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Ende und Anfang – Abolitio nominis: Voraussetzung für den Neubeginn?

DGPA-Tagung 2022 München-Haar  22.-24. September 2022

Im Vortrag zum Thema „Ende und Anfang“ wird am Beispiel der Begriffe „abolitio nominis“ bzw. „damnatio memoriae“ der Frage nachgegangen, ob es für einen gelingenden Anfang sinnvoll ist, vergangene Geschehnisse zu eliminieren. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist unabdingbar. Der Versuch die Vergangenheit  zu leugnen, wirkt sich verhängnisvoll auf die Gegenwart aus.

Aus dem alten Ägypten kennen wir den Begriff „Abolitio nominis“. Es handelt sich dabei umdie  Tilgung des Namens und damit des Andenkens an einen unliebsamen Herrscher. Betroffen waren u.a. die Pharaonin Hatschepsut, der Pharao Echnaton, sowie mit der Amama-Zeit in Verbindung stehende Könige.)

Auch in Griechenland gab es entsprechende Strafen, wie z.B. für Herostratos, der den Tempel der Artemis in Ephesos niederbrannte. Sein Name durfte bei Todesstrafe nicht mehr genannt werden. Damit war die Tat sinnlos.

Die Polis von Ilion erließ um 280 ein Gesetz (OGIS 218), wonach die Namen von „jenen, die mit Tyrannen oder Oligarchen gemeinsame Sache machten, aus allen öffentlichen und privaten Inschriften auszumeißeln“ sind.

Der römische Senat belegte mit seiner der „Damnatio memoriae“ die Kaiser Caligula, Nero, Domitian, und viele andere. Bildnisse, Statuen, Büsten, Hermen, Münzen und alles was an sie erinnerte, wurden zerstört. Der Nachfolger, nicht der Senat, entschied ob ein toter Princeps der Damnatio verfiel oder in den Götterhimmel erhoben wurde.1)

Solche Verfahren der Ächtung finden sich bis in die Gegenwart. Dabei geht es nach wie vor darum, unliebsame Personen aus der Erinnerung zu tilgen; das ist einfacher, als sich mit ihren Ansichten auseinanderzusetzen. Unter Stalin wurden bestimmte Personen (z. B. Trotzki)  aus Fotographien und Gemälden heraus-retuschiert. Auch in DDR-Zeiten verschwanden Wochenschau-Filme oder Medienberichte von Republik-Flüchtlingen. Diese Personen sollten eigentlich nie existiert haben, auch – oder weil – sie vorher interessant waren.

Heute, in Zeiten des Informations-Overkill, genügen schon einige Monate, oder gar Wochen des Totschweigens missliebiger Personen oder Nachrichten, damit sie aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden. Dazu gehört auch die Sperrung von Internet-Accounts. Wer sich nicht öffentlich äußern kann, wird vergessen. – In unserer schnelllebigen Zeit vergisst man die Sensation von gestern leicht, denn schon wartet wieder die neue Schlagzeile.

Im politischen Betrieb hat sich die so genannte „Cancel-Culture“ bewährt, mit der missliebige Personen oder Meinungen totgeschwiegen werden. Die perfekte Damnatio memoriae!

Ist es die Vernichtung eines vorhergehenden Zeitabschnitts, einer Person, die es braucht, damit der Anfang gelingt?

Wenn ein Neubeginn die totale Auslöschung des „Vorher“ erfordert, dann entsteht der Verdacht, dass dieses „Vorher“ dem Neubeginn, dem Nachher, gefährlich werden könnte. Vorher soll nach dieser Vorstellung möglichst das Nichts sein. – Nun kann man aber – was immer gewesen sei, die Existenz einer Tatsache nicht leugnen. Dies macht diese Abolitio, sei der Grund dafür Rache oder gerechte Strafe, verdächtig.

Dieser Vernichtungswunsch für alles was vorher geschah, setzt eine Art Tabula rasa voraus, um anfangen zu können. Gäbe es die Möglichkeit totales Vergessen anzuordnen, ein Nichts im Vorher, dann gäbe es die unendlichen Weiten des Unbewussten, Vorbewussten, des Unterbewusstseins nicht; auch keine Träume, Archetypen – möglicherweise auch keine Kunst.

Ist es nicht so, dass wir das Vorher in der einen oder anderen Form  – meist unbewusst – im Anfang, in unsere Existenz, doch unhinterfragt voraussetzen? Jeder Humangenetiker wird uns das bestätigen.

So, wie wir an den unterschiedlich farbigen Erdschichten an den Abhängen einer Sandgrube, die Überreste längst vergangene Epochen finden und erkennen, so ist es immer sinnvoll sich darüber bewusst zu sein, dass wir buchstäblich auf dem Boden stehen, in dem unserer Vorfahren liegen, einem Boden, den unsere Ahnen kultiviert haben.

Ahnenverehrung, die sich in allen Kulturen  findet, hat mit Kontinuität und Erinnerung an die Vergangenheit zu tun. Wird diese Erinnerung unterdrückt oder verachtet, ist damit zu rechnen, dass sich durch den Abriss dieser Kontinuität schwere Identitätsprobleme ergeben, die sich früher oder später in psychischen Problemen äußern; in individueller oder kollektiver Form.

Alle Kulturen haben Märchen, Sagen und Überlieferungen, die Identität und Zugehörigkeit verleihen.  

Wenn neue Machtstrukturen, Religionen oder Ideologien entstehen, wird immer wieder versucht, die Erinnerung an die vorherigen Herrscher oder Denkweisen auszulöschen.

Da dies bei der verbleibenden Bevölkerung meistens schwierig ist, versuchen die neuen Machthaber vor allem die Kindererziehung an sich zu reißen, wohl wissend, dass damit eine neue Generation so indoktriniert wird, dass sie sich im Ernstfall sogar gegen die eigenen Eltern richtet. (So geschehen z.B. im Nationalsozialismus, im Kommunismus und natürlich in den Koranschulen, Klosterschulen usw.) Diese Umerziehung der Kinder muss nicht nur immer schlechte Auswirkungen haben. Sie kann auch Fortschritt mit sich bringen, aber die totale Verdrängung der ursprünglichen Kultur ist nicht ohne seelische Einbußen im Kollektiv zu meistern.

Wenn ich an meine psychotherapeutische Arbeit denke, dann wurde auf die Frage nach der erwünschten Zielvorstellung der Therapie fast immer das Ende eines Konflikts bzw. eines Zustands angestrebt.

Für solche Fälle ist der Therapieansatz von Steve de Shazer  hilfreich,  in dem eine so genannte Wunderfrage gestellt wird. Sie lautet: „Stellen sie sich vor, heute Nacht geschieht ein Wunder, und das Problem, über das wir gerade sprechen, ist gelöst!“2) genau genommen: Stellen Sie sich vor, das Problem gibt es nicht! Der Patient wird jedoch unwillkürlich immer wieder darauf zurückkommen, und seiner Erleichterung darüber Ausdruck verleihen, dass er das Problem nicht mehr hat. Man muss ihn dann geduldig darauf hinweisen sich vorzustellen, dass er von dem Problem gar nichts weiß. – Schließlich findet er zu einer Neubeschreibung der zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten, zu einer veränderten Sprache und damit zu einem veränderten inneren Zustand.

Diese Erkenntnis benutzen Sprachwissenschaftler wie Elisabeth Wehling3), die in den USA lehrt und forscht: Im Auftrag der Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel erstellte sie ein Werk, wie „Framing“ im öffentlichen Diskurs, insbesondere in den Medien nützlich eingesetzt werden kann. Über Framing und Gendern wird das Bewusstsein weiter Kreise im Sinne einer neuen Ideologie verändert. (Z.B. Modeprospekte mit Models verschiedener Hautfarben, Heimatfilme bzw. Krimis mit, Afrikanern und Asiaten, die zeigen sollen, dass es keine Rassenunterschiede gibt.) Nach einiger Zeit wird diese Szene absorbiert und als Normalität empfunden.

Ist damit das 20. Jahrhundert endgültig verschwunden? Hebt ein neues Denken an, indem man Begriffe und ihren Bedeutungszusammenhang verändert? Oder kann man an der neueren Sprech- und Ausdrucksweise eine gewisse politische Kaste erkennen, die alle vorherigen Begriffe neu einordnet (framt) und damit zugleich das Denken im Sinne ihrer erwünschten Ideologie verändern will? Framing gilt seit Obamas Wahlkampf als Geheimrezept für eine gelungene politische Kampagnenführung.

Elisabeth Wehlings Buch: „Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht,  hat die Augen dafür geöffnet, dass „gedankliche Deutungsrahmen …,  Frames genannt“  den politischen Diskurs entscheiden.  Wer also die passenden Begriffskonzepte zur Hand hat, kann die Deutungshoheit in der politischen Landschaft erringen, weil sich dies über Sprache vollzieht. (siehe auch die Forschungsarbeiten von George P. Lakoff und Mark L. Johnson.4).)

Welche Erinnerung wird bei Opferfamilien beider Seiten nach einem Krieg eines Tages zulässig sein? Die Namen werden – je nach Narrativ – von den Siegern gelöscht. Kann auf dieser Grundlage ein völliger Neubeginn gelingen? Könnte ein solches Ende den Anfang für neue Kriege bilden?

Bekanntlich schreiben die Sieger die Geschichte, und setzen das jeweilige Narrativ in einen neuen Rahmen, aber ist das dann wirklich ein Anfang? Frei von Erinnerung? Gibt es auf diese Weise eine echte Versöhnung? Kommen nicht immer wieder die alten Ressentiments an die Oberfläche? Sowohl beim Sieger, wie auch beim Besiegten?

Sprache schafft Wirklichkeit. Nehmen wir womöglich nur noch solche Fakten wahr, die in die Frames passen? Um genau zu sein, heißt es bei Wehling (S. 47) „Kurzum, bei gleicher Faktenlage – seien es Arbeitslosenzahlen, Fakten zur Umweltverschmutzung oder auch Fakten zu Löhnen und Steuern – machen Frames die Musik. Und nicht etwa die Fakten. Diese Tatsache macht Fakten in der Politik nicht obsolet, im Gegenteil. Aber Fakten ohne Frames sind bedeutungslos.“.

In Deutschland wurde nach dem Krieg eine Erinnerungskultur etabliert, die das Andenken an die Opfer des Krieges und der damit verbundenen Verbrechen pflegt. Auch wenn diese Erinnerung ausdrücklich aufrechterhalten werden muss und nichtsvergessen werden darf und zum Frieden mahnen soll, so würden allzu Viele nur zu gern ein Ende finden und nichts mehr davon wissen wollen. Hier muss Erinnern, darf also kein Ende stattfinden. Allerdings wird dieses Erinnern natürlich auch „geframt“, was wiederum von interessierter Seite mit anderen Frames beantwortet wird.

Viele andere Gräueltaten, wie der kommunistische Terror mit Millionen von Toten, die Kulturrevolution unter Mao oder die unzähligen kleineren Genozide in Afrika oder Südamerika und auch an den indigenen Völkern Nordamerikas sind zwar bekannt, aber wurden weit seltener thematisiert und somit mehr oder weniger vergessen.  

Man soll die Ahnen in Ehren halten. Das Wort „de mortuis nil nisi bene“, dass man über die Toten nur Gutes sagen soll, gehört wohl auch zum Respekt gegenüber den Ahnen, auch wenn der tiefere Grund vielleicht Angst vor dem „Geist“ des Verstorbenen war.

Wenn man aber wenig Gutes zu sagen weiß? Es gilt ja auch, dass sich die Sünden der Väter bis ins vierte und fünfte Glied rächen sollen. – Oft sind es durchaus auch Wahrheiten, die man lieber nicht hören will. Wir haben in unserer heutigen Zeit dafür den neuen Begriff der Cancel Culture ersonnen. Darunter versteht man, dass unliebsame Stimmen, z.B. von Kabarettisten, oder Äußerungen von Parteien aus einem anderen politischen Lager, zum Schweigen gebracht werden, indem sie in der Öffentlichkeit, insbesondere aus den Medien, ausgesperrt werden. Sie werden ignoriert und nicht mehr zum Diskurs zugelassen. Kann so der Anfang gelingen?

Man kann sicher darauf zählen, dass in der heutigen Zeit der ungesunden Informationsflut vieles im Lärm der aufgeregten Medien-Skandalisierung übertönt werden kann. Man kann schon ablenken; aber wenn es sich um Tatsachen handelt, dann verschwinden die nicht einfach, selbst wenn mit Gedächtnislücken argumentiert wird, auch dann nicht, wenn die gerade herrschende Klasse noch so sehr ihre eigenen Anliegen auftischt.

Die niedergerissenen Stalin-Denkmäler, die ausgemeißelten Hakenkreuze können nicht verbergen, dass es sich doch um Bauten aus der jeweiligen Diktatur handelt. Soll man auch die Bauten abreißen? Teilweise wurde das getan, aber meistens wäre das zum eigenen Schaden. Was ist besser? Die Ahnen dort zu ehren, wo sie ehrenhaft waren und zu verurteilen, wo sie schuldig wurden, oder die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart dort einfach zu verdrängen, zu negieren, wo sie scham- und schuldbeladen ist?

Kann ein Anfangen überhaupt gelingen, wenn man Tatsachen negiert? Reagiert man dann nicht wie ein Kind, das glaubt es sei unsichtbar, wenn es sich die Augen zuhält?

Friedrich Nietzsche hatte diesen Sachverhalt so treffend beschrieben: „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. – Schließlich gibt das Gedächtnis nach. …“. 5)

So wird dann mit subtilen Mitteln (Frames) das Gedächtnis zum Schweigen gebracht, statt – wie sich das ein vernunftbegabtes Wesen vorstellt – demokratisch und fair das Problem zu bearbeiten.

George Orwell hat in seinem Roman „1984“ diesem Mechanismus ein Denkmal gesetzt: Alles, was den Herrschern missfiel, verschwand im „memory hole“. Damit konnten alle Dokumente umgeschrieben werden. Wer die Macht über die Geschichte hat, hat auch Macht über Gegenwart und Zukunft.

In unserer heutigen Zeit wird eine politisch unpassende Meinungsäußerung mit dem „sozialen Tod bestraft. Wer in öffentlichen Ämtern tätig ist, wird sich vorsehen, Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu üben. Die omnipräsenten Medien sorgen dafür, dass mainstreamwidrige Meinungen nicht mehr diskutiert werden. Man kann beim täglichen „Informationsgetrommel“ getrost darauf wetten, dass unliebsame Ereignisse, die man lieber nicht öffentlich diskutieren möchte, aus dem Gedächtnis verschwinden. Zur Ablenkung betonen regierungstreue Medien dann möglicherweise Sportereignisse, oder schüren anderweitige Ängste vor allerlei Gefahren. Es könnten ja auch tatsächlich Meteoriten vom Himmel fallen und eine neue Eiszeit provozieren. Die wirklichen Probleme, die aus den Frames der aktuell verordneten Meinung fallen, werden aus allerlei interessengesteuerten Gründen dann nicht angepackt. Über 70 % der Deutschen haben die Meinung geäußert, dass sie ihre Meinung lieber für sich behalten, weil sie Nachteile für sich befürchten.6)

In Familien laufen diese Mechanismen ähnlich ab. Eine wichtige therapeutische Aufgabe besteht darin, blinde Flecken aus den Familiengeschichten sichtbar zu machen, die schwarzen Schafe aus dem Familienverbund zu würdigen und – wenn man einen systemischen Ansatz verfolgt – die fehlenden Bausteine zu integrieren.

In Familienaufstellungen zeigen sich Orwells „memory holes“ verblüffend deutlich, denn ein Familiengeheimnis verbraucht sehr viel Energie, die Anfänge immer wieder sabotiert. Dabei wissen wir: zumindest im kollektiven Unbewusstsein  bleibt alles erhalten, und drängt in der einen oder anderen Form doch ins Bewusstsein.

Historiker beklagen oft die Geschichtsvergessenheit der jüngeren Generation. Tatsächlich werden entwurzelte und konfuse Generationen auch für Ideologen und Fanatiker anfällig. Es fehlt der sichere Boden, das Wissen um die Herkunft, für die Vergangenheit, mit der man nur abschließen kann, wenn man um sie weiß, nicht wenn man nichts davon wissen darf. So kann man Zukunft entwickeln und gestalten und vor dem Anfang auf einem sicheren Boden bauen.

Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wohin man gehen will, nur dann weiß man auch, wer man ist. Dieses Wissen, diese Sicherheit, ist die Voraussetzung für einen gelingenden Anfang.

Literatur:

1) (https://de.wikipedia.org/wiki/Damnatio_memoriae#%C3%84gypten_und_Griechenland

2) Shazer, de Steve/Yvonne Dolan (2008). Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte    Kurztherapie heute. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag.

3) Wehling, Elisabeth (2016). Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet –     und daraus Politik macht. edition medienpraxis. Köln: Halem-Verlag.

