Anna Schoch

Schönheit und Neid

Wenn Sie die Augen schließen und sich „Schönheit“ vorstellen, können Sie an sich eine angenehme Wirkung verspüren: Auf seltsame Weise werden Sie sich entspannen, sogar etwas emporgehoben fühlen. Es ist, als ob Sie ein Lächeln umgreift.

 Wenn sich aber gerade ein junges Mädchen bei der RTL-Sendung „Deutschland sucht den Superstar“, um den ersten Platz bewirbt, wird bei dem Gedanken an Schönheit Stress aufkommen. Vom Wahren, Guten, Schönen bleibt nichts. Es geht nur um das sprichwörtliche „Spieglein, Spieglein an der Wand“ … – vor allen Dingen aber geht es um Vergleich und Konkurrenz.

 Als das Thema „Schönheit“ für unsere Tagung vorgeschlagen wurde, lag die Assoziation zum „Neid“ nahe. Eigentlich müsste man ihren Gegensatz, die „Hässlichkeit“, dazu näher betrachten. Wenn man aber die Auswirkungen des Neides untersucht, so kommt man an seiner hässlichen Fratze kaum vorbei.

 Neid ist ein archetypisches Gefühl. Es betrifft uns alle, auch wenn wir überzeugt sind, dass immer nur „die Anderen“ neidisch sind. Neidisch kann man auf fast alles sein. Es gibt sogar Neidpersönlichkeiten.

 Psychologisch lässt sich Neid in dreifacher Weise beschreiben: Als (manchmal durchaus leidenschaftliches) Gefühl, als Handlungsmotiv und als Persönlichkeitseigenschaft.

„Das hauptsächliche Bestimmungsmerkmal des Neides ist seine Feindseligkeit.“ (1)

Immanuel Kant unterscheidet „qualifizierten Neid, wenn er zur Tat ausschlägt“ von der Missgunst, mit der mehr der alltägliche Neid gemeint ist. (2)

 Unsere sozialen Normen verlangen, dass wir auf feindseligen Neid verzichten, und fairerweise eine Leistung und den damit verbundenen Erfolg anerkennen. „Neidlos“ sollen wir bewundern. Wer auf den Vorzug eines anderen neidlos reagieren kann, erkennt – wenn auch möglicherweise mit Bedauern – dass er oder sie zu viel von sich erwartet hat. Im Idealfall passt er das Bild, das er von sich hat, an die Realität an, ohne die Liebe zu sich selbst zu verlieren. Wer hingegen deprimiert reagiert, lässt in seinem Anspruch nicht locker. Dadurch fühlt er sich einerseits gebunden und dadurch gelähmt, andererseits hält er aber an den sozialen Normen fest. Diese Haltung könnte in Selbsthass münden.

 Ehrgeizig-stimulierender Neid spornt an. Man wetteifert und versucht – vielleicht auf einem anderen Gebiet – selbst Höchstleistungen zu erreichen.

 Empört-rechtender Neid liegt vor, wenn der Neider glaubt, das begehrte Gut sei zu unrecht erworben. Dann wird zumindest abgewertet, wie z.B.:  „… die verdankt ihr gutes Aussehen doch nur dem  plastischen Chirurgen…“, oder: „…der hat sein Vermögen doch nur durch Schiebereien  erworben. …“. Empört-rechtender Neid hat auch eine politische Komponente. Dann fallen Bemerkungen wie: „Die haben ja nie gearbeitet und leben von unseren Steuergeldern…! Die nehmen uns die Arbeit weg!  Alles soll allen gehören!“ usw..– Hier findet sich die Neidgesellschaft.

 Schon Platon empfahl den Bürgern, in freundlichem Wettstreit miteinander zu leben und zu arbeiten, weil daraus der größte Wohlstand und die meiste Zufriedenheit erwachsen würden.

 Bei Rolf Haubl (2) finden wir auf der Rückseite seines Buchumschlages in charakteristischer Weise den Unterschied zwischen konstruktivem und destruktivem Umgang mit Neid geschildert:

„Geht ein US-Amerikaner mit seinem Freund spazieren. Kommt ein großer Cadillac vorbei. Sagt der Amerikaner zu seinem Freund: „So einen Wagen fahre ich auch noch mal!“ – Geht ein Deutscher mit seinem Freund die Straße entlang, fährt ein BMW vorbei. Sagt der Deutsche zu seinem Freund: „Der Typ geht auch noch mal zu Fuß!“

 Politische Ideologien, die auf Neid gegründet sind, können interessanterweise neben Erfolg besonders Schönheit schlecht ertragen. Schönheit fällt auf. In der Neidgesellschaft soll aber alles gleich sein. Eine Neidgesinnung verträgt schöne Kunstwerke, wie zum Beispiel bedeutende Architektur, schlecht. (Dies gilt aber ebenso für herausragende Musik, Malerei oder Literatur). Als nur ein Beispiel unter vielen anderen könnte man das Berliner Stadtschloss nennen, das mit sehr viel Aufwand gesprengt wurde. Dagegen sollte ein öder Einheitsbau, der „Palast der Republik“, Stadtmittelpunkt werden. Das Ganze wurde mit ideologischen Gründen gerechtfertigt. So erinnere ein Schloss an feudale Zeiten. (Man fragt sich unwillkürlich, woran dann Plattenbauten erinnern sollen.) Unzählige architektonische Meisterwerke, Kirchen, Schlösser und auch Profanbauten, wurden verwüstet. In Neidgesellschaften herrscht nicht nur Misstrauen und Gewalt, sondern auch viel Hässlichkeit. Kreativität, Initiative und Entwicklung wird systematisch unterdrückt. Nichts darf auffallen, weder positiv noch negativ. Auf diese Weise kommt nicht nur die Architektur und die Kunst, sondern auch jede andere spontane Regung schließlich zum Stillstand.

 Francis Bacon (1561-1626) schreibt in seinem Essay „Über den Neid“ (1597) „Wer stillsteht, während andere emporkommen, kann sich kaum der Regung der Missgunst erwehren.“ (3)

 Man kann sich sogar um das beneiden, was man selbst einmal war. Dies betrifft bei Frauen ganz besonders die (frühere) Schönheit. Bei Männern ist es vielleicht der Höhepunkt ihrer Karriere oder Fitness. Auch auf diese Weise kann sich die Feindseligkeit gegen die eigene Person richten. Man hasst seine eigene Schwäche. Dies kann bis zum Suizid führen.

 Bei der Schönheit einer Person entsteht der Neid durch Vergleich. Man wird auf eigene Mängel aufmerksam. Der Neid will diese Kränkung beseitigen. Am liebsten würde man die ganze Person vernichten, deren Anblick die missliche Stimmung verursacht. Warum ist die andere schöner als ich? Das ist ungerecht! Schönheit kann man nicht einfach durch Anstrengung erwerben. Schönheit ist ein unverdientes Göttergeschenk. Hier finden wir am häufigsten Feindseligkeit in der Abwertung, wie das Stereotyp, dass schöne Frauen zwangsläufig dumm sein müssten oder auch in den zahllosen Blondinenwitzen.

 In der sonntäglichen ARD-Sendung „Anne Will“ vom 22. September 2009, wurde der bärbeißige damalige Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) von der Moderatorin gefragt, ob ihn die Beliebtheit seines Wirtschaftsminister-Kollegen zu Guttenberg (CSU) schmerzen würde. Steinbrück antwortete: „Er sieht besser aus als ich.“ Das klang zwar witzig, aber damit hat er sich decouvriert. Er verpackte die feindselige Regung in eine Bemerkung, die den jungen Minister auf sein Aussehen reduziert und ihm damit indirekt auf subtile Weise die Fachkompetenz abspricht. Neid bekam der Minister aber nicht nur vom früheren Kollegen und politischen Gegner zu spüren sondern auch aus den eigenen Reihen. Kein anderer erregt so viel Aufmerksamkeit, wie „der Baron aus Bayern“. Man darf gespannt sein, wie lange er die Anfeindungen aushalten wird.

 Im Neid werden Vorzüge oder Privilegien des Neiderregers vergrößert wahrgenommen. Da Neid aber meistens maskiert auftritt, bemerkt ihn der Betroffene oft nicht gleich und ist dann über die ihm entgegenschlagende Feindseligkeit erschrocken.

 Es gibt vielfältige Ausdrucksweisen von Neid, wie z. B. Rache, Ressentiment, (hierher gehört auch die Gewalttätigkeit Jugendlicher), Mitleidlosigkeit in der Kritik und nicht zuletzt Zynismus. Weit gefährlicher als offene Feindseligkeit sind Intrigen. Sie können die soziale Existenz des Beneideten vernichten.

 Mit Neid eng verbunden ist die Schadenfreude, das Gefühl, dass wieder Gerechtigkeit hergestellt wurde. Der Neider freut sich, auch wenn er eigentlich nichts vom Pech des Neiderregers hat.

 Goethe bemerkte lapidar, dass Neider Feinde sind. Nietzsche gab den Rat, zu jeder guten Nachricht auch gleich eine schlechte mitzuliefern, um die Neider zu besänftigen.

Sigmund Freud war der Meinung, dass der Neid der anderen „unheimlich“ sei. Besondere Gefahr bestehe dann, wenn etwas kostbar und hinfällig ist. Schönheit ist besonders kostbar – und hinfällig. So kann sich das Privileg der Schönheit in eine Bedrohung für die eigene Existenz verkehren.

 Schutzamulette, gegen den bösen Blick, wie sie weltweit verbreitet sind, Bekreuzigungen, die Hand der Fatima, und vieles andere, zeugen davon, dass alle Kulturen von den Gefahren, die der Neid mit sich bringt, wissen. Sogar die Götter sind bekanntlich neidisch: (Schiller, Ring des Polykrates).

 Da nun aber Neid überall vorkommt, und alle Menschen genau zu wissen glauben, was es mit dem Neid (der anderen) auf sich hat, muss dieses unangenehme Gefühl, das für den Neider ebenso destruktiv wirkt, wie für denjenigen, auf den sich die Angriffe richten, eine wichtige Funktion haben: Neid ist ein unentbehrliches Signal, das Entwicklung anmahnt. Diese Entwicklung kommt allerdings nur dort in Gang, wo die Mahnung richtig verstanden wird und die unangenehmen Gefühle in konstruktive Handlungen umgesetzt werden können. Viel einfacher ist es hingegen, wütend zu reagieren und das Neid erregende Objekt zum Teufel zu wünschen.

 Feindseliger Neid tritt besonders häufig bei den Menschen auf, die an einer Selbstwertproblematik leiden. Erich Fromm (4) sagt, dass Neider sich nicht selbst lieben können. Sie sind – nach seiner Meinung – aber auch nicht bereit etwas dafür zu tun, um ihren Selbstwert zu steigern. Das bedeutet, dass Neider passiv sind. Sie beneiden zwar die Vorzüge und Leistungen anderer, wollen aber die Mühen, die mit einer Änderung ihrer Situation verbunden wären, nicht auf sich nehmen. Der Ruf, sich mehr anzustrengen und mit dem Beneideten in fairen Wettbewerb einzutreten, wird abgewehrt.

