizid-Impulse verspürt. Er weiß um die Funktionalität seiner „Erkrankung“. Er hat nun einmal das dringende Bedürfnis, in irgend einer Form Busse zu tun. Der Naturfreund opfert einen herrlichen Sommer. Auch beruflich fügt er sich Schaden zu…. Nach einigen Monaten spürt er, dass es nun genug ist. Er fühlt sich befreit. Die Erkenntnis und Anerkenntnis seiner Grenzen waren ihm die Sünden und die Busse wert. Das Bedürfnis, der Partnerin den Fehltritt zu beichten, war geschwunden. Nach nunmehr zwei Jahren ist er mit sich und der Welt wieder vollkommen im Reinen.

Ein etwas komplizierterer Fall betrifft einen Mann, der auf jede neue, immer konfliktbeladene Verliebtheit, mit schwerer Krankheit reagiert und auf diese Weise – wohl unbewusst – drastische Selbstjustiz übt, möglicherweise kompensiert er damit unbewusste Schuldgefühle wegen seiner Unfähigkeit tragende Bindungen zu gestalten.

Während seiner ersten Ehe entsprießt einem, zunächst harmlos erscheinenden Seitensprung, ein Kind. Er reagiert mit Ohnmachtsanfällen, bei denen er sich schwere Kopfverletzungen zuzieht. Es folgen Scheidung, Heirat der Affairenpartnerin und, obwohl diese Ehe von Anfang an problematisch war, weitere Kinder. Dann verliebt er sich aufs Neue. Er lebt in einem Dreiecksverhältnis und kann sich nicht entscheiden seinem Leben eine klare Richtung zu geben. Der Konflikt zwischen „Pflicht und Neigung“, beschert ihm nach seinem Selbstverständnis einen Hirntumor. Nach einer komplizierten Operation erholt er sich schnell, schafft aber in seinen Familienangelegenheiten keine Klarheit, was zu ständigen Spannungen Anlass gibt. Im Laufe von mehreren Jahren entwickelt sich daraufhin eine weitere Krebserkrankung, diesmal inoperabel. Das hindert ihn nicht an weiteren amourösen Abenteuern. Nach langem Leiden und unzähligen Behandlungen wird er von seiner Geliebten verlassen. … Obwohl er schon mehrfach von seinen Ärzten aufgegeben worden war, verbessert sich sein Zustand daraufhin in erstaunlicher Weise. Allerdings stürzt er sich trotz – oder vielleicht auch gerade wegen seiner Krankheit – sofort wieder in Abenteuer. Die neuerlichen Affairen haben von vornherein wieder einen skandalösen, konflikthaften Charakter. Seine Schmerzen und Todesängste erträgt er über alle Jahre hinweg erstaunlich klaglos, mit schwarzem Humor. Irgendwie scheint es, ein Teil seiner Persönlichkeit empfinde Genugtuung über seine persönliche Tragödie. Andererseits bezieht er aus seinem Leiden auch Gewinn. Kein Mensch aus der näheren oder ferneren Umgebung übt Kritik, denn einem Todgeweihten gesteht man jede Torheit zu.

Die fehlende transzendentale Verankerung fordert ihren Preis. Inzwischen ist der Patient zwar bereit, auch psychische Mechanismen als Mitauslöser seiner schweren Erkrankungen anzuerkennen, dennoch ist er nach wie vor überzeugt, dass er in einem neuen Leben, – wenn es ihm gewährt würde, – nichts anders machen würde. Er unterschätzt dabei jedoch das Sühnebedürfnis seiner Seele. Lieber bezahlt er mit seinem Leben, als Einstellung und Verhalten zu ändern. Er hält es mit Friedrich Nietzsche, der zur „Fröhlichen Wissenschaft“ reimt: „Schmale Seelen sind mir verhasst: da steht nichts Gutes, nichts Böses fast.“ …

(„Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!“)

 

Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Gedichte. Manesse Verlag, Zürich
Platon, Timaios, 27a, Jubiläumsausgabe Zürich, 1974
Ratschow, Carl Heinz: Von der Frömmigkeit. In Ratschow, C. H. (Hrsg.) Ethik der Religionen. Kohlhammer, Stuttgart. 1980

Das Bild des älteren Menschen in unsere Zeit

DGPA Jahrestagung 24. 10. –27. 10.  2002
Leopold-Franzens-Universität. Innsbruck

Bilder sagen mehr als tausend Worte:

Die Bildsprache transportiert Werte und Unwerte, die anderweitig so eindrücklich und so schnell nicht zu vermitteln sind. Unsere Medienschaffenden suchen nach Bildern, die einen möglichst hohen Erregungswert besitzen. Sie wissen, dass sie damit auch etwas in die Betrachter hinein-bilden, aber dabei ist es scheinbar gleichgültig, ob eine positive oder unheilvolle Wirkung von den Bildern ausgeht.

Maßstab für die Bildauswahl ist der Preis, der geboten wird. Je stärker der „Aufreger“, wie es im Boulevardpresse-Jargon heißt, umso mehr wird bezahlt. Jeder, der mit Erziehung zu tun hat weiß, dass schlechte Vorbilder gerne nachgeahmt werden. Sie senken die Hemmschwelle für das eigene Tun.

Unsere Vorfahren waren daran interessiert, ein möglichst gutes Bild von sich in der Öffentlichkeit abzugeben, eine „bella figura“ – oder ein gutes Image, wie es neudeutsch heißt. Diese Persona oder Maske, hinter der sich der wahre Mensch verbirgt, durch die er hindurch „tönt“ (personare), wurde mit allen Mitteln verteidigt und aufrecht erhalten. Der „Gesichtsverlust“ ist – in anderen Kulturvölkern auch heute noch – schlimmer als der Tod. Dies muss Gründe haben.

Die Gründe haben wohl etwas mit Kontinuität, Familie und Gesellschaft zu tun, mit der Erziehung der Nachkommen und mit dem Erhalt der jeweiligen Kultur.

Bilder sind auch Ge-bilde, sie unterliegen Moden. Der Zeitgeist, der früher von der Kirche und/oder der jeweiligen Herrscherklasse geprägt wurde, wird heute von Medien erzeugt und diese wiederum richten sich bei der Auswahl ihrer Themen ausschließlich nach dem augenblicklichen geldwerten Vorteil.

Bilder sind für kommerzielle Vermarktung gut einsetzbar. Sie wirken schneller als Schrift, sie sind beliebiger interpretierbar, und insofern verlangen sie weniger konkretes Nachdenken – weder beim Leser, noch beim Journalisten. Sie sind auch vielfältiger einsetzbar, weil ihre Veröffentlichung nicht durch Text verantwortet werden muss.

Bild und Vorbild werden für Reklameflächen, von Fernsehsendern und der Boulevard- bzw. Yellow-Press erzeugt. Sie bestimmen, was „in“ oder „out“ ist. Sie dürfen auf keinen Fall die Normalität abbilden; das wäre langweilig, würde eigene Geistesarbeit erfordern. Dies gilt heute, in der Zeit der Computerverfälschung noch mehr als je zuvor. Man darf kaum noch einem Bild trauen, weil das, was früher in Ausnahmefällen nur durch Spezialisten mühevoll retuschiert werden konnte, heute von jedem PC aus fast beliebig verändert werden kann.

Statische Selbstinszenierung, wie wir sie von gemalten oder fotografischen Portraits her kennen, besitzen kaum den geforderten Erregungswert. Portraits verlangen Betrachtung, nach-denken, Überlegungen darüber, wer hier abgebildet ist. Portraits sind keine „Hingucker“, die man flüchtig wahrnimmt. Oder doch?

Das öffentliche Bild des älteren Menschen, ist in unseren Tagen leider kein gutes; – dies wirkt sich negativ auf die Lebensqualität der älteren Generation aus, ebenso wie auf die Jugend und deren Vorstellung von der Welt der Erwachsenen.