Zusätzlich verwendete Literatur:

4) Lakoff, George, Johnson, Mark (1980). Metaphores we live by. University of   Chicago Press.

    Lakoff, George, E. Wehling (2008). Auf leisen Sohlen ins Gehirn: Politische Sprache und ihre   heimliche Macht. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag.

6) Nietzsche, Friedrich (1886). Jenseits von Gut und Böse. Viertes Hauptstück. Sprüche und       Zwischenspiele. Berlin: Boer-Verlag.

7) https://www.welt.de/politik/article193977845/Deutsche-sehen-Meinungsfreiheit-in-der-Oeffentlichkeit-eingeschraenkt.html

   Ayan, Steve (2022). Was man noch sagen darf. Die neue Lust am Tabu. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verlag.

Leiden – Pathos – Ausdruck: König Ludwig II von Bayern

Anna Schoch

Ludwig II beschäftigt die Gemüter immer noch – insbesondere in Bayern. Wie ist es möglich, dass ein geistig verwirrter König, gerade heute, in Zeiten der Freiheit von jeglicher religiöser oder monarchistischer Bevormundung, unverändertes Interesse weckt?

Von Bayern wird immer wieder kolportiert, dass das Land den Kini wieder haben wolle. Dieser ironisch vorgebrachte Wunsch wird und wurde von den scheinbar ver­nünftigen meinungsbildenden Medien aus dem Norden gerne gegen eine so ge­nannte ›Bayerntümelei‹ eingesetzt. Dies betrifft alles was bayrisch-identitäts­stiftend und volksverbunden ist: Trachtenvereine, Kirche, CSU, Franz Joseph Strauss, Bayern Partei usw. („In Bayern gehen die Uhren anders“, titelte der SPIEGEL).

In Wirklichkeit geht es immer wieder – bis in unsere Tage − um die Frage: Bundesstaat oder Staatenbund? Eine Frage, die seit Bismarck und seiner Reichs­gründung (zumindest für Bayern) nie zufriedenstellend gelöst wurde. Der er­zwungene Kaiserbrief, mit dem Ludwig II dem Preußenkönig Wilhelm die Kaiser­würde antragen musste, war ihm ein Gräuel, aber unabdingbar, um wenigstens Teile der Souveränität Bayerns zu retten. − Ein Konflikt der auch heute, in Zeiten von Europa, höchst brisant ist. Die Brexit-Bestrebungen legen davon ein lebhaftes Zeug­nis ab.

Ludwig II war ja alles andere als ›…tümlich‹. Er war König durch und durch. An­hänger und Verehrer von Louis XIV, dem Sonnenkönig, der Ikone des Absolutismus − und er galt als geisteskrank. War er tatsächlich nicht mehr Herr seiner Sinne, un­fähig zu regieren? Vielleicht war er depressiv, aber er war durchaus in der Lage, die politischen Vorgänge zu beurteilen und zu durchschauen. Er hat auch seine Regierungspflichten bis zur letzten Stunde pflichtgemäß erledigt. In vielerlei Hin­sicht war er weit gebildeter als seine Minister, intellektuell seiner Zeit weit voraus. Allein seine seine Kenntnis der neuesten technischen Entwicklungen war enorm. Es wird kaum mit seiner Persönlichkeit verbunden oder gewürdigt, dass er das Poly­technikum gegründet hat. Heute gehört es als Technische [Elite-]Universität zu Mün­chens Vorzeigeinstitutionen.

Wurde Ludwig im Auftrag Bismarcks ermordet, bestochen?

Wurde mit dem Gutachten des ›Irrenarztes‹ von Gudden ein Staatsstreich ge­plant?

Hat sich Ministerpräsident von Lutz mit dem späteren Prinzregenten Luitpold (Ludwigs Onkel) abgesprochen, indem er sich versichern ließ, dass er seinen 210

Ministerpräsidenten-Sessel behalten würde, wenn Ludwig abgesetzt wird? Immer­hin war es bezeichnend, dass sich der Sohn des Prinzregenten (der Millibauer) zum König ausrufen ließ, in einer Zeit, als der formelle Nachfolger Ludwigs, sein Bruder König Otto, in tiefer geistiger Verwirrung in Schloss Fürstenried noch drei Jahre lebte. Ein Zeichen dafür, dass die Seitenlinie kaum erwarten konnte, endlich selbst ›König‹ zu sein.

Hat Ludwig II Professor von Gudden absichtlich getötet?

Wollte er fliehen?

Wollte er sich durch Ertrinken umbringen?

Wurde er erschossen, weil er nach seiner Gefangennahme auf Neuschwanstein und der anschließenden Festsetzung in Schloss Berg unter keinen Umständen mehr mit irgendeiner Person ›draußen‹ Kontakt aufnehmen durfte?

Hat ihm seine Cousine Elisabeth von Österreich tatsächlich zwei Kutschen zur Flucht in Leoni bereitgestellt? Die Kutschenspuren sind verbürgt.

»Ein ewiges Rätsel will ich bleiben mir und den anderen«, schrieb Ludwig an die Schauspielerin Marie Dahn-Hausmann am 25. April 1876. (Sie hatte Beatrice in Schillers Die Braut von Messina im Kgl. Hoftheater gespielt und Ludwig in dieser Rolle tief beeindruckt.)

Woran hat Ludwig II gelitten?

Sicher an Geldmangel! Geld gab es nie genug, um seine Leidenschaft zu finan­zieren: vollkommen zweckfreie − für die damalige Zeit unerhört luxuriöse − Pracht­bauten. Ludwig II setzte sich Denkmäler, ein Relikt aus Zeiten des Absolutismus, in denen der Herrscher seine Macht in repräsentativen Schlössern demonstrierte. Damit konkurrierten die Herrscher mit den Kirchenbauten, die zur höheren Ehre Gottes allen Prunk auf sich vereinigen durften. Der absolutistische Herrscher stellte sich mit seinen luxuriösen Profanbauten neben Gott, denn er war ja ›Herrscher von Got­tes Gnaden‹. Die Verschwendung war damit ebenso beeindruckend und gerecht­fertigt, wie die bei den Sakralbauten. Aber es sei darauf hingewiesen, dass dieser Luxus nur dem König zustand. (Eine erhellende Anekdote aus Zeiten Louis XIV ist das berühmte Schloss Vaux-le-Vicomte, das der damalige Finanzminister Nicolas Fou­quet 1661 derart prunkvoll ausgestattet hatte und mit einem Fest zu Ehren des Königs so üppig eröffnete, dass ihn der König drei Wochen nach der Feier verhaften ließ, mit der Begründung, er hätte Staatsgelder veruntreut. Dies scheint plausibel angesichts der ungeheuren Verschwendung. Allerdings verbreitete sich danach Ge­rücht, der König habe aus Neid gehandelt.) Ludwig baute seine Schlösser nicht für Staatsempfänge, und noch weniger um seine Macht zu demonstrieren, sondern nur für sich selbst, um seiner romantischen Innenwelt eine reale Basis zu verleihen.

Woran also litt Ludwig II, der in einer weitgehend aufgeklärten Zeit, 200 Jahre später, den Rückgriff auf sein Idol Louis XIV vornahm, und die später dar­auf folgende blutige Revolution mit ihren Folgen negierte? 211

Ludwig II schwärmte aber nicht nur für Louis XIV, sondern auch für das Rittertum des Mittelalters und für die germanischen Sagen. Schon als Kind regten ihn die Wandgemälde im elterlichen Schloss Hohenschwangau zu Träumereien an, deren Interpretation durch das Gesamtkunstwerk Richard Wagners und seiner betörenden Musik beflügelt wurde.

Was bedeutete das alles für Ludwig II?

Louis XIV konnte sich (scheinbar) alles erlauben. «L‘état c’est moi!» kann man als Zusammenfassung des Absolutismus begreifen. Damit ist eine Selbstermächtigung postuliert, die Ludwig gerne auch für sich in Anspruch genommen hätte. Vielleicht sogar: «La loi c’est moi!»?1

1 «L‘état c’est moi!» = Der Staat bin Ich!; «La loi c’est moi!» = Das Gesetz bin Ich. Die Staatsregierung hätte dem König einen Ausweg aus seinen Geldnöten ermöglicht, wenn er dafür auf seine Prärogativrechte – den Erlass von Gesetzen und der Auflösung des Parlaments etc. − verzichtet hätte. Das aber konnte und wollte er mit seiner Königswürde nicht vereinbaren.

Ludwig hatte aufgrund seiner Homosexualität einen Triebkonflikt (im 19. Jahr­hundert eine unaussprechliche, unerhörte Veranlagung!). Er war gläubiger Katholik und wusste genau, dass er sich als König mehr erlauben konnte als ein gewöhnlicher Bürger, aber er lebte in einer konstitutionellen Monarchie, die ihn einschränkte. Überdies blieb er in seinen eigenen ästhetischen und moralischen Ansprüchen total gefangen. Dabei war die besondere Crux, dass die ›Spinnereien‹ des Königs manchen Ministern sehr entgegen kamen; konnten sie doch auf diese Weise relativ unan­gefochten ihre eigenen Ziele verfolgen und hatten keine besondere Einmischung von höchster Stelle zu befürchten.

Ludwig sehnte sich nach der Erfüllung seiner homosexuellen Bedürfnisse. Er hätte dafür eine Befreiung von seinen moralischen Ansprüchen an sich selbst ge­braucht. Diese waren Zeiten, in denen Onanie als Ausgeburt von teuflisch-abartigen Einflüssen galt, mit Folgen, die besonders in klerikalen Kreisen in Grauen erregenden Bildern beschrieben wurden, völlig unmöglich. Es wurden die schlimmsten körper­lichen Verfallserscheinungen als abschreckendes Beispiel herangezogen. Ludwig konnte an der Erkrankung seines von ihm geliebten jüngeren Bruders Otto die an­geblichen Folgen ›solchen Verfalls‹ aus nächster Nähe beobachten. Dieses Leiden stand ihm immer vor Augen. Insbesondere auch die Schläge und Demütigungen durch die Pfleger, die damals auch vor königlichem Blut nicht Halt machten.

Solche Räubermärchen werden übrigens noch bis in die heutige Zeit verbreitet. Es ist noch nicht lange her, da genügte schon der Verdacht auf Homosexualität, um z.B. 1984 den 4-Sterne-General Günter Kießling aus der Bundeswehr zu entfernen und ihn öffentlich bloß zu stellen. Dass er später, nach Entkräftung der Vorwürfe, wieder in die Bundeswehr aufgenommen und schließlich ehrenhaft entlassen wurde, war der Presse weniger Schlagzeilen wert. Das so genannte Outing bei Fußball­spielern ist in den Boulevardblättern auch in unseren Tagen noch eine Sensation und dicke Schlagzeilen wert. 212

Schon König Ludwig I, der Großvater und Taufpate, musste viel Spott und Häme wegen seiner Bauwut einstecken, obwohl er das verarmte Bayern wirtschaftlich wieder in Ordnung gebracht hatte.

Ich will aus München eine Stadt machen, die Teutschland so zur Ehre ge­reichen soll, dass keiner Teutschland kennt, wenn er nicht München ge­sehen hat (BR, 2011).

Noch schlimmer traf ihn der Unmut der Bevölkerung wegen seiner Affaire mit Lola Montez. Er trat schließlich zu Gunsten seines Sohnes Maximilian II zurück. Bei sei­nem Enkel Ludwig wurde die Beziehung zu Richard Wagner mit der Affäre Montez verglichen. Wagner wurde aus seinem Umfeld entfernt.

König Maximilian II, Ludwigs Vater, wäre nach eigener Aussage lieber Professor geworden als König. Er holte verdiente Professoren aus Norddeutschland an die Münchner Universität, um sich beraten zu lassen. Sie belebten Münchens Geistes­leben. Mit seiner Stiftung Maximilianeum förderte er besonders begabte Studenten. Im Alter von 52 Jahren starb er. Und so wurde Ludwig II mit 18 Jahren − viel zu jung − König. Trotz hervorragender Bildung, aber noch ungefestigter Persönlichkeit, z.B. auch weil er noch nicht verheiratet war, war er leicht den Einflüssen interes­sierter Hofschranzen ausgesetzt. Er konnte in diesem Alter noch nicht die Stärke aufbringen, sich angemessen aller an ihn herangetragenen Ansinnen zu erwehren; schließlich lebte er ja nicht mehr in Zeiten des Absolutismus.

Dies erklärt auch den großen Einfluss, den Richard Wagner auf ihn ausüben konnte. Der junge König verehrte ihn schwärmerisch. Wagner nutzte die königliche Zuneigung schamlos aus und enttäuschte ihn zudem persönlich. Als seine Affäre mit Cosima von Bülow und ihre Schwangerschaft schon Stadtgespräch waren, belog er den König, als er ihn auf die Gerüchte ansprach. Richard Wagner hätte seinen Gön­ner und Förderer schützen müssen! Stattdessen benutzte der Ausnahmekünstler Ludwig, für seine eigenen Interessen.

Ludwigs Menschenscheu ist sehr gut nachvollziehbar. Seine beeindruckende Größe, seine Schönheit im jugendlichen Alter, seine Sensibilität, Intelligenz und geistige Überlegenheit machten ihn verletzlich. Er durchschaute die Liebedienerei der Minister und litt unter ihrer Falschheit. Er fand in seiner Entourage kaum einen Menschen, dem er sich anvertrauen konnte. (Einer der wenigen Ausnahmen war Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern. Ihm schickte er den letzten persönlichen Brief, in dem er ihn bat, sich doch in München umzuhören, was gegen ihn im Gange sei. – Eine Antwort erhielt er nicht mehr, da sich dann die Ereignisse überstürzten.)2

2 Anm. d. Verf.: Mein Vater, Dr. med. et Dr. rer. nat. Erhard Otto Schoch (1895-1974) war bis zu dessen Tod Leibarzt seiner Kgl. Hoheit, Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern und Infant von Spanien (1859- 1949). Man kann sagen, dass ein sehr vertrautes, fast familiäres Verhältnis zwischen den beiden bestand. Es verstärkte sich, als mein Vater im Widerstand gegen die NS-Diktatur sein Leben riskier­te (z. B. in der Freiheitsaktion Bayern; s.a. Diem, 2013) und damit völlig im Einklang mit Ludwig Ferdinand war. Ich begleitete als Kind meinen Vater fast täglich bei seiner Visite im Schloss Nym­phenburg (ich erinnere mich vorwiegend an die Zeit etwa zwischen 1944 bis 1949). Ich kannte auch noch seine liebenswürdige Frau, Maria de la Paz, Infantin von Spanien. Gefühlt war Ludwig Ferdi­nand für mich wie ein Großvater. Kinder haben keine besondere Scheu vor bedeutenden Persönlich­keiten. Ludwig Ferdinands Tochter, Prinzessin Pilar von Bayern, war Firmpatin meiner Schwester 213

Ludwig II zog sich immer mehr in seine romantische Welt zurück. Es fehlte ein Korrektiv, ein Freund, ein Vertrauter, von dem er sich hätte verstanden fühlen kön­nen. Richard Wagner wäre einer der wenigen gewesen, die ihm etwas mehr Realitäts­bewusstsein hätten vermitteln können. Im eigenen Interesse aber bestärkte er die Träumereien. Er ermahnte den König erst zu etwas mehr Realitätssinn, als es zu spät war und dies nur, weil er befürchten musste, dass seine Pfründe in Gefahr waren. Wagner hatte später selbst bekundet, dass er sich in Wort und Schrift ganz und gar auf den schwärmerischen Ton des Königs eingeschwungen hatte und ihm damit vor­gaukelte, er dächte und fühlte mit ihm. Die Briefe, die er mit Ludwig austauschte, erinnerten eher an ein schwer verliebtes Paar, als an einen Schriftwechsel zwischen Männern.

Ludwig war aber nicht nur Schwärmer, er hatte große politische Sorgen. Er muss­te mit ansehen, wie Bismarck versuchte, sich Bayern einzuverleiben. Es ging um den Fortbestand seines Landes. Nach dem verlorenen Krieg von 1866 (zweiter Einigungs­krieg) in dem Bayern noch auf der Seite Österreichs im Deutschen Bund gegen Preußen und seine Verbündeten gekämpft und verloren hatte, musste er sich in der dritten Auseinandersetzung entscheiden, ob er sich mit Preußen oder Frankreich verbünden solle. Es ging um die bayrische Souveränität, die Unabhängigkeit und um den Kaiserbrief, mit dem Ludwig II sein Land dem preußischen König/Kaiser unter­werfen sollte.

Dieser Konflikt, der Ludwig buchstäblich aufs Krankenbett warf, war ihm un­erträglich. »Ein Schattenkönig ohne Macht will ich nicht sein…« schrieb er an Wag­ner. Ludwig II schickte seinen Bruder Otto nach Versailles zu der unsäglichen Kaiser­krönung. Dieser berichtete ihm auch entsprechend angewidert von dem großtuerischen Preußen und den Ergebenheitsadressen der anwesenden Fürsten an den preußischen Kaiser Wilhelm I.