 Neid soll Selbstzufriedenheit und Entwicklungsstillstand verhindern. Darum ist das Gefühl so unangenehm. Es verstört. – Der Anblick von Schönheit ist ein Weckruf: Vielleicht an uns selbst, uns weniger gehen zu lassen, achtsamer zu leben, die innere und äußere Haltung zu korrigieren oder sich mit schöneren Dingen zu beschäftigen, anstatt jeden Abend im Fernsehen seichte Sendeformate zu konsumieren.

 Im Schneewittchen, dem wohl bekanntesten Märchen der Brüder Grimm (5), duldet die böse Stiefmutter keine Schönheit neben sich. Auf die Frage „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ antwortet der Spiegel: „Frau Königin, ihr seid die Schönste hier, ABER Schneewittchen ist noch tausendmal schöner als ihr.“ Diese Antwort löst bei der Königin Mordgedanken aus. Hier handelt es sich paradigmatisch um den Neid der (immer noch) schönen Mutter auf die Schönheit und Jugend ihrer Tochter.

 So beauftragt sie auch folgerichtig den Jäger, das schöne Kind im Wald zu schlachten und ihr zum Beweis dafür Herz und Leber zu bringen. Schneewittchen überlebt bekanntlich den ersten Mordanschlag, weil der Jäger Mitleid hat. Der erlegt stattdessen ein junges Wildschwein und bringt die Innereien als Beweis zur Königin. Als der Zauberspiegel offenbart, dass Schneewittchen noch lebt, macht sich die Mutter selbst ans Werk und versucht das Kind auf dreierlei Weise aus der Welt zu schaffen:

Zuerst schnürt sie das Mädchen so fest, dass es zu Boden fällt und fast erstickt. Die Zwerge retten Schneewittchen. Sie lösen die Bänder, so dass es wieder atmen kann. – Oft genug werden beneidete Menschen mit so viel Gehässigkeit verfolgt, dass ihnen buchstäblich die Luft weg bleibt.

Der zweite Anschlag wird mit einem vergifteten Kamm ausgeführt. Auch diesmal entdecken die Zwerge den Fremdkörper noch rechtzeitig. Schneewittchen erholt sich. – Dies verweist auf die giftigen Bemerkungen der Neider. Ein treffenderes Symbol hätte kaum gefunden werden können.

Schließlich greift die böse Mutter zum letzten Mittel, dem präparierten Apfel, von dessen giftfreier Seite sie selbst abbeißt, um die Bedenken des jungen Mädchens zu zerstreuen.

– Hier zeigt sich die Falschheit, die Intrige, die so oft tödlich endet. Dies wurde und wird im Theater, in der Oper und der Literatur, immer wieder bewegend thematisiert. Es handelt sich um die Beschreibung einer Tragödie, die täglich neu belebt und erlitten wird.

 Schneewittchen rettet sich in den Wald zu den Zwergen. Es ist jetzt einsam und isoliert. So wie jeder, der aus Neid mit Hass verfolgt wird sich verständlicherweise abwendet, – dadurch aber auch vereinsamt.

 Schneewittchens Schönheit hat niemand etwas weggenommen. Die Mutter ist ja immer noch außerordentlich schön. Für die Tochter aber ist die Schönheit zur tödlichen Gefahr geworden. Die Zwerge, zu denen sich das Mädchen gerettet hat, erwarten von ihm, dass es während ihrer Abwesenheit den Haushalt besorgt und sich mit Putzen und Kochen nützlich macht. Dadurch wird die Prinzessin auf eine Weise herabgestuft, die ihrem Rang nicht entspricht.

 Schönheit macht einsam. „Zwerge“ konkurrieren nicht. Sie erreichen aber durch ihre Solidarität eine gewisse Teilhabe an Schneewittchens Vorzügen. Sie gehört ja jetzt gewissermaßen zu ihnen. Zwerge sind aber keine ebenbürtigen Partner. In diesem Milieu kann sie sich nicht weiter entwickeln. Es fehlt wohlwollende Konkurrenz. Darum muss der Prinz erscheinen, der sie zu der macht, die sie eigentlich ist. Die Prinzessin wird zu seiner Königin und findet sich damit wieder in dem zu ihr passenden Umfeld. Dort wird ihr das Privileg der Schönheit nicht geneidet.

 Zur Strafe muss sich die böse Stiefmutter in glühenden Pantoffeln zu Tode tanzen. Dies verweist darauf, dass dem Neider das leidenschaftliche Leben und Selbsterleben fehlt. Tanzen bedeutet Bewegung im Kontrast zur inneren Erstarrung die der Neid mit sich bringt. Das ständige Vergleichen verhindert Lebendigkeit und die Freude an der eigenen Entwicklung. Wer nur auf die Vorzüge der anderen schielt, verpasst seine eigenen Möglichkeiten.

 In diesem Zusammenhang ist noch eine brisante Verwandte des Neides zu erwähnen: Die Eifersucht. Beide Gefühle sind miteinander verwandt. Umgangssprachlich werden sie häufig synonym gebraucht, dennoch besteht ein Unterschied in der Gefühlsqualität:

In ihrer bekanntesten Erscheinungsform liegt ein Dreiecksverhältnis vor: Geliebte, eifersüchtiger Mann und Rivale. (Natürlich gilt dies ebenso in der weiblichen Variante). Der Eifersüchtige hat Angst, das geliebte Objekt an eine andere Person zu verlieren oder mit ihr teilen zu müssen. (Es kann sich aber auch eine andere Leidenschaft zum Rivalen für die Beziehung entwickeln.) Ob es dabei tatsächlich um Liebe geht, ist zu bezweifeln. Eifersüchtige lieben nicht. Sie betrachten den Partner als Besitz und wollen unter allen Umständen den Status quo aufrechterhalten. Dies bedeutet: Eifersüchtige wollen (aus Angst) Entwicklung verhindern. (1)

 Es handelt sich um die Frage nach „Haben oder Sein“, wie sie Erich Fromm (6) so treffend beschreibt. Lieben im Zustand des Habens will das geliebte Objekt besitzen. Das bedeutet, dass man über diesen Menschen verfügen will. Er/Sie darf sich nur so weit entwickeln, wie dies keine Bedrohung für die Beziehung werden kann. Das erklärt z. B. warum manche Männer so panisch reagieren, wenn die Frau nach der Kinderpause wieder in den Beruf zurückkehren will. Alle Aufmerksamkeit soll ausschließlich auf die häuslichen Angelegenheiten und das Wohlergehen des Partners beschränkt bleiben. Andere Aktivitäten werden als Bedrohung empfunden.

 Liebe im Zustand des Seins hingegen erlaubt einen Entwicklungsprozess auf beiden Seiten. Die Fortschritte der Partner werden interessiert und wohlwollend begleitet. Man kann sich sogar – wenn es der Entwicklungsauftrag verlangt – in gegenseitiger Wertschätzung und Achtung trennen. Die Liebe wird nicht als lebenslange Einkerkerung um den Preis des Stillstandes begriffen.

 Eifersucht endet nicht selten (auch in unseren Tagen) tragisch. Wir lesen es immer wieder in den Boulevard-Blättern, dass ein früherer Beziehungspartner seine Frau – und oft auch noch die Kinder – umbringt. Einerseits aus Neid und andererseits aus Eifersucht. In den meisten Fällen geht es aber um reinen Machterhalt. Hier wird Liebe mit Besitz verwechselt. Die Zweierbeziehung wird zum lebenslangen Gefängnis. Er/Sie gönnt dem früheren Partner kein anderes Glück, selbst wenn die Trennung nicht aus Liebe zu einem anderen Mann/Frau stattgefunden hat, sondern wegen eindeutiger Verfehlungen des (aggressiven) Partners, z. B. wegen Alkohol- oder Spielsucht oder sonstiger Probleme, die die Familie und die Kinder gefährden. Oft hat ein Partner nur den Wunsch, in Frieden leben zu können.

 Unsere christlichen Wurzeln verlangen eine Gesinnung der größtmöglichen Neidfreiheit. Das Christentum verurteilt neidische Menschen, da sie die Gemeinschaft zersetzen. So lautet eines der zehn Gebote: „Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgend etwas, das deinem Nachbarn gehört.“ (Exodus 20, 17). Da dieses Begehren eine nie versiegende Quelle von Feindseligkeit ist, wird Neidern damit gedroht, dass sie ihr Seelenheil verspielen.

Im Buch der Weisheit (2, 24) steht: „Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören.“ Daher rechnet die Kirche den Neid zu den Todsünden.

 Der griechische Kirchenvater Gregor von Nyssa (334-394) zieht alle Register, um vom Neid abzuschrecken: „Neid, die uranfänglich böse Leidenschaft, der Vater des Todes, der erste Zugang zur Sünde, die Wurzel des Übels, der Ursprung der Traurigkeit, die Mutter des Unglücks, die Grundlage des Ungehorsams (…) Neid, todbringender Stachel, verborgene Waffe, Krankheit der Natur, verderbliches Gift, selbst gewollte Abzehrung, bitterer Pfeil, Nagel der Seele, Brand im Herzen (…) Glück ist nicht das eigene Gut, sondern das Schlechte des Nächsten.“ (7)

 Damit ist (fast) alles zusammengefasst, was es über die negativen Erscheinungsformen des Neides zu sagen gibt.

 Das Gregor von Nyssa nicht erwähnt, ist dass die Angst, Neid zu erregen alle  Unbeschwertheit und Spontaneität einschränkt, ja geradezu abtötet. Der Neiderreger fühlt sich zu Unrecht mit Hass verfolgt. Oft glaubt er sich noch mehr anstrengen, noch perfekter sein zu müssen und erreicht damit doch nur das Gegenteil. Er hat ja dem Neider nichts angetan sondern nur an sich selbst gearbeitet. Dies verweist darauf, dass der Neider eigentlich die Wut über das Privileg eines anderen als  Signal verstehen sollte, sich mehr anzustrengen. Daher schämt sich der Neider auch seiner destruktiven Gefühlsregung. Wenn er noch einigermaßen seelisch intakt ist, spürt er, dass sein Neid eigentlich eine Botschaft für ihn selbst bereithält.

 Weil Neid so starke Aggressionen hervorruft, passt man sich lieber an, versucht nicht aufzufallen und möglichst keinen Anlass für Neid zu geben, aber man entkommt ihm trotzdem nicht. Neid verlangt nach Nivellierung. Auch wenn man versucht, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, muss man trotzdem mit gefährlichen Angriffen rechnen. Selbst Bescheidenheit kann Neidgefühle auslösen.