Wie verhält es sich nun mit den älteren Menschen, wer gehört dazu?

Etwa ein 40-jähriger Manager, der gerade mit einer hohen Abfindung für sein wirtschaftliches Scheitern grandios belohnt wurde? Oder ein 50-jähriger Arbeitsloser, der untätig herumsitzt? Ein 60-jähriger Playboy, der mit einem 25-jährigen Model in der Öffentlichkeit prahlt? Der 70-jährige Bild-Chef, der stolz seinen erstgeborenen Säugling präsentiert?

Eine 40-jährige Ehefrau, die sich in Töpfer- und Malkursen auf Sinnsuche begibt? Die 50-jährige Großmutter, die durch ergebenste Übernahme aller Hausarbeiten bei den Kindern versucht, ihre Daseinsberechtigung zu erhalten? Die 60-jährige, die im Wander- und Kegelclub mit gleichgesinnten Freunden ihren (Un)-Ruhestand bekämpft,– oder die 70-jährige, die mit ihren Ersparnissen den Enkel ködert und über ihre Unpässlichkeiten die Verbindung zu den Kindern hält?

Wer von diesen „erwachsenen“ Personen kommt ins Bild der Öffentlichkeit und hat damit Vorbildfunktion?

Über den Manager mit der hohen Abfindung wird nur so lange berichtet, wie man sich darüber öffentlich empören kann. Später vielleicht noch einmal, wenn er sich mit der Jeunesse dorée auf seiner Yacht sonnt und vielleicht, wenn die aktuelle Ehefrau eine ungewöhnlich hohe Abfindung bei der Scheidung verlangt. Solche Bilder bleiben im Gedächtnis junger Mädchen haften, sie lernen daraus, dass es heute schon für einen „Prominentenstatus“ genügt, die verflossene Geliebte oder der Begleiter eines Medienlieblings zu sein.

Der Arbeitslose wird als Individuum kaum wahrgenommen. Wen interessiert schon ein alltägliches Schicksal? Öffentlichkeitswirksam ist jedoch der alternde Playboy, der aller Welt zeigt, dass er sich einen blonden Harem leisten kann. Der 70-jährige „Jung-Vater“ gibt vergreisenden Herren, die von ihrem Eroberungstrieb noch nicht Abschied nehmen konnten, neue Hoffnung.

Die 40-jährige versucht vielleicht über Politik etwas Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sie wird jedoch auch kaum zum „Hingucker“. Die 50-jährige verschwindet aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Ihr fehlt aller Glamour und auch alles Spektakuläre, wonach eine Mediengesellschaft verlangt. Sie ist es zwar, die noch die Struktur der Familie aufrecht erhält, aber von ihr nimmt man keine Notiz. Die 60-jährige ist ebenso uninteressant, wie die 70-jährige; die höchstens als künftige (aber aktuell lästige) Erbquelle innerhalb der Familie ihren Platz hat. (Ausnahme: wenn sie vom ungeduldigen Enkel erschossen wird, weil sie droht, das Geld einer gemeinnützigen Institution zu vermachen. Dann allerdings kann sie sich kurzfristig  einer gewissen Anteilnahme sicher sein; – mehr jedoch noch ihr Mörder.)

Ist ein solches öffentliches Bild als Vorbild für die nachfolgende Generation zu gebrauchen? Wenn man junge Leute fragt, ob sie Vorbilder haben, so bejahen sie dies häufig. Ob diese aber nützlich und sinnvoll sind, muss bezweifelt werden.

Um Aufmerksamkeit zu erheischen, werden die Selbstinszenierungen (auch und gerade der Älteren) immer bizarrer. Aufmerksamkeit bekommt, wer sich möglichst verrückt in Szene setzt. Seitenweise wird über den ständig betrunken Entertainer berichtet, der mit einer Jugendlichen tagelang im Hotelzimmer eingeschlossen blieb, und sich mit der Halbnackten auf dem Schoß im Bademantel von der Presse ablichten lässt; den liebestollen Minister, der mit seiner Geliebten im Schwimmbecken planscht. Die alternde Society-Lady, die sich ihren Latin-Lover hält, wie andere Leute einen extravagant getrimmten Pudel.

Tugenden, wie z.B. unauffällige Pflichterfüllung, die früher ein gutes Mitglied der Gesellschaft auszeichneten, Zurückhaltung, sind heutzutage uninteressant. Man bekennt sich lieber breit und öffentlich zu seinen Schwächen und Obsessionen.

Nach wie vor üben Stars eine starke Wirkung auf die Allgemeinheit aus. Das betrifft nicht nur die Mode, sondern auch das Verhalten. Insofern waren die Film-, Sport- und Musikgrößen der 50er-Jahre immer auf ein gutes Image bedacht und darauf, möglichst keine Skandale zu verursachen. Sie waren sich noch ihrer Vorbildfunktion bewusst; und wenn sie es selbst nicht schafften, so hielt sie ihr Manager von größeren Dummheiten ab und sorgte für eine diskrete Presse.

Das ist heute ganz anders geworden: Ist der Rolling-Stones-Chef Mick Jagger ein Vorbild, dem man nacheifern sollte? Der britische Weltstar Hugh Grant, – jenseits der Vierzig -, antwortet in einem SPIEGEL-Interview auf die Frage, ob er denn partout nicht erwachsen werden wolle mit: „… das ist so ziemlich das Letzte, was ich will.“ Oder wären etwa Politiker Vorbilder, die meist nur dann ins Bewusstsein gerückt werden, wenn sie sich gravierende Entgleisungen geleistet haben? Sind unsere Tatort-Kommissare nicht etwa so in Szene gesetzt, dass man annehmen könnte, es gäbe nur überreizte Beamte, die durch besonders schlechte Manieren auffallen? Sind ihre Chefs tatsächlich nur arrogante Trottel? Lautet die Botschaft in diesem Fall nicht: wer Chef ist und Verantwortung trägt, ist autoritär, unfähig und charakterlos?

Kurz gesagt ergibt sich aus Presse, Funk und Fernsehen heutzutage folgendes Bild: Männer sind machtgierige, weibertolle, korrupte Narren, Frauen sich permanent prostituierende, geldgierige Luder. Sind das die Vorbilder?

Robert Bly spricht von der „Kindlichen Gesellschaft“. Vielleicht sollte man sie besser „kindisch“ nennen.

Es ist höchste Zeit, dass die älteren Menschen sich wieder richtig ins Bild setzen. Dass sie den guten Anschein geben, dass sie sich um ihr Image bemühen, selbst wenn dahinter vielleicht nicht alles so wunderbar aussieht. Jeder weiß, dass wir Idealbilder zumindest anstreben sollten. Erreichen werden wir sie nie; aber wir können wenigstens so tun, „als ob“ … . Das ist allemal besser, als die andauernde öffentliche Selbstdemontage, die Anbiederung an die Jugend, die nur mit Wut und Vandalismus quittiert wird.

Jugend verlangt nach Vorbildern! Wenn wir sie nicht herzugeben bereit sind, flüchtet sie sich noch mehr in ihre Scheinwelt der Discos, der Drogen, – und sie erlebt das Erwachsensein als wert- und sinnlos.

Es ist wichtig, dass wir uns von uns wieder ein gutes Bild machen. Jahrzehnte lang wurde der ältere Mensch verhöhnt, verachtet und gedemütigt, mit den entsprechenden Folgen für das eigene Selbstwertgefühl. Die Jugend wird und wurde glorifiziert. Die Alten sind so verunsichert, in ihrer Selbstverachtung so verankert, dass sie ihr Vor-bild  nur noch in ihren eigenen Kindern zu finden glauben; (nicht – wie es tatsächlich der Fall ist, ihr Nach-bild). Damit aber wird die Jugend überfordert.