Geldfragen sind Machtfragen. Ludwig litt unter seiner Geld-Machtlosigkeit. Die Bismarckschen Zahlungen aus dem Welfenfonds bzw. Reptilienfonds waren ihm ein geringer Trost. Sie fielen nicht in der versprochenen Höhe aus, sondern wurden in Raten von 300.000 Mark ausgezahlt. Graf Max von Holnstein, der Ludwigs Ent­mündigung hinter seinem Rücken betrieb, trat für diese Übereinkunft als Vermittler auf. Er kassierte von jeder Rate 10%. Die letzte erreichte Ludwig nicht mehr. Sie verschwand spurlos. Graf Werthern, der preußische Botschafter in München, be­merkte gegenüber Bismarck

Holnstein muss irgendeine wunderliche Sache des Königs wissen und diese als Waffe benutzen – der König liebt ihn nicht mehr und gehorcht ihm doch.3

Vater hat dies kurz vor seinem Tod noch einmal meiner Schwester gegenüber hervorgehoben. Er sprach sonst nur in Andeutungen über die Tragödie, da er sich durch das Arztgeheimnis gebunden fühlte; aber die tödlichen Schüsse waren damals kein besonderes Geheimnis. Sonja. Dass Ludwig unbeabsichtigt erschossen wurde, stand in diesem Umfeld außer Frage. Mein

3 Brief von Prinz Eulenberg an Herbert von Bismarck vom 26. August 1882 (von See, 2001, 135).214

Seitdem die Zahlungen und deren Umstände bekannt geworden waren, wird darüber gestritten, ob dem Kaiserbrief … mit Bezug auf die Reichs­gründung eine Bestechung voranging, ob es sich um Dotationen an einen weichenden Souverän handelte, oder aber … das Werk von Bestechungs­geldern verrichteten (Pflanze, 1997, 503).

Dabei wird übersehen, dass Bayern wenige Jahre zuvor an Preußen 30 Millionen Gulden als Reparationen zahlen musste. Es ging aber nicht darum, ob die Reichs­gründung letztendlich durch Bismarcks Bestechung ›geschmiert‹ wurde, sondern dass Ludwig dafür entschädigt wurde, dass er auf seine Souveränität verzichtete – wenn auch nicht freiwillig. Es war aber bis ins 19. Jahrhundert üblich, dass dafür eine Entschädigung gezahlt wurde. Für Ludwig fiel sie ohnehin vergleichsweise mager aus. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass Bismarck diese Zahlungen dem preußischen König verschwieg. Die Einigung mit Graf Holnstein er­folgte unter höchster Geheimhaltung.

Ludwig floh vor der Realität und steigerte seine Bau-Sucht im gleichen Verhält­nis zu seiner geschwundenen Macht. Seine Todessehnsucht wurde immer größer. Die Pathetik seiner Schlossbauten ist das anschauliche und bleibende Denkmal seines Leidens. Die Liebe des Volkes und die fragwürdigen Umstände seines Todes lassen Bayern bis heute nicht ruhen. Nach wie vor ranken sich um die Frage, was damals wirklich in Berg geschah, unzählige Legenden und Verschwörungstheorien. Sie wer­den befeuert durch die konstante Weigerung des Hauses Wittelsbach, den Sarkophag zu öffnen. Dass Ludwig II gewissermaßen ›unbeabsichtigt‹ durch einen Wachmann erschossen wurde, als ihn von Gudden daran hindern wollte, ins Wasser zu gehen, durfte nicht öffentlich bekannt werden. Von Gudden ›erlaubte sich‹, den König an­zufassen! Das löste möglicherweise bei Ludwig, der − sich ganz seiner königlichen Unantastbarkeit bewusst − diese Dreistigkeit nicht dulden konnte, die Psychose aus, die von Gudden das Leben kostete. Der Polizist aber, der dies mit ansehen musste, feuerte den Schuss auf den König ab, dessen Wahnsinn er in diesem Augenblick wohl bestätigt sah.

Die Skizze zeigt Dr. Maximilian Schleiss von Löwenfeld, König Ludwig II und Stallmeister Richard Hornig. Die Männer waren zusammen mit Hermann von Kaulbach nur Minuten nach dem Ableben des Königs am Tatort. Hermann von Kaulbach, ein voll ausgebildeter Mediziner, mit außerordentlichem künstlerischem Talent skizzierte den toten König noch vor Ort. Der Blutaustritt aus dem geöffneten Mund verweist auf einen Lungenschuss und nicht auf Tod durch Ertrinken. (Prof. Siegfried Wichmann, vormals Kurator an der Pinakothek fotografierte das Bild im Jahre 1967).

Diese Katastrophe durfte auf keinen Fall in der Bevölkerung ruchbar werden. Es drohte ein Aufstand. Die Gefangennahme und Festsetzung Lud­wigs erfüllte schließlich alle Kriterien für einen Staatsstreich. (Ministerpräsident Lutz versicherte sich beim späteren Prinzregenten Luitpold vor der Gefangennahme des Königs, dass er auch nach dessen Absetzung Ministerpräsident bleiben würde.)

Die Intrigen im Vorfeld und der gewaltsame Tod Ludwigs II, dessen Schussver­letzungen nach wie vor bestritten und vertuscht werden, hätten möglicherweise schon damals die Dynastie in Frage gestellt. Wenn man die Idee eines Staatsstreiches weiter spinnt, hätte Ludwig seinen Onkel Luitpold als Mitverschwörer hinrichten lassen müssen. Ludwig war nicht so naiv, dass er das nicht gewusst hätte. Er schrieb, dass seinetwegen kein Blut fließen solle. Vielleicht war für ihn, den Todessehn­süchtigen, die eigentliche Tragödie, dass er zu schwach war, sich zu wehren. 215

Bayern liebt und verehrt ihn dafür, dass er – im Gegensatz zu Preußen − keine Schlachten angezettelt hat, um seinen Machtbereich auszudehnen. An den Kriegen von 1866 und 1870/71 musste er sich aufgrund der jeweiligen Bündnisse beteiligen. Ludwig II wollte kein Blutvergießen, er baute Märchenschlösser…

Ein ewig Rätsel … Das Volk gibt keine Ruhe – bis heute.

Widmung
Ich widme diesen Vortrag meiner Schwester, Frau Sonja Simon, die mir die Ereignisse im Hause Wittelsbach immer wieder in Erinnerung gerufen hat.

Literatur
BR 2011. Ludwig I. von Bayern. Künstlerkönig mit Widersprüchen. Online-Publ.: https://www.br.de/ themen/bayern/koenig-ludwig-eins100.html (Stand: 30.06.2020).
Döring, O. 1921. Das Tagebuch König Ludwigs II. München, Leipzig: Universal.
Grein, E. [Riedinger, E.] (Hrsg.). 1925. Tagebuch-Aufzeichnungen von Ludwig II, König von Bayern. Schaan, Liechtenstein: Rupert Quaderer.
Körner, H.-M. 2009. Die Wittelsbacher. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck.
Pflanze, O. 1997. Bismarck der Reichsgründer. München: C.H. Beck.
Rumschöttel, H. 2011. Ludwig II. von Bayern. München: C.H. Beck.
See, K. von (Hrsg.). 2001. Philip Fürst Eulenberg-Hertefeld, Das Ende König Ludwigs II.. Frankfurt am Main: Insel.
Volkert, W. 2001. Geschichte Bayerns. München: C.H. Beck.

Psyche oder Physis?

Anmerkungen zu aktuellen Therapieansätzen

Anna Schoch
DGPA (Basel) Tagungsband Soma – Sema

Das Nachrichtenmagazin „Spectrum der Wissenschaft“ schreibt:

„Entgegen landläufiger Meinungen sind Psychologen heutzutage mehr denn je Naturwissenschaftler“. 1)

Nach dieser Feststellung stellt sich die Frage, ob die Bezeichnung Psychologie, (früher Seelenkunde) heute nicht eher Etikettenschwindel ist. Entweder man bezeichnet diese Wissenschaft ehrlicherweise als Behaviorismus, also Verhaltenslehre, oder man bezieht die Seele wieder in die Betrachtungsweise mit ein.

Auch Psychiatrie müsste sich demnach besser in Encephaliatrie umbenennen.

(Diesen Begriff verdanke ich der Lektüre von Daniel Hell, dem vormaligen Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, der in seiner Schrift „Die Wiederkehr der Seele“ 2)  die zunehmende Vermeidung des Seelenbegriffs in den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts beklagt.)

Die Leugnung des Seelenbegriffs verunsicherte mich schon zu Beginn meines Studiums, als in der Einführungsvorlesung Allgemeine Psychologie unser damaliger Professor vehement dafür plädierte, doch am besten den Begriff Psyche aus unserer Wissenschaft zu streichen, da er irreführend sei und eine wissenschaftliche Arbeitsweise mit solchen Begriffen nichts anfangen könne.

In Seminaren zur Religionssoziologie wurde über die christliche Lehre ebenfalls in einer Art und Weise diskutiert, als ob es keine Seele – und damit auch keinen Gott – gäbe.   Einmal sprach der Ordinarius für katholische Dogmatik der LMU im kleinen Kreis zum Allerseelentag. Ich war gespannt darauf, wie sich der Kirchenlehrer zur Seelenfrage äußern würde, erfuhr jedoch zu meiner Enttäuschung auch hier, dass es heutzutage offenbar in der (katholischen) Kirche eine Seele nicht mehr gibt. Nach Aussage des Theologen war das nur noch eine Vorstellung „für schlichtere Gemüter“; in Wirklichkeit handele es sich ausschließlich um hirnorganische Prozesse. Der Seelenbegriff sei ein „Relikt aus einer Tradition, die eine ‚Existenz über den Tod hinaus‘ postulierte“. Ich war verwirrt und stellte mir die Frage, wieso ausgerechnet die Kirche die Substanz ihrer Lehre abstreitet.

Um ganz in der Aktualität zu sein: Kardinal Reinhard Marx kritisiert den Begriff Christliches Abendland als „ausgrenzend“ und will ihn folglich abschaffen.

Für den Bestseller- und Kultbuch-Autor Yuval Noah Harari delegiert der moderne Mensch überwiegend seine Entscheidungen an Algorithmen. Dabei aber läuft er Gefahr die Kontrolle zu verlieren. 3) Google kennt mich demnach bereits heute schon besser als ich mich selbst. Die Frage muss erlaubt sein: Ist Google dann vielleicht der allwissende Gott? Wer bin dann ich? Ein Individuum oder ein Dividuum, etwa Google und ich? .

Beim Thema Soma und Semiotik befinden wir uns also mitten im Leib Seele Problem – oder – in Bezug auf unsere DGPA-Gesellschaft – bei der „Psychopathologie des Ausdrucks“. Es stellt sich die Frage: Wie deuten wir die Zeichen, die wir über das Symptom bzw. die Krankheit erhalten? Die Antwort ist entscheidend für den Heilungserfolg. Es geht um den theoretischen Hintergrund, mit dem an die Erklärung für eine Krankheitsentstehung herangegangen wird. Könnte man den Placebo-Effekt auch mit dem „Dein Glaube hat dir geholfen“ 4) gleich setzen? Was hätte in diesem Fall geholfen? Die Seele?

Astrophysiker zum Beispiel, orten die Existenz von Schwarzen Löchern aufgrund von Strahlungen, von etwas, das gar nicht mehr existiert. Es gibt es nicht und es gibt es doch. Könnte man demnach den Beweis für eine Seele nur aus ihren (noch) existierenden Erscheinungen behaupten? Aus den Phänomenen, die auf etwas verweisen, das trotz (vorläufiger) nicht-Sichtbar- und nicht-Messbarkeit vielleicht doch existiert – nämlich eine Seele? Warum suchen wir im Weltall (dennoch?) Beweise, wenn wir so nah bei uns jede Transzendenz zugunsten eines blinden Materialismus leugnen?

(Google weiß zwar scheinbar alles – aber scheinbar alles dann doch nicht!)

Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte um 1700 eine Psychophysische-Parallelismus-Theorie, in der  Körper und Geist in genauer Entsprechung – aber ohne kausale Verknüpfung – nebeneinander ablaufen. Dieser Psychophysische Parallelismus lebt in der Neurophysiologie mit ihrem Begriff vom neuronalen Korrelat fort, das „für geistige Leistungen im neuralen Substrat, meist durch bildgebende Verfahren aufgesucht wird.“ 5)

Im Monismus wiederum sind die mentalen Zustände identisch mit den physischen Erscheinungsformen. „Der Monismus ist die philosophische oder metaphysische Position, wonach sich alle Vorgänge und Phänomene der Welt auf ein einziges Grundprinzip zurückführen lassen.“ 6)  Damit bezieht der Monismus die Gegenposition zu Theorien, die zwei oder viele Grundprinzipien annehmen.

Im Materialismus, der die augenblickliche Blickrichtung bestimmt, gibt es keine geistigen Zustände. Alles ist Materie. Jeder Zustand wurde durch materielle Zustände hervorgerufen. Dies ist wohl die modernste, aktuelle Vorstellung, mit der das Leib-Seele-Problem scheinbar gelöst ist.

Dem widerspricht Joachim Bauer.7)  Er zeigt auf, dass ein biologisch fundiertes Bild die Seele nicht „wegerklärt“. Er beschreibt, wie seelische Belastungen die Immunabwehr schwächen, dass Traumata Gene verändern und viele ähnliche Phänomene mehr. Er bezieht sich auf das Stress-Modell von Hans Selye und befindet sich damit in bester Gesellschaft von Thure von Uexküll. Bauer kann auf neuere Studien verweisen die zeigen, dass Psychotherapie hilfreich ist. Psychotherapie? – die Behandlung einer Seele, die es ja nach moderner Auffassung gar nicht gibt?

Thure von Uexküll stellt in seinem Lehrbuch der psychosomatischen Medizin das Vorhandensein einer Seele nicht in Frage. 8)  Er betrachtet die Entstehung von Krankheit als multifaktorielles  Zusammenspiel von angeborener Konstitution (unserem genetischen Erbe), Disposition, die die im Laufe des Lebens erworbenen individuellen Änderungen umfasst, wie z.B. Noxen oder Objektbeziehungen mit dem sie begleitenden subjektiven Erleben, und Reaktionen des Organismus, die nur dann einigermaßen verstanden werden können, wenn Umwelt, Objektbeziehungen und Situation gemeinsam berücksichtigt werden. Die ausschließlich objektive Beobachtung des Verhaltens muss nach Uexküll durch das subjektive Erleben des Patienten ergänzt werden, wobei auch die soziale Umgebung mit einzubeziehen ist.

Ein heute praktizierender Arzt oder Psychotherapeut stöhnt bei solchem Gedankengang unwillkürlich auf. Wie soll man bei diesem Anspruch unter den herrschenden bürokratischen Bedingungen dem Patienten gerecht werden? Wenn wir ehrlich sind, kann er sich höchstens auf wenige interessante Fälle beschränken. Die Vorgaben der Krankenkassen machen eine multifaktorielle Betrachtungsweise allein wegen des Zeitaufwandes unmöglich. Für einen Seelenbegriff gibt es keine Abrechnungsziffer! Seine Verwendung würde als unprofessionell gebrandmarkt.

Einfach ist es stattdessen Psychopharmaka zu verabreichen. Damit wird das Symptom  kurzfristig abgeschafft, aber nur in den wenigsten Fällen umfassende Heilung erreicht.

Ich möchte gerade hier in Basel nicht die Segnungen der chemischen Hilfen klein reden. In akuten Fällen versprechen sie eine glückliche Lösung; für eine grundlegende Gesundung ist aber eine therapeutische Intervention – eine Seelenbehandlung – unvermeidlich. (Ich nenne eine medikamentöse Intervention für mich immer eine „Anschubfinanzierung“. In diesem Fall ist klar, dass der Patient damit die kurzfristige Entlastung bekommt, die ihn befähigt, seine kranke Seele einer Heilung zuzuführen.)

Eigentlich wären in solchen Fällen die Kirchen mit einem religiösen Tröstungsangebot in der Pflicht. Wie aber kann ein Klerus trösten, wenn er sich selbst aller Spiritualität entledigt hat. Die Kirchen laufen dem Zeitgeist nach und die Gläubigen laufen ihnen deswegen davon. Die fehlende Alternative wird beim Arzt gesucht.