 Die Bösartigkeit und Mitleidlosigkeit neidischer Menschen wird in den Medien gern  benutzt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Da wird jeder, der einigermaßen prominent ist, ohne alle Rücksichten beschädigt und entwürdigt. Es ist dabei völlig egal, ob es sich um echte Verfehlungen handelt oder nicht. Es genügt ein Schweißfleck oder ein kleines Stolpern; Prominenz wird auf jeden Fall durch den Kakao gezogen. Für eine Schlagzeile wird die „Würde des Menschen“ schnell geopfert. Der Widerruf erscheint Monate später in kleiner Schrift in irgendeiner unscheinbaren Ecke der Zeitung. Rücksicht auf Ehre und Reputation dort ist nur ein Thema für Zyniker. Die angeblich freien – aber vom Kommerz doch so abhängigen – Print- und sonstigen Medien schüren eine Neidgesellschaft, weil nicht nur „Sex sells“ sondern auch das Neidthema, das ebensolche archaischen Reflexe bedient. Ob damit dem Land und seinen Bürgern ein Gefallen getan wird, kann bezweifelt werden. Neid legt sich wie fettiger Ruß über ganze Systeme.

 Soziale Missstände sind anzuprangern, aber nicht aber um den Preis, hervorragende Leistungen zu unterdrücken, lächerlich zu machen oder zu unterschlagen.

 Im antiken Athen gab es ein Verfahren, bei dem auf Tonscherben der Name von herausragenden Mitbürgern geritzt wurde, woraufhin eine Verbannung von fünf bis zehn Jahren ausgesprochen werden konnte. Dieses Verfahren stand mit Neid in Verbindung. –

Bernard Mandeville (8) 1670-1733 äußert sich dazu schon vor dreihundert Jahren: „Der Ostrazismus der Griechen war eine Opferung verdienstvoller Männer zugunsten einer Neidepidemie und wurde oft als unfehlbares Heilmittel verwendet, um die üblen Folgen allgemeiner Unzufriedenheit und Erbitterung zu verhüten oder wieder gutzumachen. Ein staatliches Opfer beschwichtigt oft das Murren eines ganzen Volkes und spätere Geschlechter wundern sich häufig über derartige Barbareien. (…) Sie sind Komplimente vor der Bosheit der Menschen, der nie besser gedient ist, als wenn sie sehen können, wie ein großer Mann gedemütigt wird.“ (Parallelen zu Praktiken, wie unsere Medien heute verfahren, sind kaum zu übersehen.)

 Was kann man tun, um sich das eigene Leben nicht durch Neid verbittern zu lassen?

Zuerst sollte man seinen eigenen Neidtendenzen nachspüren. Neid macht unfroh. Wenn man seinen Blick nicht von den Privilegien, die ein anderer besitzt wenden kann, bindet man sich nur umso fester an das eigene Missbehagen. Wir wünschen uns alle ein glückliches, zufriedenes Leben. In einem solchen Leben spielt Neid keine Rolle mehr.

 Der Neider überhöht das Glück des Beneideten und findet auf diese Weise nie Ruhe. Wer Glück gönnen kann und gelassen bleibt, wenn der Nachbar sich mehr leistet, weil er die Mittel dazu hat, hat ein stabiles Selbstwertgefühl. Das bedeutet, dass wir uns vorrangig um unser eigenes Wohlergehen kümmern müssen und weniger um das, was der Nachbar besitzt. Sonst hätten wir den „bösen Blick“. Damit wäre man bekanntlich wenig sympathisch und würde sich aus der Gemeinschaft selbst ausschließen.

 Es gibt soziale Normen die uns sagen, wie wir mit unserem eigenen Neid umgehen können: Grundsätzlich wird verlangt, dass wir nicht neidisch sein dürfen, wenn andere ein begehrtes Gut zu Recht besitzen, insbesondere aufgrund einer besonderen Leistung. Man darf seinen Neid ansprechen, aber nur, wenn er mit aufrichtiger Bewunderung und Anerkennung verbunden ist.

 Feindseliger Neid hingegen wird von der Gemeinschaft sanktioniert. Der Neider gilt als unfair. In diesem Fall wirken Scham- und Schuldgefühle zusammen. Dies beginnt schon im Elternhaus, wo im Idealfall im Zusammenhang mit der Geschwisterrivalität eine nachdrückliche Gefühlserziehung stattfindet.

 Was können wir tun, um mit Neid konstruktiv umzugehen?

Wenn wir innerlich stark genug sind, können wir unseren eigenen Neid tolerieren und als Signal nutzen, um unser Selbstwertgefühl zu überprüfen. Wir finden Aufschluss über unseren Ehrgeiz und unser Gerechtigkeitsempfinden. Wir sollten prüfen, ob die Ziele, die wir verfolgen angemessen sind, oder ob wir unseren Lebensentwurf verändern sollten, um zufriedener und glücklicher zu werden. Der Mangel, auf den uns unsere Neidgefühle aufmerksam machen wollen, kann beseitigt werden, wenn wir den Neid als Stimulus nutzen und unsere Kräfte mobilisieren.

 Ist das von uns erstrebte Gut jedoch unerreichbar, dann sollten wir unsere Einstellung gegenüber unseren Ansprüchen ändern. Damit reduzieren wir uns selbst auf ein realistisches Maß. Wir müssen dann nicht weiter entwerten, sondern den schönen Gegenstand bewundernd für unsere eigene Entwicklung nutzen. (Eine Frau, die nur 1,60 Meter groß ist, wird es nie in die Weltklasse der Mannequins oder zum Vogue Cover schaffen. Sie kann aber vielleicht auf ganz anderen Gebieten zum Star werden. Ein mittelmäßig begabter Sportler kann vielleicht in seiner Klasse einen Vereinscup gewinnen, er wird aber kaum in der Bundesliga bei den Weltmeisterschaften auflaufen. Als Fan hat er aber Teil am Erfolg seiner Mannschaft und kann sich mit „seiner“ Elf freuen.)

 Wenn wir den anderen wohl wollen, gönnen wir ihnen alles. Wenn wir gut für uns selber sorgen und selber an der Fülle des Lebens teilhaben, werden wir mit unseren Neidgefühlen gut umgehen können, weniger misstrauisch sein, den Neid der anderen erkennen, und ihn, so gut es geht, entschärfen. (10) Sollten wir aber Opfer von Neidattacken sein, müssen wir uns im schlimmsten Fall aus dem Neid-Feld entfernen. Beispiel: Mobbing oder Intrigen am Arbeitsplatz.

 Die permanente öffentliche Diffamierung von Schönheit in unserer Gesellschaft hat unsere Seelen krank gemacht. Anstatt uns am Schönen zu erbauen und zu erfreuen, sehen wir nur Unzulänglichkeiten und werden dadurch unzufrieden und immer neidischer. Wer sich hingegen bewusst mit Schönheit umgibt, wird ausgeglichener sein und davon etwas reflektieren. – Was können wir also tun? – Um Willi Brandt etwas abzuwandeln würde ich empfehlen: Mehr Schönheit wagen!

  

Literatur:

(1) Haubl, Rolf (2003). Neidisch sind immer nur die Anderen. 3. Aufl. München: C.H.Beck.
(2) Haubl, R. a.a.O. Revers
(3) Kant, I. (1977). Die Metaphysik der Sitten. Frankfurt am Main, S. 443 f., §36.
(4) Bacon, F. (1999). Über den Neid. In ders. Essays (S. 24-30) Stuttgart.
(5) Brüder Grimm.(1980, 2001). Kinder – und Hausmärchen. Philipp Reclam jun. Stuttgart
(6) Fromm, E. (19..) Haben oder Sein.
(7) Gregor von Nyssa, Schriften. S. 167. München 1927).
(8) Bernard Mandeville . (1980). Die Bienenfabel. Frankfurt am Main, S. 177
(9) siehe Haubl. a.a.O., S. 130)
(10) Kast, Verena. (1998). Neid und Eifersucht. München: dtv

Die problematischen Aspekte der Empathie

Der Begriff „Empathie“ ist grundsätzlich positiv besetzt.

Paul Ekman, der prominente Emotionsforscher, versteht Empathie als Reaktion auf die Gefühle Anderer. Er unterscheidet kognitive Empathie, die uns erkennen lässt, was ein Anderer fühlt, gegenüber der emotionalen Empathie die die Fähigkeit verleiht, zu fühlen was ein Anderer fühlt.

 Theodor Lipps hat schon 1902 „Einfühlung“ als intrapsychischen Prozess bezeichnet und die These von einem „menschlichen Zwang zur motorischen Nachahmung“ entwickelt.

Nach dem Toronto Questionnaire von N. Spreng et al. (J. of Personality Assessment, 91, 2009) ist Empathie eine messbare Schlüsselkompetenz. Es wird unterschieden, nach kognitiver Empathie, die dazu dient, das Verhalten Anderer zu verstehen und vorherzusagen – und emotionaler Empathie, die es ermöglicht, dass wir sowohl mitfühlen, wie auch nachempfinden können. Damit schaffen wir die Basis für gute Beziehungen.

 Selbstverständlich ist Empathie für das Leben in der Gemeinschaft unerlässlich. Sie hilft uns die Qualität unserer Beziehungen einzuschätzen. Entsprechend können wir unseren Umgang gestalten. Alles was wir erleben, erfahren, lernen und beobachten, hat im weitesten Sinn mit Beziehungen zu unseren Mitmenschen, sogar zu den uns umgebenden Tieren zu tun.

Arthur Ciaramicoli unterscheidet zwischen authentischer und funktionaler Empathie, die manipulative, ausbeuterische Zwecke verfolgt. („Der Empathie-Faktor“, 2001, 2001, S. 206). Diesen Punkt halte ich für beachtenswert, trotz aller Wertschätzung für eine empathische Grundhaltung.

Empathie hat eine neurobiologische Entsprechung: Die Spiegelneurone. Nach Joachim Bauer steuern Gene nicht nur unser Verhalten, Gene werden auch durch äußere Einflüsse gesteuert. Dadurch verändern sich neuronale Strukturen. Hier tritt wieder die alte Frage nach dem Anteil von Anlage und Umwelteinflüssen auf. Die Funktion der Gene betrifft zwei Aspekte, wobei der zweite Aspekt mit empathischen Erleben zu tun hat:

1. Die DNS-Sequenz geht in die Erbfolge – gewissermaßen als Text – ein und ist somit fest gelegt.

2. Die Gene regulieren die Genaktivität für alle gesunden Körperfunktionen. Dabei regulieren die situatitiven (!) Einflüsse ihre Grundaktivität. In diesem Fall ist Vererbung nicht so wichtig. Bestimmte, genetisch programmierte Reaktionsmuster können durch positive oder negative Erlebnisse verändert werden. Solche Auswirkungen ergeben sich aus fördernden oder belastenden Beziehungen. Dies würde bedeuten, dass Emotionen, die aus und durch Beziehungen entstehen, biologische Signale geben, aus denen neuronale Veränderungen im Cortex entstehen. Somit ließe sich das Gehirn auch als „soziale Konstruktion“ begründen (Leon Eisenberg). Dies bedeutet, dass wir durch die Gestaltung unserer Beziehungen entscheidend daran mitwirken, was sich biologisch in uns und bei unseren Mitmenschen abspielt. Denn diese Wechselwirkungen beruhen auf empathischem Miterleben.