Woher soll ein junger Mensch wissen, wie die Mutter in ihrer Ehekrise handeln soll? Wie kann der Sohn seinem Vater Vorschriften bezüglich seines Verhaltens machen? Dies geschieht täglich, mit verheerenden Folgen für alle Beteiligten. Das Generationenverhältnis hat sich ins Absurde verkehrt: Kinder als Erzieher ihrer Eltern, Eltern ohne Orientierung für sich selbst, ohne eigene Wertvorstellungen! Lehrer, die ihren Kindern keine moralische Instanz sein wollen. Wir erleben den Autoritätsverlust jeden Tag, intern und öffentlich – und wir erleben den verständlichen Zynismus der Jungen.

„Der Mensch wurde gewiss keine siebzig und achtzig Jahre alt, wenn diese Langlebigkeit dem Sinn seiner Spezies nicht entspräche. Deshalb muss auch sein Lebensnachmittag eigenen Sinn und Zweck besitzen und kann nicht bloß ein klägliches Anhängsel des Vormittags sein “ (C. G. Jung, GW VIII)

Der Sinn im Leben, die Aufgabe des älteren Menschen ist es, der jüngeren Generation Vorbild zu sein, ihr Orientierung im Leben zu geben. Das bedeutet vor allen Dingen selbst vorbildlich zu leben und zu handeln, gerade in der äußeren Erscheinung, dem Bild.

Das klingt nach Predigt. Wahrscheinlich haben wir sie nötig, damit wir uns wieder be-sinnen und nicht von Sinnen kommen, wegen der Bilderflut, der wir kaum noch gewachsen sind. Vielleicht bräuchte es wieder einmal einen Bildersturm. Vielleicht sollten wir uns weniger ein Bild machen – sondern ein Vorbild abgeben. Damit könnten wir sogar dem weit verbreiteten Gefühl der Sinnlosigkeit ein Schnippchen schlagen.

 

Literatur:

Bly, Robert: Die kindliche Gesellschaft: über die Weigerung erwachsen zu werden. München, Kindler 1997
Schoch, Anna: Perspektiven für erwachsene Männer, Zürich, Orell Füssli, 1997
DER SPIEGEL: Hamburg, S. 150, ff, 33/2002

Max Weber

Vortrag in Graz DGPA 13.-16. Oktober 1994

Die protestantische Ethik oder die
Entwicklung des modernen Kapitalismus

(Anmerkungen zu Max Weber 1864 – 1920)

Wir leben in der Zeit eines allgemeinen Orientierungsverlustes, ohne dass neue allgemein akzeptierbare Werte im Sinne einer kohäsionsstiftenden Wirkung für die Gesellschaft erkennbar wären. Sicherlich stellt einen Wert heutzutage eine feste Anstellung oder ein Kapitalvermögen dar. Früher hochgeschätzte Prestigeerhöhungen, wie z. B. der Titel eines Professors, kulturelle, religiöse oder ideelle Werte, gibt es in unserer Zeit fast nur noch in Form von vermarktungsträchtigen sogenannten Kultgegenständen, womit ein Modeartikel gemeint ist, nicht etwa ein Kulturgegenstand. Die Begriffe Kult und Mode vermischen sich – und am Ende bleibt wieder die Frage nach den kulturellen Werten, die beliebig geworden sind wie Konsumgüter.

Wir bilden uns viel auf eine multikulturelle Gesellschaft ein – bestimmte Statusgruppen glauben sogar, damit eine gewisse Weltläufigkeit beweisen zu können. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich diese Multikultur aber als eine Desorientierung in Bezug auf die Werte, nach denen wir uns zu richten haben, als Zeichen der Endphase einer bestimmten Kultur. In unserem Fall ist dies die Kultur des sogenannten „modernen Kapitalismus“, wie ihn Max Weber beschrieben hat.

Max Weber ist uns Münchnern vor allem durch das unvergessliche Lied des Kabarettisten Weiß-Ferdl von dem (Nachkriegs-Trambahn-) Wagen der Linie 8 bekannt, in dem eine alte Dame außerordentlich hartnäckig immer wieder den vielbeschäftigten Schaffner nach dem Max-Weber-Platz fragt und ihn damit an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treibt.

Es lohnt sich jedoch, etwas mehr über diesen allzu früh verstorbenen großen Denker zu erfahren, hatte er doch eine äußerst scharfsinnige Analyse unserer Kultur vorgelegt, die sich vom Marxismus abhob und einerseits aus diesem Grunde viele Jahre bei den europäischen Intellektuellen verpönt war, andererseits auf dem Umweg über Amerika nun doch wieder bei uns gelandet ist. Denkerische Klarheit setzt sich – auf lange Sicht – eben doch durch.

Das Thema, das Max Webers Lebenswerk bestimmte, war die Entstehung und Auswirkung des modernen Kapitalismus. In seinen Aufsätzen zur Religionssoziologie vertritt er die These, dass das Alltagshandeln des Menschen (bewusst oder unbewusst) von seinen „letzten Werten“ bestimmt ist und damit die „Kulturerscheinungen des Okzidents“ in ihrer Besonderheit hervorbringt.

Weber geht davon aus, dass alle Religionen sittliche Anweisungen für weltliches Handeln – auch wirtschaftliches Handeln – geben, gleichgültig, ob dafür von den jeweiligen Religionsstiftern direkte Anweisungen kommen oder nicht. Es geht ihm also in erster Linie um Alltagsethik, da diese dem Individuum die Werte vermittelt, denen es sich – da es in dieses Wertesystem hineingeboren wird – nicht entziehen kann.

In der „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie formuliert er seine Fragestellung, die sich auf eine Universalgeschichte der Kultur bezieht: “Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ (S.1). Er stellt also die Frage nach dem kulturellen Hintergrund des modernen Kapitalismus, insbesondere nach seinen irrationalen Anteilen, und warum dieser eine fast ausschließlich okzidentale Leistung ist. „Wissen und Beobachtung von außerordentlicher Sublimierung hat es auch anderwärts, vor allem in Indien, China, Babylon, Ägypten, gegeben. Aber: Der babylonischen und jeder anderen Astronomie fehlte … die mathematische Fundamentierung, die erst die Hellenen ihr gaben. Der indischen Geometrie fehlte der rationale Beweis (und) das rationale Experiment. … Für eine rationale Rechtslehre fehlen anderwärts … die streng juristischen Schemata und Denkformen des römischen und des daran geschulten okzidentalen Rechtes.“ (S.1-2). „Ähnliches gilt für die Kunst und alle Kulturerscheinungen des Abendlandes wie die Presse und die Universitäten mit ihrem „rationalen und systematischen Fachbetrieb der Wissenschaft: Das eingeschulte Fachmenschentum …“ (S.3).

Weber vergleicht die großen Weltreligionen und die ihnen zugrundeliegende Ethik, um zu erklären, warum sich kulturelle Merkmale in eine ganz bestimmte Richtung entwickelt haben. Dabei schließt er von politischen und geographischen Besonderheiten auf eine entsprechende Empfänglichkeit für bestimmte religiöse Ideen, die je nach den vorhandenen Gegebenheiten die Chance hatten, sich zu entwickeln. Die Entstehung von Religionen ist nach Max Weber also nicht zwangsläufige Folge einer besonderen politischen Konstellation, sondern bietet bestimmten sozialen Statusgruppen die Möglichkeit, sich in Konkurrenz zu anderen durchzusetzen oder auch zu scheitern. Weber arbeitet die Besonderheiten der protestantischen Ethik im Vergleich zu anderen Religionen heraus. Seine Methode ist der sogenannte idealtypische Vergleich. Unter dem Idealtypus versteht er eine nicht in der Wirklichkeit vorkommende, überzeichnete Ausprägung einer bestimmten Eigenart, ähnlich einer Karikatur. Aus diesem so scharf akzentuierten Bild werden die Unterschiede der verschiedenen Religionstypen herausmodelliert. Er übersieht dabei nicht, dass religiöse Ideen auch als Antwort auf materielle und ideelle „Interessen identifizierbarer sozialer Gruppen“ verstanden werden können (S. 274). Die Durchsetzung einer religiösen Idee verlangt nach seiner Ansicht Berührungspunkte mit der jeweiligen Struktur der Gesellschaft. Dies bedeutet, dass das Werk der Religionsgründer nur andauert, solange es von Menschengruppen, nicht nur von einzelnen, getragen wird.