Nun aber sind Ärzte heutzutage überwiegend Spezialisten. Dies stürzt uns wieder in ein Dilemma, denn einerseits erreichen sie durch ihre Spezialisierung durchaus spektakuläre Heilungsergebnisse, die den Patienten auch buchstäblich an Leib und Seele gesunden lassen können. Es kann sich aber auch um ein Leiden handeln, das z. B. durch einen zermürbenden Konflikt (Situation) und eine bestimmte Konstitution (genetisches Potential) entstanden ist. Wenn die Krankheit, bzw. das Symptom, behoben wird, kann der Patient entweder die Energie aufbringen, den Konflikt selbst zu beenden, es kann aber auch sein, dass ihm dies nicht möglich ist. Dann wird sich das Symptom – die Krankheit – in anderer Form wieder Ausdruck verschaffen. Es ist wie beim Wasser: das sich immer irgendeinen Weg sucht. 9)

Ausschließlich unbewusste Dynamiken taugen ebenso wenig als Erklärungsmodell für die Entstehung von Krankheiten, wie ausschließlich somatische Marker. Dies gilt sowohl für die Medizin, wie auch für die Psychotherapie, die sich seit über zwei Jahrhunderten immer wieder gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zur Wehr setzen musste. Dies führte dazu, dass Psychologie geradezu fanatisch mit experimentellen Methoden Verhalten analysierte; – die unbewussten Vorgänge aber ausblendete; was man als Seelenverlust beklagen könnte;  – und dies im eigentlichsten Seelenfach!

Anerkennung finden „Neuro-Psycho-Physiologen“. Ihre Erkenntnisse sind überzeugend, weil sie sich bildlich fassen lassen. Dennoch fehlt etwas: Erklärt Informationsübertragung alles, oder fehlt dabei doch der Faktor Seele? Man fragt ja auch nach der Wirkung einer Information, die bekanntlich sehr unterschiedlich ausfallen kann.

Der Verlust des Glaubens innerhalb der Kirchen hat eine riesige Esoterik-Szene hervorgebracht, die das spirituelle Bedürfnis ihrer Kundschaft mehr oder weniger gut bedient. Eigentlich waren die Kirchen schon einmal viel weiter; der Materialismus hat ihre Errungenschaften zunichte gemacht.

Können wir eine Deutung von Krankheit vornehmen, ohne den seelischen Hintergrund mit einzubeziehen? Welche Auswirkungen hat das auf die Heilungsaussichten?

Selbst unter Ärzten gibt es Schwierigkeiten Psychologie, Psychiatrie und Medizin auseinander zu halten. Die Spezialisierung in den verschiedenen Bereichen – auch innerhalb dieser Disziplinen – ermöglicht kaum noch Konvergenzen. Der Dialog geht verloren, wozu die jeweilige Fachsprache beiträgt und vor allem der jeweils unterschiedliche – teils diametral entgegengesetzte – theoretische Ansatz.

In der Medizin verhält es sich noch wie im Mittelalter nach dem Muster der Täter-Opfer-Unterscheidung. Die Ursache ist das biologische System, aus dem der Krankheitserreger dingfest zu machen ist. Symptome sind die Folge eines Virus oder Bakteriums und entsprechend wird der Erreger exorziert.

Die Schuldzuweisung an den Erkrankten (wie noch in der archaischen Medizin üblich) wurde abgeschafft. – Aber wie erklärt man dann, dass der Erreger den einen Menschen befällt und krank macht, der andere aber immun zu sein scheint?

Typisch dafür wäre die Geschichte vom Lieben Augustin aus Wien, der im offenen Pest-Grab seinen Rausch ausschlief, sich aber durchaus nicht infizierte.

Ein solches Beispiel gibt auch der Arzt, der im Winter täglich ein ganzes Wartezimmer voller Grippekranker behandelt, sich dabei aber selber nicht ansteckt, obwohl er keineswegs immer so gesund lebt, wie er dies seinen Patienten raten würde.

Im 19. Jahrhundert lehrte der berühmte Psychiater Wilhelm Griesinger (1817-1868) folgendes: „Der erste Schritt zum Verständnis der Symptome ist ihre localisation. Welchem Organ gehört das Phänomen des Irreseins an? Welches Organ muss also überall und immer notwendig erkrankt sein, wo Irresein vorhanden ist? Die Antwort auf diese Frage ist die erste Voraussetzung der ganzen Psychiatrie. Zeigen Sie uns physiologische und pathologische Thatsachen, dass dieses Organ nur das Gehirn sein kann, so haben wir vor Allem in den psychischen Krankheiten jedesmal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen“. 10)

C.G. Jung schreibt hingegen im Berliner Tageblatt Nr.189 11) – Später mit dem Titel Geisteskrankheit und Seele:„Das ausgehende 19. Jahrhundert mit seiner vorzugsweise materialistischen Geistesströmung hat, wie überall, so auch in der medizinischen und im besonderen in der psychiatrischen Theoriebildung seine Spuren hinterlassen. Jene – durch den Weltkrieg abgeschlossene Epoche glaubte an den Satz: ‚Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten‘. Ja noch mehr: man durfte sogar ungestraft Neurosen als Stoffwechseltoxikationen oder als Störungen der internen Sekretion auffassen. Der chemische Materialismus und die ‚Gehirnmythologie‘ kamen aber hier rascher zu Fall als in der Psychiatrie. …“ 12)

Nach Jung gibt es sogar für Schizophrenien psychogene Ursachen, die nach seiner Ansicht einen psychologischen Verlauf der Krankheit erwarten ließe „…stellen sich aber bei der Schizophrenie Folgeerscheinungen ein, die mir psychologisch nicht mehr erklärbar scheinen.“ 13) Er lässt also durchaus physiologische Faktoren gelten.

Wir kommen also um den Begriff Seele oder Psyche nicht herum.

Wenn man eine aktuelle Definition der Seele in der Suchmaschine Google 14) aufruft, so tauchen nach 0,57 Sekunden ungefähr 71.500.000 Ergebnisse auf. An erster Stelle kommt folgende Erklärung:

See·le / Seéle/

Substantiv, feminin [die]

  1. 1. Gesamtheit dessen, was das Fühlen, Empfinden, Denken eines Menschen ausmacht; Psyche „die menschliche Seele“
  2. 2. substanz-, körperloser Teil des Menschen, der nach religiösem Glauben unsterblich ist, nach dem Tode weiterlebt „die unsterbliche Seele“.

Wenn wir uns darauf verständigen können, das die erste Erklärung für unsere Arbeit genügt, so können wir damit arbeiten und die Lehre von den Zeichen durchaus mit seelischen Ursachen in Verbindung bringen und in unsere Überlegungen mit einbeziehen, dass den somatischen (materiellen) Anzeichen möglicherweise doch eine Psychodynamik, bzw. seelische Ursache, zugrunde liegen kann, die mit psychologischen Mitteln behandelbar ist.

Alle Symptome nur aus dem Blickwinkel des Materialismus zu betrachten wird oft mit einer geradezu heroischen Haltung – sogar mit Arroganz – verteidigt. Heroisch deshalb, weil damit behauptet wird, dass es über eine rein physische Existenz hinaus nichts gibt. Das macht allerdings ein Leben (auch ein Tierleben) ziemlich sinnlos – und damit vielleicht auch wertlos?

Angesichts der Probleme, die die Überbevölkerung mit sich bringt, angesichts der zunehmenden Ausbeutung und Versklavung unzähliger Menschen in der Welt, ist der materialistische Ansatz (selbst wenn er wahr wäre) nicht zu halten, denn er führt zu  Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Brutalität.

Auch wenn es eine Seele nicht gäbe, so brauchen wir sie doch, damit wir unsere Existenz als sinnhaft begreifen können. Sonst wären wir nur ein zufällig zusammengewürfelter Zellhaufen, der jenseits jeder ethischen Begrifflichkeit verfügbar wäre. Insofern hat der Seelenbegriff eine heilsame Wirkung – ähnlich wie ein Gottesbegriff – ohne den eine halbwegs humane Gesellschaft auf Dauer nicht auskommt.

Literatur und Quellenangabe:

1) (Spektrum der Wissenschaft vom 14.06.2010.)

2) (Verlag Herder, Freiburg, Basel, Wien 2010)

3) (Sternstunden SRF Kultur. https://youtu.be/5fHKK YFUrw) (Homo Deus. C.H. Beck,    2018)

4) (*Lukas 8,48 – Lutherbibel 2017)

5) https://de.wikipedia.org/wiki/Psychophysischer_Parallelismus#Gegenwart

6)  https://de.wikipedia.org/wiki/Monismus

7) (Das Gedächtnis des Körpers. 3. Aufl. 2005. Piper, München)

8) (Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1981, 2. Aufl.)

9) https://www.wissen.de/wortherkunft/seele

Seele die Herkunft dieses auf mhd. s ē le, ahd. s ē (u)la zurückgehenden Substantivs ist unklar; der altgermanische Mythos vom Wasser als Hort der Seelen…)

https://de.wiktionary.org/wiki/Seele

mittelhochdeutsch sēle → gmh, althochdeutsch sēla → goh, weitere Herkunft unsicher; … und die Toten im Wasser: die zum See Gehörende = die Seele.)

10) (Die Pathologie und Therapie psychischer Krankheiten 1845, S. 1)

11)(Berlin 21. April 1928)

12) „Geisteskrankheit und Seele“ (GW 3, §496)

13) (GW 3 § 578)

14)https://www.google.de/search?source=hp&ei=nJ3EW9OaN4LbwQLw15WYBw&q=Seele&oq=Seele&gs_l=psy

Ist das Eigene eine Fiktion?

Anna Schoch

DGPA 2016 Luxemburg     Das Eigene und das Fremde

Ist das Eigene eine Fiktion?

In Amerika sagt man „da ist ein Elefant im Raum“, wenn das eigentliche Thema nicht wirklich angesprochen wird. Der „Elefant“ unserer Tagung ist die aktuelle Flüchtlingsproblematik und die Frage, ob wir durch Einwanderung der Angehörigen einer fremden Religion unsere kulturelle Identität, unsere Eigenart verlieren.

Wir erleben gerade den beispiellosen Einbruch einer fremden Kultur in unsere westliche Gesellschaft die ihren Gott verloren hat und über keine verbindlichen religiösen und moralischen Standards mehr verfügt. Diese Abwesenheit einer  definierten eigenen Kultur und Moral macht uns unsicher gegenüber den muslimischen Völkern, die im Gegensatz zu uns „noch einen Gott in sich tragen“ (Max Weber).

Können wir uns klar gegenüber dem Islam abgrenzen – und – wollen wir das überhaupt? Gerade wegen unserer maroden Glaubenslage sind wir unsicher. Hat das aufgeklärte, christliche Abendland Angst vor Identitätsverlust? Versteht es sich überhaupt noch als christlich? Woraus schöpft es seine Identität?  Es wird öffentlich viel geredet von „unseren Werten“. Es wird aber selten für jedermann verständlich definiert, welche Werte das sind. Die Erklärungen wirken seltsam diffus. „Meinungsfreiheit“ z.B.: Wo hört sie auf? Bei Böhmermann? Wer ist dafür zuständig? Die Medien? Die von interessierter Seite „Lügenpresse“ genannt werden? Es gibt politisch einflussreiche Strömungen, wie z.B. die AntiFa, die sich „deconstruct reality“ auf die Fahnen geheftet haben.  http://deconstructreality.blogsport.eu/selbstverstaendnis/  (5. Okt. 2016).

Es scheint bei ihren Anhängern, als ob die Vernichtung der überkommenen Kultur geradezu ersehnt würde. Folgerichtig entstehen dann ebenso extreme Gegenpositionen mit ähnlich martialischen Vorschlägen aus dem konträren politischen Lager. Dies alles schafft Aufregung. Den Gipfel intellektueller und kultureller Verkommenheit erleben wir gerade beispielhaft im aktuellen US-Wahlkampf. Um der Verunsicherung ein Ende zu bereiten hören wir immer öfter den Ruf nach dem „starken Mann“.

Es lohnt sich deshalb, einmal das politische Tagesgeschehen beiseite zu stellen, und den historischen Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzungen zu betrachten. Der Kampf um das Eigene (die eigene Kultur) gegen das Fremde, in diesem Fall den Islam, begann vor weit mehr als tausend Jahren:

Im 7. Jahrhundert, genauer seit 632, drangen islamische Invasoren, von Arabien ausgehend, in christliche Gebiete ein. Die militärische, teilweise mit Übergriffen verbundene Unterwerfung und Besiedlung durch arabisch-muslimische Eroberer, begann im Nahen Osten und verbreitete sich weiter nach Nordafrika, Italien, Spanien, Portugal usw.. In diesem Zusammenhang sei an Karl Martell und die Schlacht bei Poitiers (732) erinnert, in der er die Araber und Berber vertrieb.

https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzzug  (03.10.2016).

Es folgten die Kreuzzüge, (1096-1396) – nicht immer ein Ruhmesblatt für die Christenheit -. Sie wurden von den Türkenkriegen abgelöst, die seit dem Untergang von Byzanz 1453 durch immer wieder aufflammende Kriege zwischen den Europäischen Staaten bis ins Jahr 1879 andauerten.

Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang der fünfte Kreuzzug des Kaisers Friedrich II. von Hohenstaufen, der in Palermo mit viel arabischem Einfluss aufgewachsen und sehr gebildet war. Dieser Kreuzzug – er wird zum Kreuzzug von  Damiette 1217 gezählt –  der 1221 verlustreich gescheitert war, gestaltete sich ganz anders. Friedrich musste zwar den Kreuzzug wegen des Ausbruchs einer Seuche mehrfach verschieben, schiffte sich aber 1228 ein, ungeachtet der Tatsache, dass ihn Papst Gregor IX gebannt hatte. Er begegnete dem Ayyubiden-Sultan von Ägypten, al-Kamil, mit orientalischem Prunk, so dass dieser auf Augenhöhe mit ihm verhandelte. Friedrich war sich seiner Identität und seiner Selbst als Christ und Kaiser sicher. Er trat dem muslimischen Herrscher gegenüber entsprechend würdevoll auf. Dies blieb nicht ohne Eindruck. So konnte ein diplomatischer Friede ohne Blutvergießen erreicht werden. Friedrich II krönte sich zum König von Jerusalem, ließ aber den Muslimen gewisse Freiheiten, was wiederum dem lateinischen Patriarchen Gerold ein Dorn im Auge war. Er denunzierte Friedrich beim Papst wegen seines angeblich sarazenischen Lebensstils.

Sultan al-Kamil übergibt Friedrich II. (links) die Stadt Jerusalem, rechts an der Kuppel des Felsendoms zu erkennen. (Giovanni Villani, Chronica, 14. Jahrhundert, Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom Cod. Chigi L VIII 296, fol. 75r.)

https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzzug_Friedrichs_II.

Friedrich II von Hohenstaufen ist ein anschauliches Beispiel, wie tief die fremde Kultur in seine eigene eingedrungen war, wie fruchtbar sich diese Vermischung auf sein fortschrittliches Denken und Handeln auswirkte, das nicht nur auf Abgrenzung und Feindschaft setzte.

Die Päpste und die späteren Herrscher im Orient hatten dieses Denken leider nicht. Sie grenzten sich rigoros gegenüber der jeweiligen fremden Kultur ab. Es gab nur Unterwerfung oder Abgrenzung. (Dies war später, nach der Entdeckung Amerikas mit den Süd- und Nordamerikanischen Indianern, Afrikanern und Asiaten nicht anders.)

Das islamisch geprägte Morgenland hat also während eintausend zweihundertsechs-undvierzig (1246) Jahren immer wieder versucht, das christliche Abendland zu erobern. Die islamische und die christliche Religion waren weit über tausend Jahre lang unlösbar feindschaftlich ineinander verkrallt. Das hat tiefe Spuren im kollektiven Unbewussten beider Kulturen hinterlassen. Diese Ängste sollten wir nicht vergessen, wenn wir heute die Flüchtlingsdebatte führen – und wenn wir über das „Eigene“ und das Fremde nachdenken.

Seit dem Untergang von Byzanz (1453) breitete sich das Osmanische Reich nach Norden, Westen und nach dem christlich geprägten Europa aus. Dabei wehrten sich vor allem Venedig, Ungarn und die Habsburgermonarchie mit dem Heiligen Römischen Reich, ebenso Polen-Litauen und ab dem 17. Jahrhundert auch Russland.

Die Kriege gegen das Osmanische Reich (Türkenkriege) leben im Gedächtnis Europas fort. Der Tag des Sieges von Lepanto 1571 (Don Juan d’Austria), ist bis heute als katholischer Gedenktag „Unserer Lieben Frau vom Sieg“ – bzw. später – nach der Schlacht von Peterwardein 1716 unter dem Kommando des Prinzen Eugen von Savoyen, umbenannt in „Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz“. Er wurde in den Römischen Kalender aufgenommen und auf den 7. Oktober festgelegt.

 

Dabei ist nicht schwer zu erkennen, dass – trotz der mehr als tausend Jahre Feindschaft – sowohl das frühe Christen- wie auch das Judentum – auffallende Ähnlichkeiten und Verschränkungen mit der muslimischen Kultur aufweisen. Osman I Gazi, erwies sich gegenüber den orthodoxen Christen als liberaler Herrscher.

https://de.wikipedia.org/wiki/Osman_I.#F.C3.BCrstentum_Osman

Sultan Süleyman I. erweiterte das Reich der Osmanen um ein Vielfaches und begründete den Großmachtstatushttps://de.wikipedia.org/wiki/Osmanisches_Reich#Osman_I.