Giacomo Rizzolatti und seine Arbeitsgruppe aus Parma haben vor gut 20 Jahren die Spiegel-Neurone (mirror-neurons) entdeckt (Bauer). Über die Spiegel-Neurone kann man sich das, was man bei anderen Menschen beobachtet so (hin-)einprägen, dass wir das Beobachtete in uns selbst fühlen.

Man denke an eine Mutter, die zusehen muss, wie sich ihr Kind verletzt. Sie wird den Schmerz bei sich an derselben Stelle spüren. In der Interaktion kann sich das Malheur auf diese Weise sogar aufschaukeln, denn die Mutter könnte die Verletzung des Kindes mit ihren eigenen Ängsten derart verschränken, dass sie das Unglück weit stärker in sich fühlt, als es angemessen wäre.

Die emotionalen Ansteckung kann man aber auch in anderen Situationen gut beobachten: Eine fröhliche Runde kann durch einen übel gelaunten Dritten sofort gesprengt werden. Die Stimmung schlägt radikal um.

Dazu fällt mir ein weit zurückliegendes Erlebnis ein, das ich mir längere Zeit nicht erklären konnte:

Eines Abends, als ich mit dem Auto auf dem Heimweg war, wurde ich Zeuge eines schweren Verkehrsunfalls. Die Rettungskräfte waren schon zur Stelle. Ich fuhr vorbei und versuchte von dem schrecklichen Geschehen möglichst wenig Notiz zu nehmen. Am folgenden Morgen fuhr ich wieder in die Stadt und musste mit ansehen, wie auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Auto in einen, mit überstehenden Stahlbändern beladenen, Lastwagen gefahren war. Die Polizei war bereits vor Ort. Der verunglückte Fahrer wurde, so stand es zwei Tage später in der Zeitung, buchstäblich geköpft. – Auch diesen Vorfall glaubte ich – so gut es ging – ausgeblendet zu haben. Aufgrund meiner Kurzsichtigkeit verließ ich mich darauf, alles nur ganz vage wahrgenommen zu haben. Es waren ja nur ein paar Sekunden und schon war ich vorbei. – Ich fuhr also, scheinbar ungerührt, weiter in die Stadt und erledigte meine Besorgungen.

Plötzlich überfiel mich auf der Haupteinkaufsstraße eine seltsame Schwäche. Ich hatte das Bedürfnis mich hinzulegen und wusste, dass ich es mit dem Auto nicht mehr bis zu meiner Wohnung am Stadtrand schaffen würde. Zum Glück war aber mein Elternhaus ganz nah. Inzwischen wurde ich von einem heftigen Schüttelfrost gepackt. Innerhalb kürzester Zeit bekam ich 41,5° Fieber. Dann folgte ein starker Schweißausbruch. Meine Kleider waren völlig durchnässt. Nach etwa drei Stunden war der Spuk vorbei. Ich fühlte mich erschöpft, aber wieder normal.

Der Zusammenhang mit den beiden tödlichen Unfällen wurde mir erst viel später bewusst.

Schon Immanuel Kant (1724 – 1804) hat auf den möglichen Missbrauch von Empathie durch Politiker in einer Volksherrschaft hingewiesen. Wolf Schneider (Journalist und Sprachkritiker *1923) hat Zitate veröffentlicht, die zeigen, dass das Nachempfinden der Gedanken- und Gefühlswelt der Menschen durch Politiker oder Massenmedien wirksam für Manipulation eingesetzt wird. Man denke nur an Goebbels, Churchill, oder die berühmten Redner der Antike.

 Massenmedien leben vom Geschäft mit Gefühlen. Film und Schauspiel setzen auf unsere Empathie. Sie verwenden nicht nur Worte: Bilder erzeugen Emotionen noch weit nachdrücklicher, insbesondere, wenn sie mit passender Musik dramaturgisch verstärkt werden. Starke Gefühle hinterlassen einen Ein-druck in unserem neuronalen System. Dabei spüren wir bei der täglichen Reizüberflutung, der wir uns kaum erwehren können, vieles gar nicht mehr bewusst. Das bedeutet, dass der emotionale Reiz gesteigert werden muss, um bewusst wahrgenommen zu werden. Dies kann zu einer regelrechten Traumatisierung führen; zu Ängsten, die in Alpträumen und Erschöpfung ihren Ausdruck suchen, da die unzähligen Grausamkeiten aus aller Welt, deren Bilder täglich auf uns eindrängen, anders nicht mehr zu bewältigen sind. Unsere Empathie können wir nicht einfach abstellen. Unsere Nervenzellen spiegeln automatisch das, was sie sehen und verwandeln es in Emotionen – und wenn wir diese nicht wahrnehmen wollen – in körperliche Symptome.

Es sind aber nicht nur Medien, die uns beeindrucken und verändern. Noch stärker werden wir davon beeinflusst, wie sich die Beziehungen zur Umgebung (Partnern, Familie, Kollegen usw.) gestalten. Großvaters Spruch: „Sag mir, wer deine Freunde sind, und ich sage dir, wer Du bist“ ist heute zwar „politically“ nicht ganz korrekt, aber nach wie vor gültig.

 In unserer christlichen Überlieferung wird das hohe Gut „Mitgefühl“ anschaulich durch die Legende des Heiligen Martin geschildert. Er teilt seinen Mantel mit dem Bettler. Was aber hätte der Heilige getan, wenn ihm noch zehn weitere Bedürftige begegnet wären? Hätte er sich – wie im Märchen „Sterntaler“ – bis aufs Hemd ausgezogen und wäre lieber am Ende selbst erfroren?

Es ist nicht immer ratsam, zuviel Empathie zu zuzulassen. Angesichts des übermächtigen Elends könnte dies zur Bedrohung der eigenen Existenz führen. Auf diese Weise kann man nichts Vernünftiges bewirken. Wenn ein Nichtschwimmer dem Ertrinkenden nach springt und mit ihm untergeht, verdoppelt er damit nur das Unglück – aber er war empathisch.

Ich habe in meiner Praxis einmal einen seltsamen Fall erlebt: Eine junge Frau um die Dreißig kommt resigniert zum Gespräch. Sie schildert, dass sie bereits eine tiefenpsychologische Behandlung, sowie Gesprächs- und Verhaltenstherapie hinter sich hätte. Nichts könne ihr helfen. Sie leide an Schlaflosigkeit und Depressionen, die sie von produktiver Arbeit abhielten. Sie hatte zwar ihr Studium einigermaßen zu Ende gebracht, konnte damit aber wenig anfangen.

Auf die Frage, ob es ihr denn immer so schlecht gegangen sei, antwortete sie, dass sie bis zum 18. Lebensjahr ausgesprochen fröhlich und lebhaft und war. Dann hätte sich ihre Gefühlslage ins Gegenteil verkehrt. Ich fragte, was damals geschehen sei. Sie konnte sich an nichts erinnern. Ich fragte nach Liebesbeziehungen, Kränkungen, schulischem Scheitern, nach Familienstreit usw. Sie verneinte. Ich ließ nicht locker. Schließlich fiel ihr ein, dass in etwa zu diesem Zeitpunkt ihr Vater mit der Diagnose „Prostata-Karzinom“ konfrontiert worden war. Die Krankheit wurde jedoch in einem frühen Stadium entdeckt und konnte erfolgreich behandelt werden. Der Vater lebte noch. Sie aber hatte dieses Ereignis völlig vergessen. – Nach einer kurzen Aufstellungs- bzw. Gestaltübung mit der Gegenüberstellung eines Stellvertreters für ihren Vater (in diesem Fall war es eine Bürokraft, die gerade zur Verfügung stand und nichts von der Problematik wusste), ließ ich sie zu ihrem imaginären Vater sagen: „Lieber Vater, lieber ich als Du!“ (Dieser „Lösungssatz“ stammt von Bert Hellinger). Die Stellvertreter-Person reagierte erschüttert. Sie umarmte die „Tochter“ und sagte spontan: „Aber das will ich doch gar nicht! Ich will, dass es dir gut geht und dass du frei deinen eigenen Weg wählst.“ – Es gab dann noch heftige Tränen und viele Umarmungen und danach eine erschöpfte Klientin, die sich sichtlich erleichtert, freudestrahlend verabschiedete.

Sie rief mich später mehrmals und bedankte sich für die Intervention, die ihr Leben völlig neu geordnet habe. Sie begann schließlich mit einer beruflichen Tätigkeit, die sie interessant fand und ihr eine gute Perspektive eröffnete. Das Verhältnis zum Vater ist nach wie vor liebevoll, aber distanzierter, worüber beide glücklich sind.

Auch in diesem Fall wurde die junge Frau Opfer ihrer Empathie. Dazu kam noch eine Art von Aberglauben: Sie hatte ständig Angst, wenn sie fröhlich wäre, könnte eine Unglücksmeldung alles zunichte machen. Die Bestürzung des Vaters, dass seine damalige Erkrankung mit der Depression seiner Tochter zu tun hatte, wurde so authentisch vermittelt, dass sie das unmittelbare Gefühl von Befreiung erleben konnte. Man kann davon ausgehen, dass der wirkliche Vater genauso reagiert hätte, wie seine Stellvertreterin.

Oscar Wilde soll einmal bemerkt haben, dass man die Gedanken anderer Menschen erraten könne, wenn man ihre Mimik nachahmt. Das kennt jeder Schauspieler. Ohne die entsprechende Mimik könnte er niemals überzeugend in seine Rolle schlüpfen. Auch der Text verfließt leichter mit der entsprechenden Haltung und Gestik. So wird alles authentisch und glaubwürdig. – In diesem Zusammenhang ist der amerikanische Rat des „keep smiling!“ nicht ganz falsch, denn ein Lächeln im Gesicht ist mit Traurigkeit nicht vereinbar.

Noch zu Zeiten unserer Großeltern galt es als unhöfliches, schlechtes Benehmen, negative Gefühle oder Launen zu zeigen. Heute scheint es eher umgekehrt. – Wenn man in Modezeitschriften Reklamebilder teurer Marken betrachtet, könnte man denken, es sei wünschenswert – um es neudeutsch auszudrücken: besonders cool – ein möglichst unfrohes, blasiertes Gesicht zu machen. Auch diese (Mode-)Vorbilder haben Wirkung auf unsere Gefühlslage. (Siehe Lipps „Zwang zur Nachahmung“). Selbst über die Mimik schlüpfen wir möglicherweise in eine aufgepfropfte – in diesem Fall unfrohe – Gefühlslage.

Die „emotionale Empathie“ wird über Spiegelneurone gesteuert. Ein Handlungsimpuls wird aktiviert noch bevor eine kognitive (funktionale) Einschätzung der Situation möglich war. Dies führt zu den oft verfluchten Spontanhandlungen. Manchmal führen sie zu einem guten Ergebnis – meistens ist es jedoch klüger, wenn man (wie es unserer Kanzlerin nachgesagt wird) „vom Ende her“ denkt.