In seinem wohl bedeutendsten Aufsatz „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ befasst Weber sich vorwiegend mit dem protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums (S. 18). Dabei geht er von einer Studie seines Schülers Martin Offenbacher aus, der die wirtschaftliche Lage der Katholiken und Protestanten in Baden im Jahre 1901 untersucht hatte. Aufgrund dieser Studie und weitergehender Untersuchungen konnte Max Weber herausarbeiten, dass ein wesentliches Charakteristikum der Sozialethik der kapitalistischen Kultur die Berufspflicht ist. Der Gedanke „Beruf als Berufung“ ist ein „Produkt der Reformation“, nämlich Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als höchster sittlicher Inhalt. Der kapitalistische Geist konnte nur unter dem Einfluss der Reformation entstehen, allerdings als eine ungewollte Folge ihrer religiösen Inhalte.

Zur Veranschaulichung dieser inneren Einstellung zitiert Weber aus Benjamin Franklins „Anleitung junger Kaufleute“:

„Bedenke, dass die Zeit Geld ist; wer täglich 10 Schillinge durch seine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag spazieren geht, der darf, auch wenn er nur 6 Pence für sein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen, er hat neben dem noch 5 Schilling ausgegeben oder vielmehr weggeworfen.

Bedenke, dass Kredit Geld ist. Lässt jemand sein Geld, nachdem es zahlbar ist, bei mir stehen, so schenkt er mir die Interessen …

Bedenke, dass Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur ist. Geld kann Geld erzeugen, und die Sprösslinge können noch mehr erzeugen und so fort. 5 Schilling ausgeschlagen sind 6, wieder umgetrieben 7 Schilling 3 Pence und sofort … . Wer ein 5-Schilling-Stück umbringt, mordet (!) alles, was damit hätte produziert werden können …“

In dieser „Anleitung“ handelt es sich nicht nur um Lebenstechnik oder Geschäftsklugheit, hier wird eine Ethik gepredigt, deren Verletzung nicht nur als Torheit, sondern als Kapitalverbrechen (Mord am 5-Schilling-Stück) behandelt wird. Weber interessiert sich für das Ethos dieser Lebensführung, in dem er den „Geist des Kapitalismus“ sieht, wobei nur vom westeuropäisch-amerikanischen Kapitalismus die Rede ist, denn auch anderenorts und zu früheren Zeiten gab es bereits „Kapitalismus“ – er hatte jedoch nicht jenes eigentümliche Ethos. „Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen.“

Mit seiner Methode der idealtypischen Beschreibung schildert Weber den Menschen, der dieses Ethos lebt, in etwa folgendermaßen: Er stellt seinen Reichtum nicht zur Schau, genießt seine Macht nicht bewusst, und gesellschaftliche Anerkennung ist ihm eher unbequem. Damit trägt seine Lebensführung einen gewissen asketischen Zug an sich. Dieser Idealtyp hat für seine eigene Person nichts von seinem Reichtum, außer der irrationalen Empfindung guter „Berufserfüllung“. Für den präkapitalistischen Menschen erscheint diese Lebensführung unfasslich und im Grunde genommen verachtenswert und schmutzig. Der Zweck einer Lebensarbeit, belastet mit Geld und Gut ins Grab zu sinken, scheint diesem nur „als Produkt perverser Triebe“ erklärlich.

Die Einstellung, den Beruf als Berufung, Pflichterfüllung als höchsten sittlichen Inhalt aufzufassen, ist – wie gesagt – ein „Produkt der Reformation“. Erst bei Calvin und den puritanischen Sekten (nicht bei Luther und schon gar nicht in der katholischen Kirche) findet Weber den „überlegenen Geist“ für die okzidentalen Kulturerscheinungen. Wichtig ist jedoch dabei, dass er nicht „töricht-doktrinär“ behauptet, der Kapitalismus sei ein ausschließliches Erzeugnis der Reformation. Nach seinen Erkenntnissen sind wichtige Formen des kapitalistischen Wirtschaftssystems „notorisch erheblich älter, als die Reformation“; ob und wieweit indessen „religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes Geistes über die Welt“ mitbeteiligt waren und welche konkreten Seiten der kapitalistischen Kultur auf jenes Ethos zurückgehen, ergründet Weber in virtuoser Weise.

Dabei wendet er sich dem calvinistischen Dogma der „Gnadenwahl“ zu, dem Kern der sogenannten „Prädestinationslehre“. Danach hat das menschliche Leben keinen anderen Sinn, als den der Verherrlichung Gottes. Ein Teil der Menschen ist als selig, ein anderer als verdammt von Gott vorbestimmt, und kein Verdienst oder Verschulden kann an Gottes absolut freien Entschlüssen etwas ändern. Die „pathetische Unmenschlichkeit“ einer solchen Lehre hat in Webers Augen das „Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums“ zur Folge. Mit den Auswirkungen dieser Lehre: „kein Prediger, kein Sakrament, keine Kirche, in der letzten Konsequenz: kein Gott“ (S. 94) ist in den Augen Webers der Abschluss „jenes großen religionsgeschichtlichen Prozesses der Entzauberung der Welt (erreicht), welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte und, im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel. der Heilssuche als Aberglauben und Frevel verwarf“ (S. 94 f.). Hier findet sich „eine der Wurzeln jenes illusionslosen und pessimistisch gefärbten Individualismus, wie er in dem ´Volkscharakter` und den Institutionen der Völker mit puritanischer Vergangenheit sich noch heute auswirkt“ (S.95,f) Selbst die Nächstenliebe hat bei dieser inneren Einstellung, da sie ja nur Arbeit „in majorem Gloria Dei“ ist und nicht als Dienst an der Kreatur begriffen wird, sachlich-unpersönlichen Charakter. Weber fragt, wie eine solche Lehre ertragen werden konnte in einer Zeit, der das Jenseits wichtiger und in vieler Hinsicht auch sicherer war als alle Interessen des diesseitigen Lebens. Daher musste sich der einzelne fragen: „Bin ich erwählt? Und wie kann ich dieser Erwählung sicher werden“? Denn die Erwählten unterschieden sich ja äußerlich durch nichts von den Verworfenen. Einzig das beharrlich gläubige Vertrauen auf dieses „finaliter“ hin macht somit das Leben erträglich. Die Erwählten sind dadurch Gottes unsichtbare Kirche, was für die Praxis bedeutete, dass es Pflicht war, sich für erwählt zu halten. Andererseits wurde die Selbstgewissheit durch rastlose Berufsarbeit am ehesten erlangt. „Sie, und sie allein, verscheuche den religiösen Zweifel und gebe die Sicherheit des Gnadenstandes“(S.105, f.) – ganz wie unser moderner Workaholic, der die Sinnfrage mit rastloser Tätigkeit verscheucht. Diese Einstellung führte zu ständiger Selbstkontrolle und einer planmäßigen Reglementierung des Lebens (morgens Joggen, mittags Geschäftsessen, abends 30 Minuten Beziehungsarbeit mit der ebenfalls berufstätigen Ehefrau, 15 Minuten für die Kinder, Tagesschau, Akte wälzen, Dienstag Fitness, Mittwoch Squash mit dem Vorgesetzten, Aktiv-Urlaub, Rotary-Club usw. usw.). Weber fasst diese Reglementierung des Lebens unter dem Begriff der „innerweltlichen Askese“ zusammen im Gegensatz zur mönchischen Askese, die aus dem Alltagsleben hinausdrängte. Damit trat an die Stelle der geistlichen Aristokratie eine durch Gott von Ewigkeit her prädestinierte Aristokratie von Heiligen in der Welt. Diesem Gottesgnadentum war angesichts der Sünden der Nächsten nicht nach Hilfsbereitschaft im Bewusstsein der eigenen Schwäche zumute, sondern nach Hass und Verachtung gegen ihn als Feind Gottes, der das Zeichen ewiger Verwerfung an sich trägt.