Die Ära Süleyman I. (1520–1566) wird meist als Höhepunkt der Macht des Osmanischen Reichs betrachtet. https://de.wikipedia.org/wiki/Osmanisches_Reich#Osman_I

Im 15. und 16. Jahrhundert waren Angehörige der orthodoxen Kirche, (Griechen, Bulgaren, Albaner, Serben, Bosnier und Walachen) Verbündete der Osmanen. Ein Schelm könnte fast vermuten, dass das heute noch in den Schwierigkeiten erkennbar ist, die die EU mit diesen Völkern hat.

Das Wahrzeichen Istanbuls ist die Hagia Sofia, eine ursprünglich byzantinische Kirche, die Kaiser Justinian I im 6. Jahrhundert erbauen ließ und die nach der Eroberung von Byzanz (1553) in eine Moschee umgewidmet wurde. Der Kuppelbau wurde sogar prägend für den islamischen Baustil bei Moscheen.

Wenn man die nicht endenden Auseinandersetzungen zwischen Orient und Okzident betrachtet, taucht unwillkürlich (das durch Esoterik etwas abgenutzte Bild von) Yin und Yang auf, das aus dem Taoismus stammt und die unvermeidliche Vernetzung aller Dualität symbolisiert.

Schwarz repräsentiert Yin und weiß steht für Yang. Keine der unterschiedlichen Qualitäten ist unabhängig von ihrem Gegenteil. Jede Seite enthält die andere in

verkleinerter Form. Dieses Wissen ist aber keine rein fernöstliche Errungenschaft. Es findet sich auch in anderen Kulturen, wie z.B. bei Römern und Kelten.

„Das yin-yang-Prinzip ist daher nicht ein gewöhnlicher Dualismus, sondern eine explizite Zweiheit, die eine implizite Einheit zum Ausdruck bringt.“ (Alan Watts )

http://www.sasserlone.de/tag/403/yin-yang/

Um zur Flüchtlingsproblematik zurückzukommen: Brauchen wir vielleicht die andere Kultur, die uns gerade so „befremdlich“ nahe kommt, um das, was unser Eigenes ist,  wiederzufinden? Kann sich Europa erst wieder selbst erkennen, wenn es die eigenen kulturellen Wurzeln wieder ausgräbt, oder sind diese Wurzeln nicht mehr tief genug verankert, um dem fremden Ansturm Stand zu halten? Sicher können wir nur sein, dass unser Eigenes im Fremden, das kommen wird, enthalten ist.

Ist z.B. die Burka nicht ein Sinnbild, eine drastische Antwort auf unsere übersexualisierte, pornographie-geschwängerte Öffentlichkeit? Als Beispiel dazu ein ausführliches Zitat aus dem Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, S. 9, vom 24.04.2014.

Überschrift: „Was Sie noch nie über Sex wissen wollten.“

Achtung, keine Satire: Es folgt eine völlig ernst gemeinte praktische Übung für den Sexualkundeunterricht, wie sie ein erfahrenes Autorenteam aus Professoren und Pädagogen für 15-jährige Schüler vorschlägt: … ‚Der neue Puff für alle‘. Aufgabe: Ein Bordell in der Großstadt soll modernisiert werden, (…). „Allerlei sei zu bedenken, … verschiedene Lebensweisen und verschiedene sexuelle Praktiken und Präferenzen. … Es geht ähnlich haarsträubend weiter: ‘Annäherungen an das Thema Liebesbeziehungen – Altersstufe: ab zwölf Jahren – sollen die Schüler ein Arbeitsblatt ausfüllen. … die den Satz ‚Zur Liebe gehört für mich ….‘ vollenden.“ Auswahl u.a.: „mindestens jeden zweiten Tag miteinander Sex zu haben, die Freiheit mit anderen ins Bett zu gehen und ‚Oralverkehr‘. Was halt so ansteht im Sexualleben der 12-Jährigen. (…) Weiteres Lernziel: ‚Die Jugendlichen sollen Heterosexualität als Norm infrage stellen‘ und bestimmt möchten 13-jährige, so wie auf Seite 151 des Werks vorgeschlagen, im Plenum in frei gewählter Form, – ihr ‚erstes Mal‘ in verschiedenen Bereichen vortragen‘. Dazu sollen sie Kärtchen ziehen: ‚Das erste Mal ein Kondom überziehen, das erste Mal ein Tampon einführen, das erste Mal Analverkehr‘. … Diese Übungen sind keine Extrembeispiele „von ein paar übererregten Sexualpädagogen.“ Schreibt die SZ, Es sind die Ansätze der ‚dekonstruktivistischen Pädagogik‘, zu deren Zielen ausdrücklich die ‚Vervielfältigung von Sexualitäten, Identitäten, Körpern‘, gehört. Es solle ‚auch bewusst Verwirrung und Veruneindeutigung angestrebt werden.‘“ …

Nun ja, wenn von unseren (Sexual)pädagogen als Bildungsziel vereinbart wird, dass (sexuelle) Identität nicht mehr sein darf, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn andere Völker, die sich ihrer Identität und der Zugehörigkeit zu ihrer Kultur sicher sein können, überlegen fühlen. Bei derartiger Erziehung wird das Eigene zur Fiktion; denn psychische Identität wird dadurch erreicht, dass eine Person sich mit etwas identifiziert, z. B. durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einem Staat, einer Religion oder durch die soziale Rolle. Gesellschaftliche Identität und Selbstwert hängen eng miteinander zusammen. Das Eigene kann sich in diesem Milieu nicht mehr als Gegensatz zum Fremden erkennen. Wer wagt es in solchem Umfeld noch auf seiner Eigenart, Meinung zu bestehen?

Luthers Worte am Ende seiner Rede auf dem Reichstag 1521 in Worms: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“ beweist eine innere Gewissheit, die keine andere Autorität anerkennt, als die eigene, die sich in diesem Fall aus der Gottesgewissheit speist. Luther konnte mit dieser inneren Sicherheit und den dazu passenden charakterlichen Eigenschaften seiner Persönlichkeit eine ganze Kirche aufbauen. Man stelle sich vor, Luther träfe heute auf einen Islamisten mit ähnlich felsenfesten Charaktereigenschaften.

Eine Eigen-sinnige, Eigen-ständige Persönlichkeit ist kompliziert und nicht einfach zu steuern. Deshalb wird in den meisten Gesellschaften Unterwerfung statt Emanzipation verlangt. C.G. Jung hat einmal bemerkt: „Die Natur ist aristokratisch.“ – Man könnte den Gedanken weiterspinnen und vermuten: Die Natur verlangt die Herrschaft der Besten, aus denen sich die Identität der ihr Folgenden speist. Ist die Eigenheit von Angehörigen einer Gemeinschaft also nur eine Fiktion? Wird diese Eigenart, bzw. ein bestimmtes Kulturwesen nur durch die Gruppe erzeugt und nur durch die Abgrenzung zum Fremden wahrgenommen?

Martin Buber schreibt: „Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundwortes Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es. Wenn der Mensch Ich spricht, meint er eins von beiden. (…) Ich sein und Ich sprechen sind eins.“ (M. Buber: Ich und Du. Reclam, Stuttgart 2008, S. 4.) Das Eigene ist nicht ohne das Andere zu denken und insofern eine Fiktion, wenn es nicht mit dem Anderen zusammen gedacht wird.

In dem Oskar-gekrönten Film „Still Alice“ (2004) mit dem deutschen Untertitel: „Mein Leben ohne Gestern“, wird gezeigt, dass Alice trotz ihrer Alzheimer-Erkrankung immer noch als die Persönlichkeit erkennbar blieb, die sie einmal unverwechselbar war.

Tatsächlich erkennt man die frühere Persönlichkeit oft auch bei schwerster Demenz wieder, aber wohl nur, wenn man die Person und ihre Eigenschaften vorher gekannt hat. So erinnere ich mich zum Beispiel gern an eine Freundin, die während ihres gesamten aktiven Lebens in der Modewelt zu Hause war. Auch wenn sie nicht mehr sprechen konnte und völlig teilnahmslos wirkte, protestierte sie sofort, wenn Schuhe, und Kostüm nicht zueinander passten. Dazu könnte man unzählige Beispiele geben. Wir sind in unserer Eigentümlichkeit unterscheidbar – auch wenn wir uns verändern; – aber ist unsere Eigentümlichkeit unser Eigenes?

Vielleicht ist der Begriff des Eigenen nur ein eitler Wunsch, eine Fiktion. Auf jeden Fall ist er ein Arbeitsbegriff der gefährlich ist, und schon viele Kriege angestoßen hat. Darum sollten wir mit dem Fremden vorsichtig umgehen. – In einer Reportage von B5 aktuell vom 21.10.16, mit dem Thema: „Für Deutschland gewappnet: im Sprachkurs in der Türkei“, sagte eine begeisterte Deutsch-Studentin sehr treffend: „Man muss die Menschen und die Kulturen kennenlernen um das Leben zu verstehen“. Ich füge hinzu: „…in ihrem eigenen Land …“.

Die Antwort auf die Eingangsfrage, ob das Eigene nur eine Fiktion ist, lautet JA. Nämlich dann, wenn das Eigene hohl geworden ist, denn dann wird es vom Fremden überwältigt und verschwindet darin.

 

Zeittafel über die wichtigsten

Kriege zwischen Muslimen und Christen

(Ohne Anspruch auf Vollständigkeit)

 632 Beginn der arabischen Eroberungskriege gegen Byzanz und die Sassaniden

732 in der Schlacht von Tours und Poitiers besiegt Karl Martell die nach Gallien vorgerückten Araber

1096-1396 Kreuzzüge

1423-1503 Venezianische Türkenkriege bis zum 3. Venezianischen Krieg

1453 Untergang von Byzanz

1522-1523 Belagerung von Rhodos. Die Johanniter hatten dort nach den Kreuzzügen ihren Sitz genommen. Nach der Eroberung durch die Osmanen ließen sie sich 1530 in Malta nieder.

1526-1555 folgte der 1. Österreichische – und der
4. Venezianische Türkenkrieg.

1565 Malta belagert.

1566-1568 der 2. Österreichische Türkenkrieg.

1569 Feldzug des Krimkhanats und des Osmanischen Reichs gegen Astrachan.

1570-1573 der 5. Venezianische Türkenkrieg mit der Seeschlacht von Lepanto.

1593-1606 der „lange“ Österreichische Abwehrkrieg“

1620-1621 der 1. Polnische Türkenkrieg. Polen versuchte auf Siebenbürgen und Moldau Einfluss zu nehmen.

1633-1634 der 2. Polnische Türkenkrieg, in dem die Osmanen zurückgeschlagen wurden

1645-1669 der 6. Venezianische Türkenkrieg, hauptsächlich auf Kreta, das von Osmanen belagert wurde.

1663-1664 der 4. Österreichische Türkenkrieg aufgrund von Spannungen in Siebenbürgen und Oberungarn

1672-1676 der 3. Polnische Türkenkrieg, in dem es um Gebiete in der Ukraine ging.

1676-1681 der 1. Russische Türkenkrieg

1683-1699 der „Große Türkenkrieg“ mit dem

  1. Polnischen Türkenkrieg, dem
  2. Österreichischen-, dem
  3. Russischen-, und
  4. Venezianischen Türkenkrieg.

Damit begann das Ende des Osmanischen Reiches. Österreich wurde Großmacht.

1710-1711 der 3. Russische Türkenkrieg als Teil des 3. Nordischen Krieges

1714-1718 der 8. Venezianische und

  1. Österreichische Türkenkrieg

1736-1739 der Russisch-Österreichische Türkenkrieg mit dem

  1. Österreichischen- und
  2. Russischen Türkenkrieg.

1768-1774 der 5. Russische Türkenkrieg

1787-1792 der Russisch-Österreichische Türkenkrieg mit dem

  1. Österreichischen- und dem
  2. Russischen Türkenkrieg

1806-1812 französische Expedition nach Ägypten, bei dem sich das Osmanische Reich mit den Briten verbündete

1806-1812 der 7. Russische Türkenkrieg (nach dem serbischen Aufstand kam Russland zu Hilfe)

1828-1829 der 8. Russische Türkenkrieg und das Ende des Griechischen  Unabhängigkeitskrieges

1853-1856 gab es den 9. Russischen Türkenkrieg (Teil des Krimkrieges). Frankreich unterstützte die Türken und eroberten Sewastopol, die Walachei und Moldau kamen unter das Protektorat der Westmächte. Das Schwarze Meer wurde entmilitarisiert und die Donauschifffahrt internationalisiert.

1877-1878 schließlich der 10. Russische Türkenkrieg (Balkankrise). Das Osmanische Reich musste sich einem für Russland günstigen Diktatfrieden beugen.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%BCrkenkriege

Geheimnis und Individuum

Anna Schoch

Geheimnis und Individuum

Das Buch „The Circle“ von Dave Eggers1 bekam im Jahr 2014 ungewöhnlich viel mediale Aufmerksamkeit. Thematischer Kern ist der vollkommene Geheimnisverzicht in allen Lebensbereichen. Im Grunde ist der Roman eine Wiederbelebung von Aldous Huxleys2 „Schöne neue Welt“  aus dem Jahr 1931 – George Orwells3 „1984“, das er 1948 schrieb, ist seine düstere Entsprechung.

Es ist beunruhigend, wie wenig wir uns über die Ausspähungen durch allerlei Dienste – ob im Interesse des Staates oder des Konsums – bekümmern. Heftigste Proteste, Hungerstreiks, Straßenkämpfe oder Lichterketten sind Reaktionen auf Stuttgart 21,  Castor-Transporte oder Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften; aber die Ausspähung unserer Privatsphäre, unserer Ortsveränderungen, unserer Kaufgewohnheiten bis hin zu unseren physiologischen Befindlichkeiten, wird erstaunlich klaglos hingenommen oder verdrängt. Das wirft Fragen auf:

 Was ist ein Geheimnis?

Es gibt eine Vielzahl von Begriffen und Assoziationen, die mit dem Geheimnis verbunden sind: Verborgenheit, Enigma, Rätsel, Arkanum, Mysterium, die Kulte im antiken Griechenland oder im alten Ägypten. Christliche Mystik (Hildegard von Bingen, Nikolaus von Kues, Meister Eckhart) – oder auch islamische Mystik (Sufi) und jüdische Mystik (Kabbala) usw..

Ein wichtiger Punkt, der für mediale Dauerempörung sorgt, ist in diesem Zusammenhang der Geheimnisverrat. Judas ist sein Archetyp. Der Verräter gilt seit Urzeiten als das abscheulichste Individuum überhaupt.

Seit Julien Assange (gefangen in der Ecuadoranischen Botschaft in London) und Edward Snowden („gefangen“ in Russland), wissen wir, dass wir in allen Lebensbereichen ausgespäht werden. Heute nennt man das BIG DATA und gerade in unseren Tagen – im Oktober 2015 – wurde das Vorratsdaten-speicherungsgesetz (VDS) in Deutschland verabschiedet. Es besagt, dass personenbezogene Daten gespeichert werden dürfen. Dies sind die

-Standortdaten der Teilnehmer aller Mobiltelefonate bei Beginn des Telefonats (4 Wochen)

-Standortdaten bei Beginn einer mobilen Internetnutzung (4 Wochen)

-Rufnummern, Zeit und Dauer aller Telefonate (10 Wochen)

-Rufnummern, Sende- und Empfangszeit aller SMS-Nachrichten (10 Wochen)

-Zugewiesene IP-Adressen aller Internetnutzer, sowie Zeit und Dauer der

Internetnutzung (10 Wochen).

Entgegen der weit verbreiteten Meinung bedarf es dazu keiner richterlichen Anordnung. Wir werden alle überwacht.4

Dieses Eindringen in die persönlichste Sphäre verursacht Unbehagen, denn „Das Recht auf Privatsphäre gilt als Menschenrecht und ist in allen modernen Demokratien verankert.“5

Bereits in der Antike wurde das Recht auf die private Sphäre des Individuums diskutiert – allerdings galt es nur für die Eliten. Sklaven stand kein Recht auf Privatheit zu. Im Mittelalter konnten sich ebenfalls nur wenige Adelige und reiche Bürger privates Leben erlauben, Mönche hatten in ihren Klosterzellen eingeschränkte Rückzugsmöglichkeiten.

Die Neuzeit brachte eine andere Vorstellung von individuellen Menschenrechten mit sich. Seit der Big-Data-Entwicklung scheinen wir aber eher wieder auf den Stand des Mittelalters zurückgeworfen zu werden. Die Aufzeichnungswut der großen Datenverwerter erlaubt keine Privatheit mehr.

Es gibt zwar Widerstand. Whistleblower wie z.B. Assange oder Snowden versuchen auf das ungeheure Ausmaß der Ausspähungen und den damit verbundenen Bruch der Menschenrechte aufmerksam zu machen, – allerdings ohne Erfolg! Assange, Snowdon und ihren Mitstreitern haftet der Geruch des Verrats an und so bleiben die Reaktionen ambivalent, indifferent oder abwartend.