Solche Handlungsimpulse finden sich häufig in Konfliktlagen: Man möchte ja dem sympathischen Vertreter glauben, dass er die Anzahlung für die Ausstellung der Versicherungspolice braucht, weil sonst die angeblich so günstigen Bedingungen auslaufen. (Das Kleingedruckte kann man angesichts der Eile nicht mehr lesen.) Das Bauchgefühl aber warnt. Der Körper nimmt die Gefahrenlage zwar auf, aber sie dringt nicht bis zum Bewusstsein vor. Soll, kann man den netten jungen Mann einfach nach Hause schicken? Er hat sich doch so bemüht. Man möchte handeln und ignoriert den Körper – oft so lange, bis er rebelliert. Empathie ist der häufigste Grund dafür, dass man nicht Nein sagen kann, obwohl es angebracht wäre.

Viele Menschen beherrschen diese emotionale Erpressungstechnik meisterhaft. Es sind nicht nur die berüchtigten Betrüger, die eine akribisch ausgespähte ältere Frau mit der Geschichte vom unbekannten Enkel in Geldnot um ihre letzten Ersparnisse bringen, es ist auch die Mutter, die sich ständig in das Leben ihrer Kinder einmischt und glaubt darin nach wie vor die Hauptrolle einnehmen zu müssen. Dazu zählt auch die berüchtigte Schwiegermutter. Es handelt sich in solchen Fällen immer um einen Konflikt, denn man spürt ja ihre emotionale Bedürftigkeit. Andererseits werden aber die Kinder auch wütend, denn sie erahnen die Instrumentalisierung. Es wird ihnen eine Aufgabe zugemutet, die von der Mutter selbst zu bewältigen ist. (Die Mutter soll hier nur Klischee benutzt werden. Die Ausbeutung von Empathie findet auf allen Beziehungsebenen statt.)

Umgekehrt aber trifft dies ebenso Kinder, die ihre Eltern bis ins hohe Erwachsenenalter zur Kasse bitten und nicht daran denken, die Unannehmlichkeiten einer geregelten Arbeit auf sich zu nehmen. Auf beiden Seiten wird Empathie rücksichtslos (un-empathisch) missbraucht und benutzt. Eine permanente Vorwurfshaltung schadet beiden Seiten: den Ausbeutern, die auf diese Weise nie die Freude an ihrer eigenen Leistung erfahren und den Ausgebeuteten, die nie dazu kommen, die Früchte ihrer eigenen Arbeit zu genießen.

Wenn wir nun also durch Spiegelneurone mehr oder weniger unwillkürlich auf unsere Umwelt bezogen reagieren (müssen), so bedeutet dies, dass wir den Umwelteinflüssen, ob sie nun in feindlicher oder freundlicher Absicht auf uns einwirken, fast hilflos ausgesetzt sind, da Nervenzellen zunächst nur reagieren, ohne im Einzelnen eine moralische Entscheidung zu treffen. Dies geschieht erst auf einer höheren Organisationsebene.

Politiker, Unternehmer, Religionsstifter, alle Personen in leitenden Positionen und nicht zuletzt die zahlreichen Hilfsorganisationen brauchen ein erhebliches Maß an funktionaler empathischer Kompetenz, wenn sie ihre Ziele durchsetzen wollen. Sollten sich diese Ziele aber zu unserem Nachteil entwickeln, so verkehrt sich unser empathisches Mitgehen in Wut und Hass – weil wir sehr wohl spüren, dass unsere Gefühle missbraucht wurden. Dies ist der Stoff für Tragödien. Wenn aufrichtige Gefühle für unlautere Zwecke missbraucht werden, setzt dies ungeheure emotionale Kräfte frei, die tödliche Rache verlangen.

So positiv der Begriff Empathie besetzt ist, so eindeutig Empathie mit unserem christlichen Selbstverständnis verbunden bleibt, so gefährlich kann sie uns werden. Gerade weil wir fortwährend Spiegelungsvorgängen ausgesetzt sind, lassen wir uns auch so leicht manipulieren.

Aber: Wir selbst manipulieren auch! Das sollten wir fairer weise bedenken.

Literatur:

Bauer, Joachim: Das Gedächtnis des Körpers, 3. Aufl., Piper Tb. München, 2005

Bauer, Joachim: Warum Ich fühle was Du fühlst. Hoffmann und Campe. Hamburg. 1. Aufl. 2005

Ekman, Paul: Gefühle lesen. Spectrum. Akad. Verlag. 2004

Eisenberg, Leon, Harvard Medical School: The social construction of the Human Brain. Americ. Journal of Psychiatry 152:1563-1575. 1995).

Aufstellungen, Schamanismus, Spiegelneurone: Regression in die Archaik?

C. G. Jung hat sich intensiv mit indigenen Kulturen in Afrika, Indien, China und Nordamerika nicht nur theoretisch, sondern auch durch eigene Anschauung auseinandergesetzt. Auch unsere eigenen geistigen Wurzeln aus frühchristlicher Zeit und dem Mittelalter hat er mit diesen Erfahrungen verglichen. Um sein großes Wissensspektrum abzurunden, erwarb Jung durch intensiven Austausch mit dem Physiker Wolfgang Pauli (Nobelpreis 1945 für das Ausschließungsprinzip/Pauli-Prinzip) tiefe Einsichten in die Zusammenhänge von Geist und Materie.

In der von Aniela Jaffé herausgegebenen Jung-Biographie findet sich die Anmerkung, dass man unbewusste Inhalte personifizieren und mit ihnen in Dialog treten müsse. Dieser geniale Kunstgriff kann als Grundstein und perfekte Anleitung zum heute so weit verbreiteten Familienstellen angesehen werden.

 Insbesondere durch die Bewegung um Bert Hellinger wurden Familienaufstellungen weltweit vorangetrieben, obgleich er und seine Methode oft hart kritisiert wurden. Diese Kritik war manchmal unfair, manchmal aber auch dringend notwendig. Gerade durch die heftigen Angriffe und die öffentliche Aufregung, sind viele neue, fruchtbare Ansätze in Therapie und Beratung entstanden.

 Was sind Aufstellungen?

Aufstellungen sind hochwirksame (therapeutische) Verfahren. Der Klient wählt ihm fremde Personen aus einer Gruppe aus. Im vorgegebenen Feld, (meistens der Kreis, um den die Gruppe sitzt) werden die ausgewählten Personen so platziert, wie es dem Klienten intuitiv passend erscheint. Es ergibt sich dadurch ein Muster durch das erkennbar wird, wie der Klient die Beziehungen innerhalb seines Familiensystems wahrnimmt. Die neutralen, (unwissenden) Personen fungieren als Stellvertreter für die Angehörigen im jeweiligen System. Der Klient betrachtet die Szene von außen und nimmt (zunächst) nicht aktiv am Aufstellungsprozess teil.

 Der Therapeut belebt und verändert die Szene durch Fragen und Hinweise. Durch Umstellen der Repräsentanten/Stellvertreter, wird versucht, eine Lösung für die bestehenden Konflikte zu finden. Hierzu ist es erforderlich, das dargestellte System in eine – wie Hellinger es ausdrückt – „Ordnung“ zu bringen, die allen daran Beteiligten gut tut und so eine Entlastung herbeiführt. Durch diesen Prozess und durch die bildlich dargestellte Veränderung der Beziehungsstruktur, bekommt der Klient eine andere Sichtweise auf sein Problem. Das aufscheinende Lösungsbild mit der veränderten Anordnung der aufeinander bezogenen Personen zeigt, wie eine Veränderung der verfahrenen Situation aussehen könnte und welche Wirkungen sie hat.

 Es wird immer wieder berichtet, dass im Anschluss an eine Aufstellung plötzlich jahrelange Beziehungsblockaden durchbrochen werden, wobei die Initiative oft von Angehörigen ausgeht, die von der Aufstellung nichts wissen. Es gibt aber auch oft den Wegfall von Krankheitssymptomen, wie z.B. Neurodermitis, Asthmaleiden, Herzbeschwerden oder Rückenschmerzen u. v. A. m.. (Solche Effekte finden sich selbstverständlich auch nach einem guten Gespräch mit einem wohl gesonnenen Freund oder Therapeuten.

 Das ganze Szenario erinnert an die Anfänge der Hypnose, die, nachdem sie der ärztlichen Anwendung und Aufsicht entglitten war, unter der Hand weiter von Schauhypnotiseuren betrieben wurde und dadurch in Verruf geriet. Das Odium der esoterischen Spielerei ist (bei der Hypnose) inzwischen weitgehend verschwunden – insbesondere, seitdem ihr eine Abrechnungsnummer in der Gebührenordnung zugeteilt ist – das sicherste Zeichen für öffentliche Anerkennung.

 Es gibt auch unter Hypnose unerklärbares Wissen und Erinnerungen, ähnlich wie in Aufstellungen.

 Das wirft Fragen auf: Sind hier etwa „übernatürliche Kräfte“ am Werk? Woher haben die aufgestellten Repräsentanten so detaillierte Informationen über ihnen völlig unbekannte Personen? Handelt es sich um schamanische Praktiken? „Spukhafte Erscheinungen“, wie Einstein ironisch zu sagen pflegte, wenn zwei quantenmechanisch verschränkte Teilchen gleichzeitig – entfernungsunabhängig – aufschienen. Dazu eine Anmerkung von Prof. Paul Kienle, vom Physik-Department der TU München: „Eigentlich kenne ich nur quantenmechanisch verschränkte Teilchen, aber Teilchen sind auch Felder und Felder übertragen Information, vielleicht auch Gedanken …“.

 Medizinmänner und Heiler benutzen seit Urzeiten Stellvertreter, z.B. eine Puppe, in die sie die Krankheit „hinein legen“. Sie wird dann Dämonen oder Ahnengeistern geopfert, um diese zu befrieden und vom Kranken abzulassen. Hierbei handelt es sich nur um eine von vielen anderen schamanischen Praktiken; .

 Damit der Zauber beim Schamanen gelingt, werden – je nach Überlieferung – unterschiedliche Techniken benutzt, die den Medizinmann in Verbindung mit den Ahnengeistern, Totemtieren oder sonstigen Dämonen bringt. Zur Herstellung einer solchen Verbindung gehören u. a. Trommeln, Gesang, Tanz, die Schwitzhütte, Fasten, Atemtechniken und verschiedene psychedelische Drogen und Gifte, die in einen hypnotischen oder halluzinatorischen Zustand versetzen.