Die puritanische Berufsidee wirkt sich insofern auf das Erwerbsleben aus, als der Gnadenstand nicht durch „magisch-sakramentale Mittel“ oder Entlastung in der Beichte oder andere fromme Leistungen erlangt wurde, sondern ausschließlich durch die Bewährung in einem spezifisch gearteten Lebensstil. Daraus folgte der Antrieb zur methodischen Kontrolle des Gnadenstandes in der Lebensführung und deren asketischer Durchdringung. Daher die rationale Gestaltung des gesamten Daseins. Diese Leistung wurde jedem zugemutet, der selig werden wollte – was bisher nur von Mönchen verlangt wurde, also außerhalb des normalen Weltgeschehens. „Die innerweltliche protestantische Askese … wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuss des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion, ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengte die Fesseln des Gewinnstrebens, indem sie es nicht nur legalisierte, sondern direkt als gottgewollt ansah.“ So wurde durch den asketischen Sparzwang Kapital gebildet, dessen „säkularisierende Wirkung“ Weber aber nicht entging (die erste Generation schafft das Kapital, die zweite versucht, es noch recht und schlecht zu erhalten, und die dritte verpraßt es. – Unsere Generation scheint mit den angesammelten Ressourcen – auch den immateriellen – sehr leichtsinnig umzugehen). Zum Schluß noch einmal Max Weber im Original:

„Indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der ökonomische Erwerbstätigen -, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist. `Nur wie ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte`, sollte nach Baxters (anglikanischer Pfarrer 1615-1691) Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr. … Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keines von beiden – mechanisierte Versteinerungen, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-Nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die `letzten Menschen` dieser Kulturentwicklung das Wort Wahrheit werden: `Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: Dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschtums erstiegen zu haben`“ (203, f.).

Noch leben wir von den geistigen Ressourcen unserer älteren Mitmenschen – sie beginnen aber natürlicherweise zu versiegen. Da unsere religiösen Lebensinhalte nach der leider allzu wahr gewordenen Prophezeiung Max Webers (das Zitat stammt aus dem Jahre 1920!) inzwischen kaum noch vorhanden sind, steht bedrohlich eine andere Kultur und Religion buchstäblich Gewehr bei Fuß: der Islam, die jüngste der großen Weltreligionen. Vielleicht könnte uns diese beängstigende Vorstellung dazu veranlassen, uns wieder auf unser kulturelles Erbe als Europäer zu besinnen. In Europa ist ja schließlich nicht nur der Calvinismus zu Hause, sondern Gott sei Dank auch ein sittlicher Konsens, der seine Wurzeln in der Ganzheit unserer griechisch-römischen, jüdischen und christlichen Geschichte hat, zu der auch noch etwas byzantinische und islamische Kultur gehört. Diese multikulturelle Durchdringung Europas mit ihren ganz spezifischen (ursprünglich monarchistischen) Ausprägungen müsste dem Islam einen Geist entgegensetzen können, der eine neue, überlegene Ethik schafft, die in unsere Zeit passt.

 

Literatur:

Weber M (1920) Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. I. (8., photomechanisch gedruckte Auflage. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1986)

Wahnwelten

Jahrestagung DGPA 2010 in München

Unsere alltäglichen Wahnbildungen mit Hilfe der Medien

Wahn, Wahn!
Überall Wahn!
Wohin ich forschend blick’
in Stadt- und Welt-Chronik,
den Grund mir aufzufinden,
warum gar bis aufs Blut
die Leut sich quälen und schinden
in unnütz toller Wut!
Hat keiner Lohn
noch Dank davon:
in Flucht geschlagen,
meint er zu jagen;
hört nicht sein eigen
Schmerz Gekreisch,
wenn er sich wühlt ins eigne Fleisch,
wähnt Lust sich zu erzeigen.
Wer gibt den Namen an?
´s bleibt halt der alte Wahn,*
(Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg.)

Was ist nur aus ihm geworden, dem „alten Wahn“?

Während ich hier spreche, werden auf der ganzen Welt Milliarden Klicks zu Informationen führen, die wir nicht mehr durch eigenes Denken gewinnen, sondern die ein elektronisch gesteuertes Rechenprogramm aufgrund von Milliarden Daten zu einer Gewissheit zusammenfügt, die wir so, wie sie der PC ausrechnet, hinnehmen müssen, denn wir selbst können während unserer kurzen Lebensspanne eine derart komplexe  Informationszusammenfügung nicht erbringen.

Dies führt einerseits zu einer explosionsartigen Vermehrung von Wissen, das nicht mehr in unseren Köpfen existiert, sondern extern in einem riesigen Wissensraum ausgelagert ist, andererseits beraubt uns die Computer-basierte Gewissheit unserer eigenen Intuition und Kreativität – was mich zum Thema meines Vortrags gebracht hat:

„Unsere alltäglichen Wahnbildungen mit Hilfe der Medien.“

Beginnen möchte ich mit einem Zitat von C.G. Jung:

„Die Hybris des Bewusstseins will aber, dass alles aus dem Primat des Bewußtseins hergeleitet wird, wo es doch selber nachweisbar aus einer älteren unbewussten Psyche entsteht. Die Einheit und Kontinuität des Bewusstseins ist (…) eine so junge Erwerbung, dass immer noch die Furcht besteht, sie könnte wieder verloren gehen.“ (Jung, Ges. Werke, 10, S. 482, § 836)

Die Massenmedien, Rundfunk, Fernsehen und vor allem das Internet, gewinnen einen Einfluss auf unser Leben, wie dies bis vor wenigen Jahren noch undenkbar war.

Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was uns erwartet, wurde bereits schon 1938 spürbar, als Orson Welles mit seinem Hörspiel „The War of the Worlds“ in New York und New Jersey eine Massenpanik auslöste, obwohl das Werk von H. G. Wells eigentlich als Satire gedacht war und obwohl das Hörspiel am Abend vor Halloween gesendet wurde – ein subtiler Hinweis auf die Fiktion.

Der Glaube, dass medial vermittelte Informationen wahr sind, sitzt tief.

Seit es das Internet gibt, ist jedoch alles anders geworden. Hier findet sich Wahrheit, Lüge, Fiktion und Wirklichkeit in derart enger Gemeinschaft, dass auch der nüchterne „User“ die Dinge nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Die größte Schwierigkeit, sich die allgegenwärtigen unzähligen Informationen einigermaßen auf Distanz zu halten, liegt in der Entscheidung darüber, ob eine Nachricht wichtig ist oder nicht.

Schon zu Orson Welles Zeiten herrschte ein Medienkrieg, in den er mit seinem Hörspiel geraten war. So wurde auch behauptet, es hätte keine Massenpanik gegeben, die kopflose Hysterie wäre nur ein mediales Ereignis gewesen. Immerhin wird eingeräumt, dass es – zumindest bei einigen Leuten – Panik gegeben hatte, es wurde sogar von einem Todesopfer berichtet.

Tatsächlich ist das Einholen von Informationen einerseits einfacher geworden, andererseits sind die wenigsten davon auch für uns wirklich wichtig. Wir werden aber trotzdem damit belästigt und daher müssen wir ständig mit viel Energieaufwand unsere Wirklichkeit neu konstituieren. Unsere Wahrnehmung verändert sich. Wir leben in virtuellen Welten und verlieren den Kontakt zum wirklichen Leben. Wirklich ist offensichtlich nur noch, was im Internet existiert. Wir verlieren den Sinn für Qualität. Wir lassen uns mitreißen von dem, was uns die Medien befehlen, für wichtig zu halten.