Dennoch haben wir ein ungutes Gefühl, da wir uns mit jedem Click ins Internet selbst verraten. Wir leben wie auf einer Bühne, auch wenn uns das nicht immer bewusst ist. Wir verändern uns aber auch im Wissen darum, dass ständig jemand mithört, mit bewertet. Wir fühlen uns dadurch diffus bedroht. – Wer weiß schon, wie irgendwann einmal die Daten gegen uns sprechen, wie sie interpretiert werden.

Das Wissen um die digitale Überwachung macht uns vorsichtig. Wir werden eingeebnet, Unterhaltungen werden banaler, die Medien vermeiden anspruchsvolle Themen und damit dreht sich die Spirale unserer Kultur immer weiter nach unten. Wenn man z.B. Literatur, die unter gebildeten Leuten im 18. Jahrhundert verbreitet war und auch lebhaft diskutiert wurde, mit Gesprächen unter den heutigen Eliten vergleicht, dann hat sich das Wort Max Webers bereits erfüllt: „Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.6

Die Entwicklung von Persönlichkeit, eines Selbst, wird auf diese Weise vermieden. Dabei geht von individuierten Menschen ein Geist und eine Energie aus, von dem das Kollektiv profitiert. Eine Gesellschaft, in der man frei denken und handeln darf, besitzt ihr kostbarstes Gut in diesen Menschen. Sie wird sich besser entwickeln, als jedes Land, das mit Bodenschätzen oder Industriegütern reich gesegnet ist. Voraussetzung für die Freiheit des Denkens und Handelns ist ein Konsens darüber, dass diese Freiheit dort endet, wo die eines anderen anfängt.

Das Geheimnis ist also eng mit der Selbstentwicklung verbunden. Sie beginnt in der Kindheit im Alter von etwa acht Jahren und endet eigentlich nie. Wie immer man einen Menschen betrachtet: wenn man seine Würde nicht antasten will, darf man auch seine Geheimnisse, sein Privatleben, nicht berühren. Die Psyche würde so reagieren, als ob sie von Verrätern umstellt wäre.

Im Mittelalter wurde Verrat als Kapitalverbrechen, gleich wie Mord, geahndet. Das bedeutet, dass ein Geheimnis eigene Würde und Wert besaß, obwohl es zu dieser Zeit kaum ein Privatleben gab. Heute sollten wir daran denken, dass sich die Seele nicht so schnell auf modernere Ansichten einstellen kann. Der etwas einfältige Satz „Ich habe nichts zu verbergen“ den man allzu oft hört, wenn man die resignierte Gleichgültigkeit zum Thema Überwachung anspricht, verfehlt die Bedeutung, die der Schutz des Privatlebens für jeden Einzelnen hat.

Ein Geheimnis zu hüten, kann einen hohen Preis fordern, wie z.B. bei Helmut Kohl und seinem Ehrenwort. Man denke an die Paparazzi, die Prominente regelrecht vor sich her treiben. bis zur völligen gesellschaftlichen Vernichtung wie etwa den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff.

König Ludwig II von Bayern schrieb an die Schauspielerin Marie Dahn-Hausmann am 25. April 1876: „Ein ewig Räthsel will ich bleiben mir und anderen.“7. Die geheimnisvollen Menschen, die sich der Öffentlichkeit entziehen, bleiben unsterblich. Es ist immer das Rätsel, das Geheimnis, das uns bannt und interessiert.

Angehörige von Geheimbünden wie z.B. Freimaurer oder Rosenkreuzer versprechen sich Verschwiegenheit. Allein schon deshalb sind sie stark. Ein Geheimnis verbündet, schweißt zusammen, selbst dann, wenn die Zielsetzungen anrüchig sind, wie z.B. bei der Mafia. Aber auch hier haben wir ein Beispiel für die Macht und Energie, die Geheimhaltung mit sich bringt. (Man vermutet sogar, dass der oft als erstaunlich bewertete Machterhalt, der von der Regierung Merkel ausgeht, im hohen Maße von ihrer eigenen Verschwiegenheit und der ihrer engsten Mitarbeiter herrührt.)

Der eigentliche Ursprung der Faszination von Geheimnissen liegt in den religiösen Wurzeln, denen das Geheimnis entstammt. Geheimnisse wecken unwillkürlich Interesse. Es geht ein energetischer Sog vom Geheimnis aus. Man umkreist es, will es „lüften“ – „ent-decken“. Ein Geheimnis ist ein Versprechen, eine Hoffnung, auch eine Befürchtung ein Numen, die Anwesenheit eines gestaltlos Göttlichen8 (Rudolf Otto). Die Mysterienkulte und Orakel der Antike, in Ägypten, die Magier, Auguren, Astrologen und Schamanen hatten durch ihr Geheimwissen Macht; Selbst über Herrscher und Könige.

C.G. Jung9 gibt einen Hinweis auf den Ursprung des Geheimnisbegriffes in seinem Aufsatz „Über die Energetik der Seele“: Nach seiner Auffassung sind die Anfänge der religiösen Symbolbildung mit einem „energetischen Begriff“ verbunden. Sie „zeigen die aller primitivste Vorstellung von einer magischen Potenz, die ebenso wohl als objektive Kraft betrachtet wird, als sie auch subjektiver Intensitätszustand ist“. Zum besseren Verständnis nennt Jung einige Beispiele, die er bei Ethnologen und Anthropologen gefunden hat: Die Dakota nennen diese magischen Potenz oder Kraft: Sonne, Mond, Sterne, Unwetter, Donner und Blitz. Schamanen bezeichnen viele Tiere, selbst Gegenden mit auffälligem Charakter mit „Wakanda“. Diesen Ausdruck könnte man mit „Geheimnis“ wiedergeben – aber er ist zu eng, da Wakanda ebenfalls „Kraft“, „heilig“ „unsterblich“ usw. bedeuten kann. Jung macht darauf aufmerksam, dass es überall in der Welt ähnliche Begriffe gibt, wie z.B. „oki“ bei den Irokesen, „Manitou“ bei den Algonkin, ähnliche Begriffe finden sich in Afrika, Australien und Fernost. Sie haben immer die abstrakte Bedeutung von Kraft oder produktiver Energie.

Jung schreibt: „Das Leben des Primitiven dreht sich sozusagen in allen seinen Interessen darum, diese Kraft (Geheimnis) in genügender Menge zu besitzen. Diese „fast universale Verbreitung der primitiven Energieanschauung“ gilt Jung als Bedürfnis der Menschheit „die Dynamik des seelischen Geschehens anschaulich zu bezeichnen“10. Man denkt unwillkürlich an unseren Ausruf: „Mein Gott!“ – oder „Oh Gott, oh Gott!“ … Das Bedürfnis diese Energie (der Seele) in genügender Menge zu besitzen, erklärt unsere Affinität mit dem Geheimnisbegriff, in dem alles steckt: Mächtigkeit, Macht und Potenz im weitesten Sinn.

Die heutigen Auguren sind Meinungsforscher. Sie sorgen dafür, dass durch genaue Bewegungs-, Kontakt-, Lese- und Einkaufsprofile die Denkgewohnheiten der Bevölkerung vermessen und aufgeschlüsselt werden. Wer weiß, wie das Volk denkt, kann es beherrschen. Das ist eine uralte Weisheit aller Mächtigen.

Heute sind die Gedanken also nicht mehr so frei wie wir immer dachten! Wir verraten durch unser Verhalten mehr, als uns lieb ist. Wir können nichts mehr verbergen, da jederzeit von interessierter Seite auf unser Leben und unsere Vergangenheit zugegriffen werden kann. Wir werden uns also bemühen, ein weitgehend untadeliges Leben zu führen. Früher war es nur der „liebe Gott“, der auf uns blickte und von dem wir Vergebung erhoffen durften, heute kann man sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Späher trotz unserer Schuldhaftigkeit  wohlwollend auf uns blicken. Wer weiß, ob die Big Data-Besitzer im Silicon Valley die Größe haben, die Menschheit ohne Eigeninteresse zu betrachten. Was wissen wir von den eigentlichen Herrschern, von ihren Geheimnissen und Absichten in dieser datengetriebenen Welt?

Dieses Szenario wird schon bei Huxley und Orwell beschrieben. Vielleicht kennt man diese unfreie Wirklichkeit noch aus den Zuständen der DDR oder aus Zeiten der NS-Diktatur. Heute wird der Eingriff ins Privatleben mit „Sicherheit und Gefahrenabwehr“ begründet, – was immer auch darunter zu verstehen ist.

Warum brauchen wir Geheimnisse?

Wer ein Geheimnis besitzt, ist durch dieses Geheimnis vom Kollektiv

(zunächst einmal) getrennt. Diese Trennung ist aber unabdingbar für die Entwicklung zur eigenständigen Persönlichkeit, die aus sich selbst heraus denken, fühlen und handeln kann und nicht in infantiler Abhängigkeit vom Kollektiv lebt.. Andererseits entstehen daraus erhebliche Probleme – sowohl für den Geheimnisträger – wie auch für seine Umgebung. Persönlichkeiten, die sich „ihres Verstandes ohne fremde Hilfe bedienen“11, sind den Mächtigen suspekt. Sie hinterfragen die Obrigkeit. Die aber wünscht sich einfach zu lenkenden Bürger.

Der Gesetzgeber hat dem Bedürfnis nach Wahrung der Privatsphäre Rechnung getragen und bezüglich der Verletzung von Privatgeheimnissen im Strafgesetzbuch entsprechende Paragraphen formuliert12. Es handelt sich also eigentlich um eine öffentliche Aufgabe die Privatsphäre zu schützen. Damit wird ihre Notwendigkeit anerkannt. Diese Gesetze entstanden allerdings noch vor der digitalen Revolution, als der Mensch noch als Individuum respektiert wurde. Dies bringt uns zur Frage nach dem Zusammenhang von Geheimnis und Individuum: Dazu fällt einem sofort Facebook ein, das immer zuerst die Frage stellt: „Was machst Du gerade?“

Wie entwickelt man sich zum Individuum?

C.G. Jung erzählt in seiner Biographie folgende Geschichte: Als Kind, etwa im Alter von 7-10 Jahren, hatte er sich aus einem Stift ein kleines Männlein geschnitzt. Er bekleidete es mit einem Mäntelchen und einem Hut und legte es zusammen mit einem länglichen bemalten Stein in ein Federkästchen. Das versteckte er an einem geheimen Ort im Speicher des Elternhauses. Von Zeit zu Zeit beschrieb er in Geheimschrift (!) kleine Papierröllchen und brachte sie zum Versteck. Dabei hatte er ein feierliches, erhabenes Gefühl. Er hatte sein Geheimnis! Dieses Geheimnis blieb ihm etwa zwei Jahre lang sehr wichtig, danach vergaß er es.

Erst viel später, als er bereits Forschung betrieb und ähnliche geheimnisvolle Verstecke bei primitiven Stämmen fand, fiel ihm sein eigenes Kindheitsgeheimnis wieder ein. Es war eine typische Handlung, die mit seiner Entwicklung und Selbstwerdung zu tun hatte! Durch das Geheimnis vereinzelte er sich und wurde zum eigenständigen Wesen, zum Individuum zur eigenständigen Persönlichkeit13.

 „Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte “Individuation“ darum auch als „Verselbsttung“ oder als „Selbstverwirklichung“ übersetzen.“ 14

Wenn man an unsere mediale Dauerbefeuerung denkt, die eine Entwicklung zum Selbst geradezu unmöglich macht, und vielmehr eine Umgestaltung in eine Kollektivpsyche betreibt, dann wird einem klar, warum es unerlässlich ist, sich zu individuieren, denn das Aufgehen im Kollektiv führt zu Handlungen, die man selbst niemals ausführen würde. Man denke nur an die Veränderungen, die in Menschen vor sich gehen, wenn sie in Diktaturen leben. … Das sind die großen Gefahren, die von Big Data ausgehen. Sie verhindern, dass Persönlichkeiten entstehen, unbeeindruckt vom Mainstream ihr Leben so führen, wie es mit sich selbst verantworten können.

Hatten wir nicht alle in unserer Kinder- und Jugendzeit unsere ganz besonderen Geheimnisse? Haben wir die mit dem besten Freund, der besten Freundin geteilt? Das Tagebuch, das heimliche Versteck? Bestimmte Rituale? Heimliche Lektüre? Schwärmereien, von denen man niemand etwas erzählte? Selbstgespräche? Geheimschriften? Das sind die Vorboten der Entwicklung zum Selbst, zur Persönlichkeit.

Warum ist es so schwer, ein Geheimnis für sich zu behalten?

Wir tragen in uns zwei gleich starke Bedürfnisse, die einander entgegengesetzt sind: Es ist das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Bindung und das Bedürfnis nach Autonomie und Freiheit.

Bei totaler, symbiotischer Zugehörigkeit gibt es kein Geheimnis da man vollständig zu allen gehört. (Das Erfolgsgeheimnis von Facebook, Twitter und Co.).

Beim Bedürfnis nach Selbstentwicklung und Freiheit ist man allein und alles ist Geheimnis.

Wie kann man diesen unvereinbaren Forderungen gerecht werden? Den Konflikt zwischen Zugehörigkeit und Autonomie kennen wir alle.

Haben Sie schon einmal Eltern beobachtet, die mit ihrem Kind, das gerade erst Laufen gelernt hat, spazieren gehen? Das Kind probiert sich aus und läuft, so gut es seine kleinen Beinchen tragen können, den Eltern davon. Nach einiger Zeit bleibt es stehen und vergewissert sich, ob die Eltern noch da sind. Es ist ein beliebtes Spiel, sich von der besorgten Mutter oder dem Vater wieder einfangen zu lassen. – Es kann aber auch sein, dass die Eltern sich nun ihrerseits verstecken und das Kind damit in Verwirrung stürzen. Wenn es sich umdreht, wird es erst nach den Eltern suchen, sind sie längere Zeit nicht zu sehen, könnte es große Angst bekommen und weinen.

In diesem Spiel sehen wir schon den Ansatz zum späteren Konflikt:

Einerseits wollen wir unsere Kräfte und unseren Spielraum ausloten, – andererseits brauchen wir eine sichere Basis, von der aus wir operieren können. Eine Heimat, eine Familie, einen Ort, an den wir immer wieder zurückkehren können.

Ein ständiger Konflikt in Paarbeziehungen! Entweder lebt man symbiotisch zusammen; die Folge ist Langeweile – oder jeder ist nur mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigt und man wird sich fremd – und fühlt sich einsam.

Diese Ambivalenz muss man aushalten können und sich – wie auf einer Brettwippe – um den Mittelpunkt herum etwas hin- und her bewegen. In der Mitte liegt die Lösung!  Geht man nur auf eine Seite, droht Stillstand, der alle Kreativität erstickt. Wer mit diesem Konflikt reifer umgeht und um den Mittelpunkt herum spielerisch tanzend sich bewegen kann, wird sich weit besser fühlen. (Die Darstellung und Lösung dieses Konfliktes würde eine abendfüllende Erörterung verlangen.)

In Richard Wagners15 Oper, singt Lohengrin, Retter der Elsa von Brabant, eindringlich: „Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam‘ und Art!“

Elsa, die ihm für ihre Rettung zutiefst dankbar ist – verspricht: „Nie, Herr, soll mir die Frage kommen!“ – Da singt Lohengrin noch einmal eindringlicher: „Elsa! Hast du mich wohl vernommen? Nie sollst du mich befragen…“. – Später redet ihr die falsche Ortrud ein, dass Lohengrin sicher Gründe hat, seine Herkunft zu verbergen, dass er möglicherweise sogar ein böser Magier sei, der genauso plötzlich wieder verschwindet wie er aufgetaucht ist. – Aus Angst ihn zu verlieren, fragt sie ihn in der Hochzeitsnacht dann doch – und verliert ihn!

Dabei hatte Lohengrin ein gutes Geheimnis: Er war Gralsritter und brauchte sich seiner Herkunft nicht zu schämen.

Richard Wagner hat hier ein immer wieder auftauchendes Problem zwischen Mann und Frau thematisiert. Es sind sehr oft Frauen in den alten Geschichten, den Märchen und Sagen, die ihre Neugier nicht zügeln können und dadurch Geheimnisse aufdecken. Dadurch richten sie meist Unheil an. Woher kommt dieses Vorurteil? Es hat möglicherweise mit Existenzängsten, der schwachen Stellung der Frau und ihrer damit verbunden Unsicherheit zu tun. Eine in sich ruhende Persönlichkeit muss nicht schnüffeln, sie hat genug Vertrauen in sich und die Welt, so dass sie den Dingen, die da kommen ruhig entgegen sehen kann. Wer unsicher ist, muss spionieren, ausspähen. Dies gilt natürlich auch für die Politik: Je unsicherer das Regime, umso umfassender sind seine Geheimdienste.