  Wir kennen Residuen solcher Rituale auch aus unserer traditionellen Kirche, in der symbolisch (darüber gibt es bekanntlich Streit) mit Wein, geweihtem Wasser, Weihrauch, bestimmten Umrundungen des Altars, Reliquien (siehe Amulette), (magischen) Gebetsformeln auch an bestimmten, oft heidnisch überkommen Kraftorten, (an denen christliche Kirchen errichtet wurden), das Heil, die Ganzheit herbeigeführt werden soll. – Den Erfolg dieser Praktiken bezeugen unzählige Wunderheilungen, die dann auch eine entsprechende Begründung finden: „Dein Glaube hat dir geholfen!“

 Schamanismus ist die älteste Form von Religion. Es wird damit begonnen haben, dass Menschen mit ihren Angehörigen auch nach deren Tod in Kontakt bleiben wollten. Der Schamane konnte mit anderen unsichtbaren Welten in Verbindung treten. Schamanen wussten immer den Weg, um Krisen zu lösen und Krankheiten zu heilen, d.h. die Ganzheit des Kranken wieder herzustellen. Die Vorstellung war in etwa so, dass ein Teil der Seele des Patienten fehlte oder von Dämonen geraubt worden war. Exorzismus, die Teufelsaustreibung, gehört auch zu den Heilungspraktiken, die schon Schamanen verwendeten. Sie treiben auch Dämonen aus. Die Ähnlichkeit mit vielen modernen psychotherapeutischen Verfahren ist unübersehbar.

 Wie könnte das Aufstellungsphänomen, das so sehr an schamanische Praktiken erinnert, mit etwas moderneren Erklärungen auch aufgeklärten Geistern zugänglicher werden? Vielleicht findet sich eine Antwort bei den von Giaccomo Rizzolatti entdeckten Spiegelneuronen: Nach J. Bauer (S. 116, f.) sind es „…Spiegelneurone, die in einem anderen Menschen ergänzende Gedanken auslösen.“…“ Abläufe oder Geschichten im Leben eines Menschen können, auch wenn bestimmte Abschnitte nicht sichtbar bzw. verborgen sind, durch die Spiegelneurone einer miterlebenden oder mitfühlenden Person komplementär ergänzt und damit intuitiv verstanden werden. Dies setzt allerdings voraus, dass die offen sichtbaren Teile der Geschichte genügend Anhaltspunkte bieten.“

Wäre mit Spiegelneuronen das Geheimnis schamanischer Heilerfolge, das verblüffend stimmige Wissen eines guten Schamanen zu erklären?

 Ähnlich den Vorstellungen eines Schamanen, der die Ahnen zu Hilfe ruft, wird in einer Familienaufstellung 

1) eine Regression in die Vergangenheit herbeigeführt und – im günstigen Fall – wird

2) durch eine neue, stimmige Anordnung der Repräsentanten, der Konflikt im bestehenden System überwunden. Die Lösung ist dann vollbracht, wenn sich alle am System beteiligten Personen gut fühlen.

 Die neurobiologischen Resonanzphänomene, die durch Spiegelnervenzellen eine blitzartige Einschätzung von Gedanken, Intentionen und Handlungsabsichten unseres Gegenübers ermöglichen, sind zuerst nur intuitive Erkenntnis. So läuft auch eine Aufstellung mehr tastend und in einem wechselseitigen Aufnehmen und spiegelndem Zurückgeben von Signalen zwischen Therapeut und Klient ab.

 Man könnte aber auch den Biochemiker und Zellbiologen Rupert Sheldrake für einen Erklärungsversuch heranziehen: Seine Theorie von der Entstehung der Formen in der Natur, (Originaltitel: „The Presence of the Past“) führt den Begriff der so genannten „morphischen Felder“ ein.

Für die Aufstellung gilt dann folgendes Phänomen: Wenn man in ein Feld gestellt wird, das ein bestimmtes System repräsentiert, übernimmt man an diesem Platz automatisch die Rolle, die das jeweilige System vorschreibt.

 Typische Muster sozialer und kultureller Organisationen – wir nennen sie auch Systeme – bilden so ein Feld. Bei Moden, Kulten, politischen Bewegungen und Gruppierungen aller Art sprechen Soziologen von kollektivem Verhalten.

 Sheldrake zitiert Elias Canetti, der mehrere Arten von Massen mit ganz verschiedenen Eigenschaften unterscheidet. Unter dem Gesichtspunkt seiner Hypothese fasst er sie als verschiedene Arten von Massen-Feldern auf. Eine dieser (Massen)-Grundtypen ist die so genannte offene Masse:

„Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, ….sobald sie besteht, will sie aus mehr bestehen. Der Drang zu wachsen ist die erste und oberste Eigenschaft der Masse…“ …“Die offene Masse besteht, solange sie wächst. Ihr Zerfall setzt ein, sobald sie zu wachsen aufhört.“

 Dieser Masse gegenüber stellt Canetti die geschlossene Masse:

„Diese verzichtet auf Wachstum und legt ihr Hauptaugenmerk auf Bestand. Was an ihr zuerst auffällt, ist die Grenze …“ … „Die Masse besteht, solange sie ein unerreichtes Ziel hat.“

 Diese Theorie könnte man auch für offene- bzw. geschlossene Systeme verwenden und damit gewisse Gesetzmäßigkeiten in Familiensystemen oder anderen Organisationen beschreiben. Das morphische Feld, in dem das jeweilige System wirkt, wäre der Raum, innerhalb dessen um Erhalt oder Erweiterung gerungen wird. Daraus entstehen Konflikte: Ordnungen werden durchbrochen, was wiederum vom System geahndet wird, z. B. mit Schuldgefühlen, Heimweh, Depression etc.. Wer die Regeln verletzt, muss vielleicht auch ein Opfer bringen, damit dem System Genugtuung widerfährt. Vielleicht verlangt dies unser archaisches Unterbewusstsein, in dem sich Dämonen, Ahnengeister oder Götter tummeln. Genau wissen wir es nicht. Zugänglich ist es nur über Märchen, Träume, Kunst und unsere Phantasie.

 Könnte dies alles bedeuten dass wir uns auf unsere Modernität zu viel einbilden? Ist der Esoterik-Boom ein Hinweis darauf, dass das starke Bedürfnis nach der archaischen Welt fest in uns verwurzelt ist und in unseren tieferen Seelenschichten darauf wartet, wieder belebt zu werden?

 Die Postmoderne, die bekanntlich alles infrage stellt, scheint dieses Bedürfnis umso stärker hervorzurufen, je nüchterner sie uns der kalten Erdkugel, der „entzauberten Welt“ (M. Weber) aussetzt und als einzigen Schutz den Intellekt anbietet.

 Der Verlust unserer Religion könnte uns weit mehr gefährden, als dies je durch die Kirchen mit ihren (vom modernen Menschen nicht mehr hinnehmbaren) Dogmen der Fall war. Nachdem im Geist der Aufklärung die überkommene Religion und ihre Kirchen erfolgreich bekämpft wurden, kehrt alles, was an Absurditäten und primitivem Aberglauben denkbar ist – sozusagen durch die Hintertür – wieder zurück. All die Besessenheiten (im doppelten Sinn) wie Sex-Mails, Kinderpornographie, Killerspiele aus dem Internet, Satanskulte, Blutrituale, Exzesse der vielfältigsten Art und höchst gefährliche Sekten, haben wohl ihren Ursprung in der Sehnsucht nach Ekstase, um Zugang zu den ewigen Wahrheiten zu finden, die wir nur im perennierenden Urgrund unseres Menschseins vermuten können.

 In Zeiten persönlicher Krisen ist es modern geworden, alternative Hilfsangebote in Erwägung zu ziehen. Wir suchen in exotischen Ländern Wahrsager, Medizinmänner und Wunderheiler auf. Aber auch bei uns blüht das Geschäft mit weisen Frauen, Hexen und Schamanen. Die explodierende Heilpraktiker-Szene, die alternative Medizin und die unzähligen Heil- und Heilsangebote zeugen davon, dass auch im modernen Menschen eine unausrottbare Sehnsucht nach Wundern steckt. Inzwischen ist man viel toleranter geworden. Die aktuelle Psychoszene kommt diesem Bedürfnis entgegen. Für unseren modernen Geist gilt also auch, was Samuel Hahnemann schon vor 200 Jahren feststellte: „Wer heilt hat Recht!“ – Oder besser noch Jean Baptiste Alphonse Karr, dem Journalisten und Herausgeber des Figaro: „Plus ca change, plus c’est la meme chose!“

 

Literatur:

Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2005

Canetti, Elias: Masse und Macht, Claassen, 1960

Jaffé, Aniela: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. 10. Aufl., Walter, Zürich, 1997

Nelles, Wilfried: Die Hellinger Kontroverse. Herder, Freiburg, 2005

Sheldrake, Rupert: Das Gedächtnis der Natur. (Originaltitel: The Presence of the Past.) Scherz, Bern, München, Wien, 4. Aufl. 1991

Das Identitätsproblem im Alter

Zunächst soll geklärt werden, wie die verwendeten Begriffe verstanden werden sollen:

Unter Identität¹) soll hier die Eigentümlichkeit einer Person verstanden werden; die Eigenschaften, worin sie sich von anderen unterscheidet. Dies betrifft sowohl die Selbst- wie auch die Fremdzuschreibung. Da sich Identität über den Lebenslauf hinweg ständig neu entwickelt und im sozialen Umfeld behaupten muss, ist sie immer wieder neu gefährdet.

 Dadurch entsteht möglicherweise ein Problem ²), denn besonders im Alter wird die errungene Identität wieder brüchig. Sie muss – wenn man nicht resignieren will – neu erarbeitet werden. Das kann zu Konflikten mit der Umgebung führen, die bei nachlassenden Kräften möglicherweise schlecht auszuhalten sind.

 Unter Alter verstehen wir den Zeitabschnitt vom Beginn der zweiten Lebenshälfte an, in etwa ab dem fünften Lebensjahrzehnt bis zum Tod. Es ist die Zeit, in der sich die Lebensperspektive verkürzt und diese Verkürzung auch mehr oder weniger deutlich ins Bewusstsein dringt. Der damit verbundene, notwendige Perspektivenwechsel verändert die Persönlichkeit eines Menschen. Auslöser für die neue Sichtweise auf das eigene Leben und die eigene Persönlichkeit sind meist äußere oder innere krisenhafte Ereignisse, die einen Bewusstseinswandel hervorrufen.

 Der Altersbegriff ist in unserer Gesellschaft inzwischen dehnbar geworden. Übergänge in andere Lebensphasen wurden früher durch feierliche Rituale markiert. Leider stehen diese uns heute kaum mehr zur Verfügung. Wir betrachten sie eher als Folklore aus vergangenen Zeiten oder fernen Kulturen. In unserer Gesellschaft sehen wir in „Feiertagen“ wie Weihnachten, Jahreswechsel, Konfirmation, Firmung, Schul- oder Studienabschluss, Heirat ja sogar Scheidung höchstens einen Grund für exzessiven Alkoholgenuss oder sinnlosen Konsum. Die kirchlichen Rituale bei Hochzeiten und Beerdigungen werden gerne mitgenommen. Sie geben einen feierlichen Rahmen und strukturieren den Tag; dienen aber eher dazu, die eigene Ratlosigkeit zu überbrücken. Ihr tieferer Sinn ist weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden – ähnlich dem Tannenbaum zu Weihnachten, oder dem „Weihnachtsmann“, der sowohl mit dem Christkind, wie auch mit dem Hl. Nikolaus gleich gestellt wird.