Ein Beispiel wäre der Lena-Wahn, den die Massenmedien im Frühsommer dieses Jahres inszenierten. Lena Meyer-Landruth hatte den Eurovisions-Schlagerwettbewerb gewonnen mit einem seichten Liedchen, – aber mit Hilfe von Stefan Raab, einem fragwürdigen, jedoch höchst erfolgreichen TV-Entertainer. Zeitungen und Internetforen lobten Lena und ihren Manager hymnisch. Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland wurden sie von einer vierzigtausendköpfigen (!) Menschenmenge empfangen. Hysterischer Jubel brach aus, als die bewegenden Worte gesprochen wurden: „Ich heiße Nena Meyer-Landruth und ich habe den Eurovisions-Song-Contest gewonnen.“ – „Wahnsinn!“ schrieb die Süddeutsche Zeitung in ihrem Streiflicht.

Wir kennen ja spätestens seit Elvis Presley oder den Beatles die übertriebene Begeisterung für Popstars. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass sie sich mit Beendigung der Pubertät beruhigt. Nicht selten aber bleibt ein „harter Kern“ von Fans (bzw. Fanatikern), erhalten, der in dem Wahn lebt, durch die übertriebene Begeisterung und Überidentifikation mit dem Idol zu verschmelzen und dadurch selbst ein Teil von ihm zu werden.

Informationen aller Art, die ständig wiederholt werden, stellen in den angesteuerten Hirnregionen neuronale Verknüpfungen her, so dass sich entsprechend die Struktur des Gehirns verändert. Solche Veränderungen finden auch noch im höchsten Alter statt. Allerdings müssen die jeweiligen Informationen emotional besetzt, d.h. bedeutsam sein. Das ist der Grund für die überbordende Sensationshascherei der Medien. Informationen bleiben nur hängen und bekommen die gewünschte Aufmerksamkeit, wenn sie Emotionen wecken. Wir verändern uns demnach permanent, – meist ohne es selbst zu bemerken. Das wäre an sich eine gute Botschaft, denn sie beweist, dass wir immer noch lernen und uns verändern können. Die Plastizität unseres Gehirns hat aber auch einen großen Nachteil: Wir sind den ständigen Wiederholungen schutzlos ausgesetzt, wir können uns nicht dagegen wehren. Es sei denn um den Preis des Ausschlusses aus der Gesellschaft. Denn unsere Wahrnehmung schaltet nie ganz ab. Wir können zwar das Bewusstsein weitgehend ausschalten, aber wir bemerken trotzdem immer mehr, als wir uns dies vielleicht sogar manchmal wünschen.

David Altheide, ein bedeutender amerikanischer Soziologe und Medienwissenschaftler, hat sich mit der Art und Weise, wie der Irak-Krieg in den USA medial vorbereitet wurde, auseinander gesetzt. Nach seinen Erkenntnissen wurden die Nachrichten so verbreitet, dass zwangsläufig eine Einheitsmeinung generiert wurde. Plumpe Propaganda wird heute allerdings weniger eingesetzt. Wir werden viel subtiler gesteuert. Dies geschieht z.B. dadurch, dass unerwünschte Inhalte in den Nachrichten einfach weggelassen werden oder Nachricht und Meinung nicht mehr sauber voneinander getrennt werden. Im Stakkato werden Informationen mit einem Gemisch von belanglosen und wichtigen Nachrichten über die Sender geschickt. Das Publikum wird so in Atem gehalten, dass man am Nachrichtensender hängen bleibt, wie ein Süchtiger an der Nadel.

Die Neuigkeiten müssen in ein Schlagwort-Format passen und starke Emotionen wecken. Besonders beliebt sind sentimentale und gleichzeitig grausame Geschichten. Alle Medienschaffenden kennen die neuronalen Effekte solcher Gehirnwäsche und nutzen sie.

Altheide machte auf die unheilvolle Allianz zwischen Politik und Massenmedien in den USA aufmerksam: Nach dem Anschlag vom 11. September wurde konsequent die angebliche Massenvernichtungswaffen-Produktion im Irak mit dem Terrorismus der Al Kaida sowie mit erfundenen Opfergeschichten und Drogenkriminalität verquickt. Damit wurde eine Politik der Angst und Bedrohung als dominantes Motiv für die Nachrichten und die gesamte Medienkultur in den USA implementiert, Es wurde konsequent täglich eine Mischung aus Angst und Bedrohung in der Bevölkerung erzeugt.

Vor diesem Bedrohungs-Hintergrund wurde der Irakkrieg angezettelt und gleichzeitig ein Überwachungsstaat mit erheblichen Einschränkungen der Bürgerechte durchgesetzt. Eine gekonnte Propaganda und die Kooperation der größten US-Nachrichtenmedien mit der Politik ermöglichten es, dass komplexe Ereignisse mit eindeutigen Lügen erklärt werden durften. Die Aufforderung an die Bürger, gegenüber potentiellen terroristischen Anschlägen wachsam zu sein, diffamierte die aufmerksamen, rationalen und Alternativen abwägenden Mitbürger als destruktiv, als Feinde der Vereinigten Staaten. Eine intrusive Überwachung aller privaten Lebensbereiche und voyeristische Kameras waren die Folge dieser veränderten Informationsgesellschaft. Dabei ist das eigentliche Ärgernis dieser Überwachung und der zahlreichen Körperkontrollen, dass der Staat damit kommuniziert, dass dieses Kontrollformat die Menschen als Objekt und nicht mehr als Subjekt betrachtet.

Wenn die Forschung nach einer Theorie der Evidenz des Terrorismus und der Bedrohung sucht, einer Evidenz dafür, dass alle verdächtig sind und etwas verbergen, so trifft man auf  das soziologische Paradox, dass diese Theorie und ihre Evidenz schwer zurückzuweisen sind, weil es innerhalb dieser Logik keinen Platz für eine gegenteilige Evidenz gibt, so Altheide.

Die meisten Amerikaner glaubten nach diesem medialen Bombardement, Saddam Hussein wäre schuld an den Anschlägen vom 11. September. Dies hatte mit der ständigen Wiederholung der Bilder der Anschläge zu tun, die mit Geschichten über Gräueltaten im Irak und Kriminalität gemischt, permanent gesendet wurden. Die Terrorismus-Legenden haben nach Altheide der Evidenz, wenn man sie als vollständiger Gewissheit verstehen will, einen Makel aufgedrückt.

Offenbar bildet sich bei uns Menschen – wenn wir nicht von vernünftiger Seite gebremst werden – von Zeit zu Zeit eine Art von Wahnblase, die ihren Irrsinn in Aktion setzen muss. (Das Wort „Blasenbildung“ kennen wir bezeichnenderweise vom Aktienmarkt.) Welch’ schreckliche Formen sie annehmen kann, sehen wir an vielen Beispielen aus der Geschichte. Man sollte glauben, wir wären aufgrund dieser Erfahrungen ein für alle Mal für derartige Exzesse immun, es ist aber zu befürchten, dass wir noch gar nicht bemerkt haben, dass Wahn in immer neuen Verkleidungen auftritt und sich seine Opfer sucht.

Absichtlich gesteuerte Wahnbildungen gab es schon immer und überall. Kriege, Krisen und Umwälzungen in Politik und Wirtschaft natürlich auch. Der Anpassungsdruck durch krisenhafte Ereignisse begünstigt solche Entwicklungen. Heute können sich aber solche Massenwahn-Phänomene über das Internet mit einer Geschwindigkeit ausbreiten, dass sie nicht mehr zu beherrschen sind.