Warum ist es so schwer, ein Geheimnis zu bewahren? – Weil allein schon durch das Wissen um die Existenz eines Geheimnisses, die gesamte Umwelt in Erregung versetzt. Das Wissen um ein Geheimnis verlangt gebieterisch nach Aufklärung.

Der gewichtigere Grund, ein Geheimnis preiszugeben, aber ist der dringende Wunsch, “dazu“ zu gehören. Der Mensch ist ein auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen. Insofern wird uns die Vereinzelung, der wir durch den Geheimnisbesitz ausgesetzt sind, immer auch schwer belasten.

Es gäbe keine Geständnisse – weder bei Gerichten noch privat – wenn dieser Druck nicht existierte.

Das Beichtgeheimnis der römisch-katholischen Kirche16 ist unverletzlich. Die direkte Verletzung desselben wird mit Exkommunikation bestraft. Rechtsgeschichtlich handelt es sich hier um eine der ältesten Datenschutzvorschriften!

Auch die evangelischen Landeskirchen haben das Beichtgeheimnis zu beachten. Die Beichte hilft den Druck des Ausschlusses von uns zu nehmen; vorausgesetzt, man erhält Absolution.

Jedem Geständnis geht ein schwerer innerer Kampf voraus. Ein Geheimnis mit sich „herumzuschleppen“ – das Wort zeigt uns genau, was es damit auf sich hat – kann tatsächlich die Körperhaltung verändern. Von dieser Last möchte man sich befreien, damit man wieder aufrecht gehen kann. Das Geständnis führt zurück in die Gemeinschaft, selbst wenn sie die schwersten Strafen verhängt.

Was sollten wir dem jeweils anderen an Geheimnissen zugestehen?

Von Ephraim Kishon17 ist folgendes Bonmot verbreitet: „Es kommt im Leben jedes Mannes einmal die Stunde der Wahrheit der man sich stellen muss: Dann hilft nur eines: lügen, lügen, lügen!“ Das könnte sogar sehr ratsam sein, denn nicht jede Beziehung hält die ganze Wahrheit aus.

Wir müssen unsere Geheimnisse in die eigene Verantwortung nehmen. Das kostet zwar etwas Nähe, andererseits fühlen wir in uns in dieser Einsamkeit* auch stolz und – durch unser Wissen um etwas – erleben wir uns als Individuum als ein unteilbares Ganzes. Wir erlangen dadurch eine spürbare Würde.

*(das Wort „einsam“ drückt das „Eins sein mit sich zusammen“ sehr gut aus)

Manche Geheimnisse wirken wie tödliches Gift, wie z.B. langjährige Untreue, verschwiegene Erkrankungen, Suizide, Missbrauch, existenzgefährdende Schulden, außereheliche Kinder, schwerwiegende Vertrauensbrüche.

Daneben gibt es aber andere Geheimnisse, die wir alle kennen: Gedanken, die wir für uns behalten, Träume, Pläne, Fantasien – und unser Intimleben. Sie gehören nur uns. Sie sind wichtig für unsere Integrität und Individualität. Um sich selbst bleiben zu können, brauchen wir einen inneren Raum der nur uns gehört.

So möchte ich am Ende meiner Ausführungen aus der Oper „Iphigenie auf Tauris“ von Christoph Willibald Gluck19 zitieren:

Orest sagt zu Iphigenie die unvergleichlichen Worte:

„Ich ehrte dein Geheimnis – du forsche nun nichts mehr!“1819

Literaturverzeichnis:

1Eggers, Dave (2014, 2. Aufl.): Der Circle. Köln: Kiepenheuer & Witsch

2Huxleys, Aldous (1932): Schöne neue Welt. Frankfurt am Main, Mai 2012: S. Fischer Verlag

 3Orwell, George (1949), (2013, 36. Aufl.): 1984. Berlin: Ullstein Verlag

4https://de.wikipedia.org/wiki/Vorratsdatenspeicherung(letzter Zugriff: 25.10.2015)

5https://de.wikipedia.org/wiki/Privatsph%C3%A4rehttps://de.wikipedia.org/wiki/Privatsph%C3%A4re (letzter Zugriff: 25.10.2015)

6Weber, Max (1.-8., photomechan. gedr. Aufl. – 1986): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: J.C.B. Mohr 1920, S. 204

7von Böhm, Gottfried (1924): Ludwig II. König von Bayern. Sein Leben und seine Zeit. Berlin: zweite, vermehrte Aufl. S. 438).

https://de.wikiquote.org/wiki/Ludwig_II._von_Bayern

8 Otto, Rudolf https://de.wikipedia.org/wiki/Numen (letzter Zugriff: 25.10.2015)

 9Jung, C.G. Die Dynamik des Unbewussten. Über die Energetik der Seele. GW 8, § 114-120, 2. original gemäß rev. Aufl. 1976. Walter-Verlag Olten (1971)

10Ebd. § 116

11 Kant, Immanuel Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift, 1784

https://de.wikipedia.org/wiki/Beantwortung_der_Frage:_Was_ist_Aufkl%C3%A4rung%3F (letzter Zugriff 16.12.2015)

Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung. 1784. (Büchmann, Gg.: Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz. 39. Aufl. Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin 1993, S. 330).

12Strafgesetzbuch 15. Abschnitt – Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs §§ 201-206)

http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/BJNR001270871.html (letzter Zugriff: 16.12.2015)

13Jaffé, Aniela: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. 6. Aufl. 1988, S. 27-30. Walter-Verlag Olten, 1971)

14Jung C. G., GW 7, Zwei Schriften über analytische Psychologie: 5. Die Funktion des Unbewussten. § 266, 4. vollst. rev. Aufl. 1989 Walter–Verlag Olten 1971

15Wagner, Richard Oper (1983): „Lohengrin“. 1. Aufzug, 3. Szene. Seite 21. Reclam. Universal-Bibliothek Nr. 5637

16 Kirche, Römisch-katholisch(can. 983§ 1 CIC)

https://de.wikipedia.org/wiki/Beichtgeheimnis (letzter Zugriff: 16.12.2015)

17 Lisa Kishon-Witasek (2012) Geliebter Ephraim. München: Langen Mueller Herbig

18Bd. Vermischte Schriften – Google Books-Ergebnisseite

https://books.google.de/books?id=YnA5AAAAMAAJ

Johann Baptist von Alxinger, ‎Florian – 1812

Iphigenie Nun wohl denn — Grausamer! erfülle deinen Wunsch. Orestes (zu … Ich ehrte dein Geheimnis;; Du forsche nun nichts mehr. Pylades. Wohl, ich will … (Letzter Zugriff: 29. 12. 2015)

19 Gluck, Christoph Willibald, Oper Iphigenie auf Tauris, Uraufführung 1779, Paris

https://de.wikipedia.org/wiki/Iphig%C3%A9nie_en_Tauride

https://www.google.de/#q=ich+ehrte+dein+Geheimnis (Letzter Zugriff: 19.12.2015)

Eros – in unseren Zeiten? Eine Polemik

DGPA Wien 24. – 27. Oktober 2013 Sexus und Eros

Anna Schoch

Eros – in unseren Zeiten? Eine Polemik

Die Götter der griechischen Mythologie sind eigentlich Personifikationen von Motiven bzw. Energien oder Kräften die in uns wirken. Dieses Prinzip würde C. G. Jung wohl Archetypen [1] nennen. Jeder Gott steht für eine wichtige oder schicksalhaft erlebte Lebenssituation, mit der wir uns alle irgendwann einmal auseinandersetzen müssen. (Parallelen zum Heiligenhimmel sind unübersehbar.) Heroen sind die sterblichen Untertanen dieser Götter. Ihr jeweiliger Mythos gibt uns Kunde davon, welche Folgen Widerstand gegen ihren Willen oder ihre Launen hat. Ein anschauliches Beispiel bietet Goethe im Gedicht „Prometheus“. Es handelt von der mythischen Zeit, in der Heroen noch persönlich mit ihren Göttern verkehrten; ganz ähnlich wie im Alten Testament. C.G. Jung beschreibt in seinem Buch „Antwort auf Hiob“ diesen launischen Gott, der den archaischen Göttern ähnelt, und erst durch die Emanation von Jesus eine Weiterentwicklung erfährt.

Hesiod, der etwa um 700 v. Chr. als Dichter und Philosoph in Alexandria lehrte, versuchte erstmals einen Stammbaum der griechischen Götter zu erstellen. Darauf bauten die späteren Geschichtsschreiber und Dichter auf. Aus dem Chaos entsteht die erste Göttergeneration: Gaia/Erde, Tartaros/Unterwelt, Eros/Liebe, Erebos/Finsternis und Nyx/Nacht. Eros, die Liebe ist also einer der ersten und damit bedeutungsvollsten Götter.

In der Komödie „Die Vögel“ von Aristophanes (414 v.Chr.) schlüpft Eros aus einem Ei, das die schwarzgeflügelte Nacht gelegt hat. Eros hat aber goldene Flügel und zeugt mit Chaos das Geschlecht der Vögel. Die Flügel verweisen auf die geistige Dimension der Liebe. (Vielleicht sind auch die vulgär-erotische Anspielungen aus diesem Bild entstanden)

Sophokles thematisiert in der Tragödie „Antigone“ den Konflikt zwischen erotischem Begehren und Loyalitätspflichten. Eros veranlasst Haimon, den Sohn des Kreon, sich gegen Antigones Hinrichtung aufzulehnen. Eros wird in dieser Dichtung als „unbesiegt im Kampf“ angesprochen. Damit wird die Überzeugung ausgedrückt, dass der Mensch der Macht des Eros vollkommen ausgeliefert ist.

Auf diese Genealogie müssen wir uns besinnen, wenn wir die aktuellen Aspekte des Eros-Begriffes betrachten wollen. Von Voluptas, der Tochter von Amor und Psyche war zunächst noch keine Rede im Mythos. Die Begierde und die mit ihr verbundene Hoffnung auf Wollust stammen aus einer sehr viel späteren erweiterten Göttererzählung. Heute scheint vom göttlichen Flügelschlag nichts mehr vorhanden zu sein. Wohin hat sich unser Verständnis von Eros entwickelt?

„Die lächerliche und beinahe krankhafte Übertreibung des sexuellen Gesichtspunktes ist an sich ein Symptom einer zeitgenössischen geistigen Störung, die hauptsächlich auf der Tatsache beruht, dass unsere Zeit kein richtiges Verständnis der Sexualität besitzt (…) In Wirklichkeit könnte keine moralische Verurteilung die Sexualität so verhasst machen, wie die Obszönität und die verblendete Geschmacklosigkeit ihrer Überschätzung. Die intellektuelle Plumpheit der sexualistischen Deutung verunmöglicht sogar eine richtige Wertschätzung der Sexualität (…) Vor Freud durfte nichts sexuell sein, jetzt ist alles auf einmal sozusagen „nichts als“ sexuell.“ (Jung, GW 17,100)

 Bei Antigone zum Beispiel, wie in unzähligen anderen Tragödien, bei denen nicht der Inhalt, sondern nur das Zeitalter wechselt, wird immer wieder der Konflikt zwischen Pflicht und der unbezwingbaren Macht der Liebe thematisiert. Liebe zwingt zum Ungehorsam und stellt Loyalitäten in Frage. Liebe entfaltet ungeahnte Kräfte, beflügelt den Geist und regt zu Höchstleistungen an. Eros symbolisiert nicht nur die sinnliche Liebe, sondern auch die Liebe zum Geistigen. Er verlangt nicht nur Freiheit für die Liebe sondern auch die Freiheit sich be-geistern zu dürfen. Es sind die goldenen Flügel, die einen davontragen.

In trockener psychiatrischer Diagnose könnte man dieses Ereignis einfach in den Bereich der „Affektiven Störungen“, ICD10 F30.0 bis F30.2 von „Manie“ – bis „Manie mit psychotischen Symptomen“ einordnen. – Aber wir sollten nicht vergessen, welch großartige Werke in diesem Zustand geschaffen wurden. Man denkt dabei auch unwillkürlich an Csikszentmihálys „Flow“.

In der heutigen Zeit scheint die Allmacht der alten Götter gebrochen zu sein. Wir verlachen sie als Hilfsmittel um unser Schicksal zu bebildern. Wir halten es für absurd, in Dialog mit den archaischen Götterbildern zu treten, dabei wäre das oft sehr hilfreich. „Die Seele ist von Natur aus religiös“, schreibt Aniéla Jaffé in der Einleitung zu Jungs Erinnerungen. Die Abweichung von dieser Grundnatur ist nach C. G. Jung die Ursache vieler Neurosen; besonders im späteren Alter. Dieses Manko ist in unserer Zeit eklatant. Wir glauben, wir könnten alles nach vernünftigen Grundsätzen steuern – und dann stellen wir fest, dass sich vernünftige Menschen ruinieren, wenn sie Amors Pfeil getroffen hat und trotz besseren Wissens ihre gesamte Aufmerksamkeit (nicht selten zum Entsetzen der Angehörigen) auf eine völlig unpassende Person richten und alle Bindungen leugnen. Überkommene gesellschaftliche Normen und Strukturen sind zusammengebrochen. Nicht nur Monarchien, die sich von „Gottes Gnaden“ her legitimierten, sondern auch unsere bürgerliche Gesellschaft ist am Ende. Wir stehen ratlos und leer da, seit der religiöse Rahmen zerbrochen ist. Desorientiert, ohne Werte, ohne gesellschaftlichen Konsens darüber, wie wir uns verhalten müssen, wie wir mit unserem Schicksal umgehen können. Wir haben den großen Gott Eros auf Sexualität (im Mythos seine Tochter Voluptas) reduziert. Wir sind zügellos, aber nicht glücklicher geworden.

Wenn wir beobachten, was sich heute im Internet tut, wenn wir aufhören wegzuschauen und wissen wollen, was unsere Kinder und Enkel dort treiben, werden wir schockiert feststellen: Das haben wir nicht gewollt! Eros? Eine göttliche Macht? Wo ist der Gott der Liebe geblieben? In einer Gesellschaft, in der bereits über 80% der 14- bis 24-jährigen jungen Menschen sexuelle Kontakte über das Internet hergestellt haben, ist Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Die Seelen der Kinder, der jungen Menschen, die glauben mithalten zu müssen, sind trostlos leer. Kinder und Jugendliche reagieren nur noch mit blankem Zynismus. Wir haben „Erotikmessen“ die mit der göttlichen Macht des Eros ungefähr so viel zu tun haben, wie eine holländische Erdbeere, die auf einem mit Nährstoff getränkten Vlies produziert wurde, mit der aromatischen Waldfrucht (sic!). Wir haben so genannte seriöse Nachrichtenorgane, die im Viertelstundentakt, pornographische Inhalte als Nachrichten verkleidet ins Netz stellen. Ein Verweis z.B. nur auf den Medienrummel um den Film „Feuchtgebiete“ oder „Schoßgebete“ dürfte stellvertretend für unzählige ähnliche Machwerke genügen. Religiöse Inhalte, Ekel und Sexualität der untersten Pornoklasse werden gern vermengt und als großer Spaß vermarktet. Was ist daran falsch, wenn es alle machen? Millionen Fliegen können bekanntlich nicht irren.

„Ich bezweifle nicht, daß die Naturtriebe sich im seelischen Gebiete mächtig entfalten, sei es der Eros oder sei es der Machtwille, ich bezweifle aber auch nicht, daß diese Triebe gegen den Geist anstoßen, denn gegen etwas stoßen sie immer an, und warum soll dieses Etwas nicht Geist genannt werden?“ (Jung, GW Bd.4, §776)

Vom echten Eros ist heute keine Rede mehr. Er ist aus dem Bewusstsein verschwunden, zerredet, verkauft, vermarktet. Dabei wird der Liebesgott doch so sehr herbei gesehnt. In jedem Mega-Orgasmus, den man mit dieser oder jener Steigerung der sexuellen Erregung zu erreichen glaubt, erhofft man sich nichts anderes, als die Erfahrung von Entgrenzung und Göttlichkeit. Man weiß sehr wohl, dass man sich dieses Erlebnis nicht kaufen kann, versucht es aber doch immer wieder. Die Werbung dafür ist zu ideenreich und das Geschäft zu lukrativ, um diese Illusion nicht weiter zu nähren versuchen. Es sind Verirrungen, weil man sich innerlich leer fühlt. Leidenschaft findet bestenfalls noch in alten Filmen oder Dramen statt. Aus dem Internet kommen im Minutentakt verlockende Angebote, die Hoffnung wecken, das große Erlebnis könnte sich über die vorgestanzten Liebesanpreisungen einstellen. Der wirkliche Gott verlangt Demut und Hingabe; Eigenschaften, die dem modernen Homo faber bzw. –oeconomicus fremd sind.