 (Persönliche Anmerkung: Ich hatte darüber vor kurzem einen heftigen Streit mit einer Journalistin, die mich ernsthaft davon überzeugen wollte, dass an Weihnachten der Weihnachtsmann kommt. Vom Christkind, vom eigentlichen Sinn des Weihnachtsfestes, von seinen heidnischen Wurzeln, hatte sie noch nie etwas gehört.)

 Ohne die Taktgeber unserer kirchlichen Feste im Jahresverlauf gestaltet sich das Leben monoton. Gerade in diesem Fall aber wird man eher vom Alter überrascht. Plötzlich werden wir von einer Krankheit heimgesucht, verlieren die berufliche Perspektive, der Tod eines nahe stehenden Menschen konfrontiert uns mit unserer eigenen Vergänglichkeit und unserer Einsamkeit. In solchen Fällen wird das Alter als Katastrophe empfunden. Der Wechsel von einer Identität, z.B. im Beruf als Manager mit unbegrenztem Potential zum weniger belastbaren Angestellten, verlangt gebieterisch eine Anpassung, die nicht immer gelingt.

 Gleiches gilt für eine Frau, die sich Zeit ihres Lebens als treu sorgende Mutter verstand und in der Lebensmitte gegen eine jüngere Konkurrentin ausgetauscht wird. Auch dieser Verlust der sozialen- sowie der Rollenidentität verlangt eine anstrengende Entwicklung, die idealer weise das Leben mit neuem Sinn erfüllt. Die Übereinstimmung der Person mit dem, was sie darstellte geht verloren. Es ist nicht einfach, sich völlig neu zu orientieren. Das Alter und die damit verbundenen Krisen und Verlusterlebnisse werden zur Problematik: Verlust der beruflichen Rolle, Verlust der physischen Unversehrtheit, der eigenen Stärke, Verlust aller Sicherheiten in der Familie, Verlust durch den Wegzug der Kinder und dazu kommen noch viele andere Krisen, die mit seelischen Kränkungen einhergehen. Je älter man ist, desto schwieriger erscheint es, neu zu beginnen. Dazu trägt die Jugendverliebtheit unserer Gesellschaft erheblich bei. Wenn ein vorgezogenes Renteneintrittsalter die Regel ist, fühlt man sich auch entsprechend. Man glaubt, es sei zu spät. Obwohl Entwicklungskrisen aller Art vorhersehbar sind, treffen sie das Individuum aber doch meist überraschend. Alle Formen von Scheitern, Zurückweisungen und Kränkungen sind letztlich Identitätskrisen.

 Erikson schreibt, dass Sigmund Freud den „Begriff Identität nur einmal vollinhaltlich“ verwendet hätte, in einem psycho-sozialen Zusammenhang: „Bei seinem Versuch, seine Bindung an das Judentum zu formulieren, sprach er von der ‚klaren Bewusstheit innerer Identität’ (1926 b), die sich nicht auf Rasse und Religion stütze, sondern auf eine gemeinsame Bereitschaft in der Opposition zu leben, und auf die gemeinsame Freiheit von Vorurteilen, die den Gebrauch des Verstandes einschränkten. Hier weist der Begriff ‚Identität’ also auf das Band hin, das den einzelnen Menschen mit den von seiner einzigartigen Geschichte geprägten Werten seines Volkes verbindet.“ 

 So verstanden könnte selbst ein Hartz-IV-Empfänger z.B. seine kulturelle Identität als „Deutscher“ aufrechterhalten, pointiert z.B. als Berliner. Er könnte aber auch kreativ werden und neue Beschäftigungsfelder finden – z.B. als Künstler, ja er könnte sogar sein berufliches Scheitern als besondere Aussteiger-Philosophie verklären und daraus gewissermaßen eine Tugend machen, die seine Identität zu seinen Gunsten verändert. Zu viele aber bleiben an ihre frühere Rolle gebunden. Der Forderung der modernen Gesellschaft nach Flexibilität können sie nicht nachkommen. Sie verändern sich nicht, sie bleiben in der Opferrolle stecken und verstehen sich selbst nur noch über ihre früheren Erfolge. Einerseits bietet unsere Zeit unzählige Freiheiten und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, andererseits ist die Seele zu konservativ, um solche Rollenwechsel ohne innere Verluste einzuüben.

 Bis in unsere Tage gab und gibt es immer noch feste Vorstellungen davon, welche Rolle man im Alter einzunehmen hat. Dabei werden diese Rollenidentitäten – zumindest in unserer Gesellschaft – fast täglich verändert. Gerade für die ältere Generation sind bisher ungeahnte Freiheiten möglich geworden. – Andererseits ist es der Boulevardpresse immer noch eine Schlagzeile wert, wenn ein Siebzigjähriger noch einmal Vater wird. Es gibt aber auch immer häufiger fünfzig- und sechzigjährige Mütter. Das unsichtbare und unausgesprochene Diktat, dass man sich etwa ab dem vierzigsten Lebensjahr „würdig“ zu benehmen und zu kleiden hat, ist längst überwunden. Es gibt Motorradfahrer, Extrembergsteiger und Skifahrer im Rentenalter, Marathonläufer – und eben auch Väter und Mütter.

 Berthold Brechts Erzählung „Die unwürdige Greisin“ aus dem Jahr 1939, beschreibt die unerbittliche Rollenzuweisung der Gesellschaft an ältere Menschen. Nach aktuelleren Erkenntnissen der Neurobiologie haben solche Erwartungen und inneren Bilder Einfluss auf das Ich-Gefühl, auf die Gesundheit und selbst auf den Tod eines Menschen. (Gary Bruno Schmid: Tod durch Vorstellungskraft. 2. Aufl. Springer-Verlag, Wien, 2010, oder Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder. usw.).

 „Si jeunesse savait – si vieillesse pouvait!“… (Frankreich, XV. Jh.)

Dieser Spruch, dass die Jugend zu wenig weiß und dass das Alter nicht (mehr) kann, trifft heute immer weniger zu, hat aber mit der jeweiligen Identitätsproblematik sehr viel zu tun. Ein Beispiel hierfür wäre die Computertechnolgie: Viele ältere Menschen kapitulieren vor der Aufgabe, die plötzlich „digitales Denken“ verlangt. Denn mit der ihnen vertrauten, bisher logisch erscheinenden Herangehensweise, manövrieren sie sich in den meisten Fällen ins Abseits.  

 Seit die Altersgruppen entzerrt wurden und die Jungen via Internet Zugang zu allen gewünschten Informationen haben, wissen sie ungleich mehr, als in früheren Zeiten. Bei den älteren Menschen verhält es sich aber inzwischen auch ganz anders: Sie „können“ noch viel mehr und sind auch viel sportlicher und gesünder als vorherige Generationen und vor allem: Nicht jeder ältere Mensch resigniert beim Anblick eines Laptops. Immer mehr Ältere sind bereit, dazu zu lernen, und sie blühen dabei geradezu auf.

 Das hat viel mit unserer Vorstellungskraft zu tun und damit, dass wir uns aus den traditionellen Bildern Schritt für Schritt entfernen. Dabei spielen die medizinischen Fortschritte eine große Rolle. Viele Alterserscheinungen wie grauer Star, Hüftleiden und viele andere Abnutzungserscheinungen kann man heute vergleichsweise unspektakulär beseitigen. Dadurch entstehen andere Selbstbilder, ein anderes Selbstempfinden, ein anderes Gefühl für die eigenen Möglichkeiten, kurz: ein positiv verändertes Körpergefühl. Wer allerdings das innere Bild des siechen alten Menschen mit sich herumträgt, wird sein Alter auch so erleben.

 Dabei kommt es natürlich wieder auf das Umfeld, auf die Gesellschaft an. Identität als psychosoziales Konstrukt wird in der Großstadt anders erlebt, als in der Provinz. So betrachtet ist es verständlich, wenn sich ältere Menschen vehement gegen einen Aufenthalt im Altersheim sträuben. („Da sind nur Greise, die den ganzen Tag nur über ihre Krankheiten reden.“) Eine derartige Umgebung kann sich auf das eigene Identitätserleben tatsächlich schädlich auswirken.

 Am meisten lernt der Mensch in und durch Beziehungen (Hüther) – ganz so wie unser neuronales System auf diese Weise lernt. Die Neurone verknüpfen sich an jenen Stellen im Gehirn fester, die öfter angeregt, bzw. aktiviert werden. Daher ist es so wichtig und von den älteren Menschen auch richtig erkannt, dass man nicht in Altenghettos verkümmert. Sonst entwickelt sich das Ich-Gefühl und damit auch der Selbstwert nach dem Muster, das man täglich vor Augen hat.

 Damit sind wir bei der eigentlichen Frage, der Identitätsproblematik. Warum sollte die Frage der Identität im Alter problematisch sein, wo sie doch ohnehin eine lebenslange Aufgabe bleibt? Weil es von außen Rollenzuschreibungen gibt, denen wir uns gar nicht entziehen können. Sie haben Einfluss auf unsere Erwartungen, sie werden jedes Anzeichen von Schwäche als altersbedingt einstufen und schließlich haben sie sich alles soweit „ein-gebildet“ bis es zur physiologischen Tatsache wird. – Zum Glück kann man sich aber – wenn man sich etwas ein-bildet, auch „aus-bilden“. Es gibt Programme, wie das des britischen Psychologen Richard Wiseman von der Universität Hertfordschire, mit denen ein Pessimist binnen drei Monaten  in einen Optimisten verwandelt werden kann.

 Man könnte in Bezug auf die gefährdete Ich-Identität ebenso verfahren, wie Blaise Pascal (1623-1662) mit seiner Gotteswette:

  • Man glaubt an Gott, und Gott existiert – in diesem Fall wird man mit dem Himmel belohnt und hat gewonnen.
  • Man glaubt an Gott, und Gott existiert nicht – in diesem Fall gewinnt man zwar nichts, hat aber auch nichts verloren.
  • Man glaubt nicht an Gott, und Gott existiert nicht – in diesem Fall gewinnt man ebenfalls nichts, verliert aber auch nicht).
  • Man glaubt nicht an Gott, und Gott existiert – in diesem Fall verliert man alles und wird auch noch mit der Hölle bestraft.

Wer sich auch im späteren Leben mehr zutraut kann nur gewinnen, auch wenn er nicht mehr alles schafft. Er kann wenigstens von sich behaupten, den Versuch gewagt zu haben.

 Die eigentliche Aufgabe für den heutigen älteren Menschen besteht darin, dass man den gefühlten Vorwurf, zu alt zu sein, um noch etwas leisten zu können, widerlegt; trotz des möglichen Widerstandes im sozialen Umfeld. Die starren Grenzen des Renteneintrittsalters, die Forderungen der Kinder nach Rückzug, die Lästerei der Gesellschaft über alte Paare, verändern sich zwar gegenwärtig in eine positivere Richtung, solche Veränderungen haben aber im Selbsterleben eine lange Inkubationszeit. Wir können jedoch optimistisch sein: Nie war es so leicht wie heute, den tradierten Vorstellungen zu entkommen und das Ziel: Werde der Du bist! (Pindar, Pythische Oden) im bestmöglichen Sinne zu erreichen.