Können wir überhaupt noch zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden? Sind

wir noch in der Lage, eine Entscheidung darüber zu treffen, was uns und unseren Mitmenschen zuträglich ist oder nicht, wenn wir täglich einer Bilderflut von monströsen Verbrechen, brutalem Sex, Morden, Hunger, Naturkatastrophen usw. ausgesetzt werden? Kann dies auf Dauer ohne Schaden für unsere Psyche bleiben? Wir lernen am Modell, (A. Bandura) aber die Produzenten der unappetitlichsten Videos und Killerspiele werden nicht müde zu behaupten, die Filme und Killerspiele hätten keinen Einfluss auf das Verhalten oder auf unsere Charakterbildung – und man hätte ja die freie Wahl, abzuschalten. Die Gewaltexzesse der Jugendlichen sprechen eine deutlich andere Sprache.

Schillers Vorlesung „zu Mannheim“ vom 26. Juni 1784 mit dem Titel „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ wäre jedem Medienschaffenden als Pflichtlektüre zu verordnen:

Es ist nicht Übertreibung, wenn man behauptet, dass diese auf der Schaubühne aufgestellten Gemälde mit der Moral des gemeinen Manns endlich in eins zusammenfließen, und in einzelnen Fällen seine Empfindung bestimmen.“ (F. Schiller Bd. V, dtv S. 823)… und …“Ich kenne nur ein Geheimnis, den Menschen vor Verschlimmerung zu bewahren und dieses ist – sein Herz gegen Schwächen zu schützen. – Einen Großen Teil dieser Wirkung können wir von der Schaubühne erwarten. „ (ebenda: S. 825).

Wenn Schiller schreibt „Unmöglich kann ich hier den großen Einfluss übergehen, den eine gute stehende Bühne auf den Geist der Nation haben würde.“

Wenn unsere TV-Programme, die You Tubes, Facebooks usw. keine stehende Bühne sind, was sind sie dann? Schiller hätte sicher gejubelt, über die ungeheuren Möglichkeiten dieser „Schaubühne“, wie positiv diese auf die „Nation“ wirken könnte; – angesichts der Wirklichkeit aber würde er verzweifeln und sich mit Grausen abwenden.

Die sarkastischen Vorschläge in Online-Foren, z. B. des SPIEGEL, die im Frühsommer, nach dem Rücktritt unseres Bundespräsidenten Horst Köhler, Stefan Raab als Nachfolger vorschlugen, waren nicht alle so absurd gedacht, wie man glauben könnte. Für Lena wurde sofort nach ihrem Eurovisions-Sieg von der SPD das Bundesverdienstkreuz gefordert – warum nicht auch gleich Stefan Raab für das höchste Amt? Lena for Kanzler! – Raab for President! … – … Wahnsinn!

 

Literatur:

Altheide, D.L.: Terror Post 9/11 and the Media War. Peter Lang New York, 2009
Bandura, A., Walters, R. H.: Social learning and Personality Development. New York, 1963
Jung, C. G.: Das Gewissen in psychologischer Sicht. Vortrag 1957/58. In: GW Bd. 10, Zivilisation im Übergang. Walter-Verlag, Olten, 1974
Schiller, F.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Bd. V. Theoretische Schriften, S. 818-831. Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? dtv München, 2004
Wagner, R.: Die Meistersinger von Nürnberg. Dritter Aufzug. Reclams Universal Bibliothek Nr. 5639. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002

Von Gott verlassen

„Über Gott und die Welt“

Vortrag gehalten auf der 37. Jahrestagung der DGPA, Deutschsprachige Gesellschaft für Kunst und Psychopathologie des Ausdrucks e. V.,  in Berlin, Charité vom 28.-31. Oktober 2004

Vor seiner tragischen Erkrankung stellte Nietzsche fest: „Gott ist tot“; – und schuf sogleich seinen eigenen Götzen, Zarathustra, damit er nicht doch völlig verlassen war. (Dieser Gedanke entstammt einer Veröffentlichung von C.G. Jung).

Seit Nietzsche ging Gott allerdings auch den „breiteren“ Bevölkerungsschichten der westlichen Welt weitgehend verloren. Dies wurde lange Zeit als Fortschritt für die individuelle Entwicklung begrüßt, ob jedoch die breiteren Bevölkerungsschichten mit dieser Gottverlassenheit zurecht kommen, darüber gibt es wenig Auskunft. Nicht jeder hat gleich einen Ersatzgötzen zur Hand.

Ist der eifernde Gott noch aktuell, der an oberste Stelle im Dekalog fordert:  „Du sollst keine andern Götter haben vor mir!“?

Wenden wir dieses uns heute so unsinnig erscheinende altertümliche Gebot vom Theologischen ins Profane so stellt sich die Frage, ob die Forderung etwa dazu dienen könnte, uns vor psychischen Erkrankungen zu bewahren. Vielleicht erscheint es lächerlich, sich mit Gott zu beschäftigen in einer Zeit, da Religion nur noch etwas für Kirchgänger zu sein scheint, die es nur noch dort zu geben scheint, wo sakrale Kunstwerke zu besichtigen sind. Dort brennen allerdings auffallend viele kleine Kerzchen. – Man glaubt zwar offiziell nicht und nichts mehr, – aber es “soll doch helfen, auch wenn man nicht daran glaubt“. (So Nils Bohr zu seinen Studenten, als sie ihn wegen eines Hufeisens über seiner Haustür ansprachen).

Unser Gott, den wir uns viele Jahrhunderte lang gründlich abtrainiert haben, wozu die Amtskirche kräftig mitgeholfen hat, hat in unserer Gesellschaft eine auffällige Leere hinterlassen. Der Nachrichtensender des Bayerischen Rundfunks wirbt beispielsweise in ständigen Wiederholungen mit dem Slogan: “Denn in 15 Minuten kann sich die Welt verändern!“. (Klingt das nicht nach religiösem Eifer?) Warum ist es so wichtig nichts zu verpassen? – Es geht in Wirklichkeit um die zwischengeschalteten Werbespots! Dafür sollen wir uns den ganzen Tag an den Sender halten. Sonderbarerweise tun das auch viele Menschen ohne den Trick zu durchschauen. Was sie aber uneingestanden erhoffen sind Sinnangebote die vermittels irgendeiner grandiosen Neuigkeit, alles verändern könnten.

Es wird wieder vermehrt nach Sinn, nach Religion, ja vielleicht sogar nach einer Kirche, für die man sich nicht genieren und rechtfertigen muss, gesucht. Dabei hat sich eine esoterische Bewegung entwickelt, in der alles geglaubt wird: Hexen- und Satanskulte, schwarze- und weiße Magie, Tarot, Schamanismus, Wahrsagerei, Reiki, Astrologie und unzählige andere okkulte Phänomene und Techniken werden auf dieser Sinnsuche in Anspruch genommen. Dies alles nennt man dann Spiritualität – was immer auch damit gemeint ist.

Unsere aktuelle, gerade im Sinken begriffene Religion, die Sinnstiftung der letzten Jahrzehnte, geht von der (schon im Alten Testament als Frevel angeprangerten) Ideologie eines Götzendienstes aus. Zur Erinnerung: Als Moses vom Berg mit seinen Gesetzestafeln herabstieg, sah er, wie das Volk um das „Goldene Kalb“ tanzte. Der Götze hieß Gold – Geld – Erfolg. Geradeso wie in den letzten Jahren des Börsenbooms, als sogar solide Großväter ihre Ersparnisse Aktienspekulanten anvertrauten. Der darauf folgende Kater führte in eine kollektive Depression.