 Nun könnte man sagen, dass jede Krise ein Identitätsproblem mit sich bringt. Z.B. wenn ein großer Erfolg nicht wirklich ausgekostet werden kann, weil zu viele Kritiker und Neider Essig in den Wein gießen, den man eigentlich in vollen Zügen genießen wollte. Das gilt natürlich auch für andere Formen von Kränkungen.

 Warum gibt es aber im Alter ein spezifisches Identitätsproblem? Scheitern bei einem wichtigen Vorhaben, kann gerade im Alter zum Desaster werden. Junge Menschen haben die Chance noch einmal von vorne anzufangen. Im Alter aber reicht die Zeit nicht mehr.

 Die Selbstmordrate von Menschen über 60 ist sehr hoch. Das Verhältnis beträgt etwa 60:40. Dabei sind ältere Männer mit 17,4 pro 100.000 und Frauen in einem Verhältnis von 5,7 auf 100.000 betroffen. (Jeder 87. Mann und jede 243. Frau). Der Hauptgrund liegt in zunehmender Vereinsamung, Krankheiten die mit Immobilität einhergehen, vor allem aber in der Angst vor Abschiebung ins Pflegeheim. Der Verlust von Autonomie wird als Verlust der Ich-Identität erlebt. Suizid bedeutet die selbst bestimmte, bewusste Vernichtung dieser Identität bevor sie einem genommen wird.

 Die besonderen Identitätsprobleme im Alter könnte man also zusammenfassend als Gefühl der Sinnlosigkeit verbunden mit dem Gefühl der Perspektivlosigkeit beschreiben.

 Unsere Zeit verlangt Flexibilität und Schnelligkeit. Sie bietet dafür einen prompten materiellen Vorteil, aber wenig Sinn. Für Religiosität haben wir keine Zeit. Gerade im Alter sind es aber religiöse oder philosophische Fragen, die dem Identitätserleben neuen Schwung verleihen.

 Moderne Menschen definieren sich über ihren Erfolg und ihre materielle Potenz. Wer nicht mithalten kann, wird ausgesondert, vereinsamt, verliert sein Sinnerleben.

 An diesem Punkt trennen sich die Geschlechter immer noch deutlich. Männer erleben sich selbst über ihre Macht, ihr Prestige. Dies erklärt z. B. die harten Ablösungskämpfe in Familienunternehmen, die den designierten Nachfolger oft zur Verzweiflung bringen. Für ältere Männer mit einiger Macht bedeutet Prestigeverlust auch Identitätsverlust. Die religiöse Frage haben sie nie gestellt. Meistens wird das Dilemma mit einem Partnerwechsel vordergründig gelöst. Mit einer jüngeren Frau kommt nicht nur das Prestige zurück, mit ihr stellt sich auch eine Aufgabe. Katastrophal wird dieser Lösungsversuch allerdings, falls das Experiment scheitert. Das muss jedoch nicht zwangsläufig so sein. Es gibt bekanntlich auch junge Leute, die sich aus Liebeskummer das Leben nehmen. Allerdings geschieht dies dann eher im Affekt, nicht so überlegt und bei so klarem Bewusstsein wie bei älteren Menschen.

 Für Frauen wird es schwieriger, nach der Lebensmitte einen Partner zu finden. Frauen erwerben traditionell ihre Identität mit der Heirat. Noch bis vor einigen Jahren war es üblich, dass z. B. in Frankreich Briefe an eine verheiratete Frau mit dem Vor- und Familiennamen des Ehemannes adressiert wurden. Die Frau verschwand gewissermaßen vollständig hinter dem Namen des Mannes. Diese totale Identifikation mit dem Ehegatten wurde erst in den letzten Jahren durch die Berufstätigkeit der Frau verändert. Das Klischee steckt aber immer noch tief in jungen Frauen. Es zeigt sich in den Träumen und Vorstellungen vom perfekten Mann. Besonders Frauen mit dieser Einstellung finden oft erst spät von der ihnen zugewiesenen zu ihrer wirklichen Identität. Dafür gehen sie aber meistens vorher durch viele schwere innere Prüfungen. Umso mehr sind sie dann erstaunt, wie viel Potential sie noch haben und was noch alles möglich ist.

 Im Grunde geht es bei Frauen das ganze Leben lang um ihr Alter. Schon 20-jährige finden an sich Zeichen des Alterns. Immer tickt die „biologische Uhr“, die Angst, keine Kinder mehr gebären zu können. Die ganze kosmetische Milliarden-Industrie beschäftigt sich ausschließlich damit, alle Alterszeichen möglichst lange hinauszuzögern.

 Übrigens nimmt diese Angst auch bei Männern zu. Sie hat aber überwiegend berufliche Gründe, da der ideale Mitarbeiter vor allen Dingen durch sichtbare Fitness und gutes Aussehen beeindrucken soll. Zigarren rauchende ältere Herren, die in den 60er Jahren Macht und Kompetenz ausstrahlten, sind nicht mehr en vogue. Plastische Chirurgen sprechen inzwischen von einem Anteil von bis zu 40% männlicher Klienten. Wir kennen aus den Medien maliziöse Berichte über den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, den deutschen Kanzler Gerhard Schröder, den US Filmstar Michael Douglas und viele andere mehr.

 Mit zunehmendem Alter wird die Identität wieder diffus. Man ringt um den Erhalt der sicher geglaubten Identität. Das Selbstwertgefühl sinkt, weil man anerkennen muss, dass es jüngere Menschen gibt, deren Leistungsfähigkeit die eigene übertrifft. Aktuell wird dies in unserer Generation durch die völlig neuen Internet-Technologien erlebt. Man fühlt sich nicht mehr auf der Höhe der Zeit, denkt und handelt immer noch analog und nicht, wie gefordert, digital. Selbst wenn man den Wert der inzwischen etwas antiquierten humanistischen Bildung und Denkweise als hohes Gut schätzt, so verhält es sich doch wie mit dem einst kostbaren Porzellangeschirr: Es wird nicht mehr gebraucht, weil es nicht spülmaschinentauglich ist. Es mag zwar viel ästhetischer aussehen, – aber Ikea hat auch witziges Geschirr. Es nützt nichts zu betonen, dass die Großmutter das gute Geschirr nur an Festtagen aus der Vitrine geholt hat. Wir feiern keine Festtage mehr. Sie entstammen religiösen Vorgaben und sind inzwischen zur „Freizeit“ verkommen. An solchen Tagen wird vor allen Dingen ausgeschlafen. Es gibt keinen feierlichen Ritus mehr, der die Seele ordnet und erbaut. Hauptsache ist heute, dass möglichst viel Action stattfindet. Identität stiftet  bei Kollegen und Freunden die Erzählung davon, was man alles unternommen hat, welche Urlaubsziele man anstrebt und was man sich alles leisten kann. Die religiös begründete Identität als Mitglied einer Glaubensgemeinschaft, die jeden ohne Altersbegrenzung annimmt, ist verloren gegangen. Insofern hat der Gottesverlust auch den Identitätsverlust zur Folge.

 Die Folgen zeigen sich im Alter am deutlichsten. Eine Perspektive, die über die eigene Person hinaus weist, wird in der aufgeklärten Gesellschaft nicht akzeptiert; im besten Fall in die esoterische Ecke verbannt, als etwas für Frauen im Postklimakterium. Stattdessen zeigen sich Rivalität, Verzweiflung, Zynismus und Destruktivität. Das Identitätsproblem im Alter führt zu Neid auf die Jugend und nicht – wie von Eric Ericsson vorgeschlagen – zu einer Phase der Generativität und Weisheit. Generativität verlangt, die materiellen und geistigen Ressourcen an die jüngere Generation weiter zu reichen; nicht daran fest zu halten, um die eigenen Erfolge möglichst lang für sich behalten zu können.

Die Lösung liegt nach wie vor in der von Erikson vorgeschlagenen Generativität, worunter alles zählt, was für die folgenden Generationen nützlich sein kann. Nicht nur die eigenen Kinder und Enkel zu erziehen ist die Aufgabe, sondern auch Unterricht, Kunst und Wissenschaft, auch religiöse Überlieferung zu tradieren. Nicht zuletzt sollen wir durch das Vorleben einer klar erkennbaren Werthaltung der jüngeren Generation Wegweiser und Vorbild sein. C.G. Jung nennt die Aufgabe und den Zweck der zweiten Lebenshälfte Kultur. (GW 8 §767) Kultur verleiht dem eigenen Leben Sinn und stiftet gleichzeitig für die nachfolgende Generation Sinn.

Vielleicht ist der erlöst-glückliche Ausdruck im Gesicht von Toten ein Zeichen dafür, dass nun ihr Kampf um die Identität beendet sein darf. Am Ende sind wir wieder „all-eins“.

Zwischen der Ewigkeit, aus der wir geboren werden und der Ewigkeit, in die wir mit dem Tod wieder zurückkehren liegt nur eine kurze Zeitspanne. Wenn wir sie mit Sinn erfüllen konnten, haben wir glücklich gelebt.

 

 (1) „Identität“ (spätlat., zu lat. idem <derselbe>) wird allgemein als „die völlige Übereinstimmung einer Person oder Sache mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird.“ (Brockhaus-Enzyklopädie: in 24 Bde. – 19. Aufl. – Mannheim)

(2) „Problem“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel, wie das Vorgeworfene, das (zur Lösung einer Streitfrage) Vorgelegte. „Problematik“ ist nach dieser Definition eine „Streitfrage“. Frei nach Brockhaus

 SelbsttoetungSterblichkeit

 Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland: https://www.genesis.de

 Literatur:

Bauer, Joachim: Das Gedächtnis des Körpers. TB Piper Verlag. München, 3. Aufl. 2005
Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was Du fühlst. Hoffman und Campe. Hamburg. 1. Aufl. 2005
Damasio, Antonio R.: Ich fühle, also bin ich. Ullstein Verlage Berlin. 5. Aufl. 2004
Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp TB Wissenschaft 16. Frankfurt/Main 1973
Hüther, Gerald: Die Macht der inneren Bilder. Vandenhoeck & Rupprecht Göttingen. 2004, 2010
Jung, C. G.: GW 8. Walter-Verlag Olten, 2. Aufl.1971
Petzold, Hilarion G.: Sinn, Sinnerfahrung, Lebenssinn in Psychologie und Psychotherapie. Edition Sirius Bielefeld und Locarno. 2005
Schmid, Gary Bruno: Tod durch Vorstellungskraft. 2000 und 2010 Springer-Verlag Wien
Schoch, Anna: Altersspezifische Verhaltensweisen. Diss.: München,1990
Wiseman, Richard: Wie Sie in 60 Sekunden hr Leben verändern. Fischer Tb. Frankfurt. 6. Aufl. 2011