Das Credo der letzten Jahrzehnte hieß Erfolg. Erfolg wurde dokumentiert durch materielle Statussymbole. Früher war man stolz darauf, als Handwerker, Kaufmann oder Lehrer in die auf religiöse Werte ausgerichtete Gesellschaft eingebettet zu sein und einen sinnvollen Beitrag zum Ganzen, zur höheren Ehre Gottes, zu leisten. Heute muss man schon ein Superstar sein – zur eigenen Ehre. Das führt geradewegs zum Daniel-Kübelböck-Syndrom. Es geht nicht mehr darum, was einer kann, sondern wie er es vermarktet. Die Botschaft unzähliger Motivationsbücher, die letztlich auch eine Art von Religionsersatz sind, lautet: Du kannst alles schaffen, was Du dir vornimmst. Es gibt keine Einschränkungen in Bezug auf Talent oder Neigung. Erfolg wird ausschließlich am Geld gemessen und so heißt das heutige Berufsbild: „Geldverdienen“, nicht etwa ein Werk vollbringen. Amerikaner pflegen zu Intellektuellen gerne etwas herablassend zu sagen: When you are so smart, so why ain’t you rich? Bildung gilt nichts. Sie zählt nur im Hinblick darauf, wie viel Geld damit zu verdienen ist. (Dazu passt die aktuelle Debatte zur Schließung der geisteswissenschaftlichen Fakultäten an unseren Universitäten; – und auch die Frage nach der Kontinuität unserer Gesellschaft.)

Wir haben eine Orientierungskrise! Das Absterben der auf religiöse Werte ausgerichteten Lebensführung hat uns eine kurze Erfolgstory beschert, aber eine innere Öde hinterlassen. Jetzt wissen wir nicht mehr, wie es weiter gehen soll.

Es stellt sich also auch im Gradmesser des Erfolges, beim Geld, so dar, wie Calvin gepredigt hat: Es gibt nur wenige, die „prädestiniert“ sind. Aus dieser Haltung heraus können sich Top-Manager ohne weiteres Millionengehälter genehmigen und gleichzeitig tausende von Arbeitern entlassen. So ist sich jeder nur noch selbst verantwortlich und kann nur durch eigene Anstrengung zeigen, ob er zu den „Auserwählten“ oder zu den „Verworfenen“ gehört. (Max Weber)

Arbeitslosigkeit wird immer noch nicht als kollektives Schicksal empfunden, sondern als persönlicher Misserfolg. Dieses nicht sehr christliche „von Gott verlassene“ Denken macht die Menschen so mitleidlos, ihre Lage so hoffnungslos. Wir wissen nicht, was wir ohne Erfolg anfangen sollen. Ein Ausweg ist nicht in Sicht. Wir haben keinen Moses, der mit Gesetzestafeln vom Berg herabsteig!. … Der Mythos besagt allerdings, er habe in seinem Zorn, als er das Volk um das Goldene Kalb tanzen sah, die Tafeln zerschlagen.

Können wir darauf hoffen, dass es uns gelingt, die Scherben einer christlich-abendländischen Werteordnung wieder neu zusammenzufügen? Die Werteveränderungen, die sich durch die mitgebrachten Religionen der riesige Anzahl von Immigranten nach Europa ergeben, erfordern eine neue Form von Toleranz im Umgang miteinander. Die Amtskirche wäre prädestiniert, Beispiel zu geben. Aber da kommen gleich die alten Bedenken, dass die Kirche versagt habe. Das stimmt zum Teil, jedoch sollten wir nicht vergessen, dass wir die Kirche und die Verfehlungen ihrer Würdenträger immer mit ihren eigenen Werten und Argumenten kritisieren!

Oder haben wir bereits eine ganz andere Religionsbewegung, die wir nur noch nicht wahrgenommen haben?

Die jüngsten Debatten um Minarette in deutschen Städten, das Kopftuch bei Lehrerinnen oder islamischen Religionsunterricht an unseren Schulen zeigen, dass Gott – bei allen Säkularisierungsbestrebungen – das Feld noch lange nicht geräumt hat. Wir haben zwar unsere Kreuze aus den Klassenzimmern verbannt, jetzt kommen die Symbole aus einer ganz anderen, unerwarteten Richtung zu uns zurück.

Bei der Konzeption einer Europäischen Verfassung wurde von einigen Parteien vergeblich darum gekämpft, dass auf unsere christliche Tradition Bezug genommen wird. „Europa als Rechts- und nicht als Gesinnungsgemeinschaft“, wie die ZEIT schreibt; – offenbar glaubt man ohne Bezug auf eine übergeordnete Idee auszukommen. Es stellt sich die Frage, ob Europa bestehen bleibt, wenn gemeinsames Handeln geboten ist.

Wir sollten Sinn nicht dort suchen, wo sich andere Völker mit ihrer Heilsgewissheit gerade selbstmörderisch hineinsprengen. aber die radikalen Muslime haben uns gezeigt, dass wir viel zu intensiv den falschen Götzen „Erfolg“ angebetet haben. Götzen haben die unangenehme Eigenschaft, im Ernstfall keine Kraft zu verleihen. Daran zeigt sich, ob wir es mit einem leeren Symbol oder mit einer numinosen Macht zu tun haben.

Helfen die wurmstichigen Marienbilder, die dunklen Altäre noch? Sind die Reliquien in barocken Schreinen nicht allzu archaische Überreste, denen wir kein Heil mehr entringen können? Bieten die bilderbereinigten protestantischen Kirchen etwa mehr Geborgenheit? Wo sollen wir einkehren? Sollen uns Halbedelsteine oder andere magische Gegenstände in jene transzendenten Sphären entrücken, wie dies vor Zeiten eine Rosenkranz-Andacht mit ihrer Trance-erzeugenden monotonen Gebetswiederholung konnte? Die alten Rituale z.B. eines katholischen Gottesdienstes verstehen wir heute nicht mehr und infolgedessen verfügen wir auch nicht mehr über die dort verborgenen Gnadenmittel zu unserem Heil. In der alten Kirche gibt es noch eine Vergebung der Sünden, und die damit verbundene Entlastung unserer Seele. In der modernen Welt aber, der gottverlassenen, gibt es das nicht mehr.

Die Frage stellt sich nicht, ob es einen Gott gibt! Die Frage ist, ob wir einen Gott brauchen!

Diese Frage wurde seit der Aufklärung über Jahrhunderte falsch gestellt, mit der Konsequenz, dass wir selbst unsere Kultur, unsere Werte vernichtet haben und in der heillosen Gegenwart gelandet sind. (Ich erinnere zur Illustration unseres gegenwärtigen inneren Zustandes an Autoren wie Michel Houllebecq oder Elfriede Jellinek!)

In unserer jüngeren Generation scheint sich hingegen ein erfreuliches Bedürfnis nach moralischer Fundamentierung zu entwickeln. Die Jugend ist erstaunlich wissbegierig, wenn es um höhere Werte geht. Sie ist auf der Suche nach Orientierung – und die Alten sind es insgeheim auch.

Moralische Fundamentierung – muss man sich auf der Suche danach zu neuen Göttern, neuen Ritualen hin bewegen? Oder liegt die Lösung nicht doch viel mehr in einem christlich- abendländischen Wertesystem zeitgemäßer … zeitgemäßerer Prägung?

Auf dem Weg in die Zukunft ist unserer und auch den folgenden Generationen keine Umkehr anzuraten. Eine Umkehrung allerdings könnte doch wertvolle Orientierungshilfe sein. Wir haben sie bei dem zeitgenössischen Poeten und Satiriker Robert Gernhard gefunden, der neben „seinem“ Nietzsche offensichtlich auch noch etwas anderes kennt. Zitat:

„Gott ist tot!“ (Nietzsche)

„Nietzsche ist tot!“ (Gott)

Literatur:
Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. C. H. Beck, München 2004
Houllebecq, Michel: Ausweitung der Kampfzone. Roman. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 5. Aufl. 2001
Jelinek, Elfriede: Lust. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1989
Jung, C. G.: Psychologie und Religion. dtv München 2001
Lehmann, Hartmut: Topografie des Glaubens. MaxPlanck Forschung 2/2004
Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. 1. Aufl. 1920. Tübingen: Mohr 1.-8. photomechan. gedr. Aufl.- 1986