Die Vertreibung des ehrwürdigen Gottes Eros hat aber noch andere Folgen: Mit der Entzauberung der Welt (M. Weber) hat sich auch die Schönheit verabschiedet und Hässlichkeit auf allen Gebieten ausgebreitet. Wir haben uns von unserem Begriff von Schönheit, für den die Göttin Aphrodite steht, weit entfernt. Dies bleibt nicht ohne Folgen für unsere innere Befindlichkeit. Das Lob der Schönheit von Ebenmaß und Gesetzmäßigkeiten ist verpönt. Disharmonie ist in der zeitgenössischen Kunst ein Muss. Schönheit und Harmonie sind nicht rein subjektive Werturteile sondern sinnlich erfahrbare Tatsachen, die eine beruhigende und heilende Wirkung entfalten. Der Verbrauch unserer natürlichen Umgebung nach rein nützlichen Erwägungen, die Abscheulichkeit moderner Städtearchitektur, die gleichförmigen „Designer-Wohnungen“, deren Hauptmerkmal fade Farbgebung und Leere ist, erzeugen Stress und Aggression, verderben die Laune und Lust am Leben. Es sind meist politische Ideologien, die alles Erhabene, alles über die Banalität des Alltags hinausgehende, aus dem öffentlichen Erscheinungsbild ausmerzen wollen. Ein Beispiel ist die Kulturrevolution in China, in der unwiederbringliche Kunstwerke zerstört wurden. Politiker haben immer die Definitionsmacht für alles was im öffentlichen Raum als schön oder hässlich zu gelten hat, an sich gerissen. Dies war schon im alten Ägypten so, als die Tempel der thebanischen Götterdreiheit Amun, Mut und Chons durch Pharao Echnaton beseitigt wurden. Stattdessen wurde Aton, der Sonne, als höchstem Gott gehuldigt.

In unserer Zeit sprengten die Taliban uralte Buddha-Figuren und die DDR-Regierung das Berliner Schloss, Die IS-Truppen zerstören antike Tempel und Statuen um jede Erinnerung an die vorherigen Kulturen auszulöschen. Damit wird der Sieg über die vorhergehende Macht mit einer neuen Gewalttat dokumentiert, die bekanntlich – wir kennen dieses Gesetz aus Schillers Wallenstein – „fortzeugend, immer Böses muss gebären.“

Als die Menschen noch mit sich und den Göttern in Harmonie lebten, entstanden die größten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte. Wir sind bis heute noch nicht über die ägyptischen, hellenistischen oder gotischen Tempel- und Kirchenbauten hinausgekommen. Es hilft selbst die gewagteste moderne Architektur nicht, wenn der göttliche Funke fehlt. Sie kann nicht jenen religiösen Schauer in uns erzeugen, den wir beim Betreten einer alten Kathedrale empfinden. Um solche Bauwerke errichten zu können, brauchen wir die Liebe des geflügelten Eros, den Mut zu und die Demut vor einer weit höheren Macht.

„Die viel geschmähten und verdächtigen Ästheten verfügen über eine schreckliche Gabe, die äußere Gestalt einer Sache, eines Vorganges, eines Gedankens enthüllt ihnen mit Sicherheit die innere Wahrheit des Angeschauten.“ (Mosebach)

Was hat das alles mit unserer Anschauung von Erotik in unseren Zeiten zu tun? Wir haben unseren Eros ebenso verloren wie unsere Götter. Wir sind hilflos und orientierungslos unseren Emotionen ausgeliefert und wir glauben, wir könnten durch möglichst häufige, rein physische Triebabfuhr, das Dilemma lösen. Die Folge ist seelische Verrohung. Der Gott der Süchte hält unsere Physis aufrecht. Unsere Verzweiflung bekämpfen wir mit Antidepressiva, unsere Hilflosigkeit ertränken wir in Alkohol – unsere wirklichen Bedürfnisse verleugnen wir.

Es gibt eine Therapeutenregel, für scheinbar aussichtslose Situationen: Man muss den Mut haben, den Patienten so weit in die Verzweiflung zu treiben, bis er selbst eine Lösung anbietet. Ein unbequemer Rat, der nicht gern befolgt wird, weil es sicher irgendwo wieder eine angeblich schmerzfreie Lösung zu kaufen gibt. Man kann die Verzweiflung allerorten erkennen, gerade in Arztpraxen und Kliniken, dennoch machen wir alle wie gewohnt, weiter. All die Freizügigkeit hat ja auch ihre fröhlichen Seiten; – bis das eigene Kind im Alkohol- oder Drogenkoma aufgegriffen, oder mit einer schweren Geschlechtskrankheit konfrontiert wird.

Seit der Zusammenhang von Sexualität und Fortpflanzung entkoppelt wurde, ist die gesamte Wertewelt die den Umgang der Geschlechter miteinander regelte, aus den Fugen geraten. Man kann die Geschlechterspannung nicht durch Gleichmacherei weg diskutieren. Sie bleibt eine Tatsache und hat nichts mit den Emanzipationsbemühungen der Frauenbewegung zu tun. Einerseits wirken in uns noch die Wertvorstellungen des 19. Jahrhunderts. (C. G. Jung: „Die Seele ist konservativ.“) – andererseits leben wir in einer ganz anderen Wirklichkeit. Wir wünschen uns für unsere Töchter einen tüchtigen Mann und für unsere Enkelkinder verlässliche Eltern. Dabei hält heute kaum noch eine Ehe für ein ganzes Leben. Selbst in Kirchen wird das Versprechen „bis zum Tode“ nicht mehr unbedingt abgenommen. Scheidung und Trennung werden einkalkuliert. Die alten Modelle halten nicht mehr – und selbstverständlich ist der Seitensprung eher eine lässliche Sünde. Früher war er ein Sakrileg, das die existentielle Vernichtung zur Folge hatte. Man muss nur bei der Nachbarin muslimischen Glaubens nachfragen.

Sexualität, darin hat Sigmunds Freud Recht behalten, wurde tatsächlich eine Art von Religionsersatz im 20. Jahrhundert. Aber sie ist eben nur der Ersatz und nicht das Original. Wir wünschen uns immer noch das „Mysterium tremendum“ (Rudolf Otto), das Numinose, das mit Ergriffenheit aber auch Ambivalenz, Angst und einem Schauder einhergeht, wenn ein Mensch vom Gott Eros berührt wird. Der Mythos bleibt. Er wird immer wieder mehr oder weniger verschämt in Filmen oder Romanen neu interpretiert werden – und die Leute werden applaudieren, auch wenn sie nicht wissen warum; aber doch etwas ahnen. Der Mythos wird nie ganz erlöschen, denn einen Gott kann man nicht wegdiskutieren. Er gehört zur Menschheit. Es sei denn man vernichtet die Menschheit, die – zumindest im Westen – zu dem verkommen ist, was Max Weber als „Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz“ beschrieben hat. Davor wird uns – so hoffe ich – der goldgeflügelte Gott Eros bewahren, oder – wie Weber vermutet: „…ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale …“.

Eros ist ein Urinstinkt, eine Grundlage des Lebens. Wir sollten nicht leichtfertig damit umgehen. Was immer es ist, ob archaischer Trieb oder numinose Macht – oder Beides: Er bleibt eine „condition humaine“ – genau genommen sogar eine condition biologique – die unseren Respekt verdient. Keine Angelegenheit für Geschäftemacher und Marktschreier. Auch wenn der alte Journalistenspruch „Sex sells!“ stimmt. Sex verkauft sich, weil alle Konsumenten hoffen, etwas über die eigenen Sehnsüchte zu erfahren. Eros ist noch nicht im Bezahlfernsehen angekommen. Seine Kommerzialisierung ist so absurd, wie Atemluft zu verkaufen.

Weil dies so ist, wurde zu allen Zeiten der Verkauf von Lebensgrundlagen als obszön empfunden. Daran können auch mehr als hundert Jahre Sigmund Freud nichts ändern, der diese Entwicklung sicher nicht so gedacht hatte. Er betrachtete seine Lehre ja als die zukünftige Religion. Wenn das so ist, dann sollte man ihr einen Tempel bauen, aber bitte keinen Marktplatz!

Literatur:

Csikszentmihályi, Mihaly: Optimal experience: studies of flow in consciousness. Cambridge University Press 1988
Goethe, J. W.: Prometheus
Mosebach, Martin:. Die Häresie der Formlosigkeit. S. 24. dtb München 2012
Schiller, Friedrich: Wallenstein. Die Piccolomini, V,1/Octavio Piccolomini)
Weber, Max:. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1. Aufl 1920, Bd. I, S. 204

 

(1) „…Nichts hindert uns anzunehmen, dass gewisse Archetypen schon bei Tieren vorkommen, dass sie mithin in der Eigenart des lebendigen Systems überhaupt begründet und somit schlechthin Lebensausdruck sind, dessen Sosein weiter nicht mehr zu erklären ist. Die Archetypen sind, wie es scheint, nicht nur Einprägungen immer wiederholter typischer Erfahrungen, sondern zugleich auch verhalten sie sich empirisch wie Kräfte oder Tendenzen zur Wiederholung derselben Erfahrungen. Immer nämlich, wenn ein Archetypus im Traum, in der Phantasie oder im Leben erscheint, bringt er einen besonderen „Einfluss“ oder eine Kraft mit sich, vermöge welcher es numinos, resp. faszinierend oder zum Handeln antreibend wirkt.“ (Jung, GW 7, § 109)

(2). „Bedecke deinen Himmel, Zeus, – Mit Wolkendunst! – Und übe, dem Knaben gleich, – Der Disteln köpft, – An Eichen dich und Bergeshöh’n! – Mußt mir meint Erde – Doch lassen steh’n – und meine Hütte – Die du nicht gebaut, – Und meinen Herd, – Um dessen Glut – Du mich beneidest. …“ …

Die problematischen Aspekte der Empathie

Anna Schoch

DGPA-Tagung Neuhardenberg 2012

Die problematischen Aspekte der Empathie

Der Begriff „Empathie“ ist grundsätzlich positiv besetzt.

Paul Ekman, der prominente Emotionsforscher, versteht Empathie als Reaktion auf die Gefühle Anderer. Er unterscheidet kognitive Empathie, die uns erkennen lässt, was ein Anderer fühlt, gegenüber der emotionalen Empathie die die Fähigkeit verleiht, zu fühlen was ein Anderer fühlt.

Theodor Lipps hat schon 1902 „Einfühlung“ als intrapsychischen Prozess bezeichnet und die These von einem „menschlichen Zwang zur motorischen Nachahmung“ entwickelt.

Nach dem Toronto Questionnaire von N. Spreng et al. (J. of Personality Assessment, 91, 2009) ist Empathie eine messbare Schlüsselkompetenz. Es wird unterschieden, nach kognitiver Empathie, die dazu dient, das Verhalten Anderer zu verstehen und vorherzusagen – und emotionaler Empathie, die es ermöglicht, dass wir sowohl mitfühlen, wie auch nachempfinden können. Damit schaffen wir die Basis für gute Beziehungen.

Selbstverständlich ist Empathie für das Leben in der Gemeinschaft unerlässlich. Sie hilft uns die Qualität unserer Beziehungen einzuschätzen. Entsprechend können wir unseren Umgang gestalten. Alles was wir erleben, erfahren, lernen und beobachten, hat im weitesten Sinn mit Beziehungen zu unseren Mitmenschen, sogar zu den uns umgebenden Tieren zu tun.

Arthur Ciaramicoli unterscheidet zwischen authentischer und funktionaler Empathie, die manipulative, ausbeuterische Zwecke verfolgt. („Der Empathie-Faktor“, 2001, 2001, S. 206). Diesen Punkt halte ich für beachtenswert, trotz aller Wertschätzung für eine empathische Grundhaltung.

Empathie hat eine neurobiologische Entsprechung: Die Spiegelneurone. Nach Joachim Bauer steuern Gene nicht nur unser Verhalten, Gene werden auch durch äußere Einflüsse gesteuert. Dadurch verändern sich neuronale Strukturen. Hier tritt wieder die alte Frage nach dem Anteil von Anlage und Umwelteinflüssen auf. Die Funktion der Gene betrifft zwei Aspekte, wobei der zweite Aspekt mit empathischen Erleben zu tun hat:

  1. Die DNS-Sequenz geht in die Erbfolge – gewissermaßen als Text – ein und ist somit fest gelegt.
  2. Die Gene regulieren die Genaktivität für alle gesunden Körperfunktionen. Dabei regulieren die situatitiven (!) Einflüsse ihre Grundaktivität. In diesem Fall ist Vererbung nicht so wichtig. Bestimmte, genetisch programmierte Reaktionsmuster können durch positive oder negative Erlebnisse verändert werden. Solche Auswirkungen ergeben sich aus fördernden oder belastenden Beziehungen. Dies würde bedeuten, dass Emotionen, die aus und durch Beziehungen entstehen, biologische Signale geben, aus denen neuronale Veränderungen im Cortex entstehen. Somit ließe sich das Gehirn auch als „soziale Konstruktion“ begründen (Leon Eisenberg). Dies bedeutet, dass wir durch die Gestaltung unserer Beziehungen entscheidend daran mitwirken, was sich biologisch in uns und bei unseren Mitmenschen abspielt. Denn diese Wechselwirkungen beruhen auf empathischem Miterleben.

Giacomo Rizzolatti und seine Arbeitsgruppe aus Parma haben vor gut 20 Jahren die Spiegel-Neurone (mirror-neurons) entdeckt (Bauer). Über die Spiegel-Neurone kann man sich das, was man bei anderen Menschen beobachtet so (hin-)einprägen, dass wir das Beobachtete in uns selbst fühlen.

Man denke an eine Mutter, die zusehen muss, wie sich ihr Kind verletzt. Sie wird den Schmerz bei sich an derselben Stelle spüren. In der Interaktion kann sich das Malheur auf diese Weise sogar aufschaukeln, denn die Mutter könnte die Verletzung des Kindes mit ihren eigenen Ängsten derart verschränken, dass sie das Unglück weit stärker in sich fühlt, als es angemessen wäre.

Die emotionalen Ansteckung kann man aber auch in anderen Situationen gut beobachten: Eine fröhliche Runde kann durch einen übel gelaunten Dritten sofort gesprengt werden. Die Stimmung schlägt radikal um.

Dazu fällt mir ein weit zurückliegendes Erlebnis ein, das ich mir längere Zeit nicht erklären konnte:

Eines Abends, als ich mit dem Auto auf dem Heimweg war, wurde ich Zeuge eines schweren Verkehrsunfalls. Die Rettungskräfte waren schon zur Stelle. Ich fuhr vorbei und versuchte von dem schrecklichen Geschehen möglichst wenig Notiz zu nehmen. Am folgenden Morgen fuhr ich wieder in die Stadt und musste mit ansehen, wie auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Auto in einen, mit überstehenden Stahlbändern beladenen, Lastwagen gefahren war. Die Polizei war bereits vor Ort. Der verunglückte Fahrer wurde, so stand es zwei Tage später in der Zeitung, buchstäblich geköpft. – Auch diesen Vorfall glaubte ich – so gut es ging – ausgeblendet zu haben. Aufgrund meiner Kurzsichtigkeit verließ ich mich darauf, alles nur ganz vage wahrgenommen zu haben. Es waren ja nur ein paar Sekunden und schon war ich vorbei. – Ich fuhr also, scheinbar ungerührt, weiter in die Stadt und erledigte meine Besorgungen.

Plötzlich überfiel mich auf der Haupteinkaufsstraße eine seltsame Schwäche. Ich hatte das Bedürfnis mich hinzulegen und wusste, dass ich es mit dem Auto nicht mehr bis zu meiner Wohnung am Stadtrand schaffen würde. Zum Glück war aber mein Elternhaus ganz nah. Inzwischen wurde ich von einem heftigen Schüttelfrost gepackt. Innerhalb kürzester Zeit bekam ich 41,5° Fieber. Dann folgte ein starker Schweißausbruch. Meine Kleider waren völlig durchnässt. Nach etwa drei Stunden war der Spuk vorbei. Ich fühlte mich erschöpft, aber wieder normal.

Der Zusammenhang mit den beiden tödlichen Unfällen wurde mir erst viel später bewusst.

Schon Immanuel Kant (1724 – 1804) hat auf den möglichen Missbrauch von Empathie durch Politiker in einer Volksherrschaft hingewiesen. Wolf Schneider (Journalist und Sprachkritiker *1923) hat Zitate veröffentlicht, die zeigen, dass das Nachempfinden der Gedanken- und Gefühlswelt der Menschen durch Politiker oder Massenmedien wirksam für Manipulation eingesetzt wird. Man denke nur an Goebbels, Churchill, oder die berühmten Redner der Antike.

Massenmedien leben vom Geschäft mit Gefühlen. Film und Schauspiel setzen auf unsere Empathie. Sie verwenden nicht nur Worte: Bilder erzeugen Emotionen noch weit nachdrücklicher, insbesondere, wenn sie mit passender Musik dramaturgisch verstärkt werden. Starke Gefühle hinterlassen einen Ein-druck in unserem neuronalen System. Dabei spüren wir bei der täglichen Reizüberflutung, der wir uns kaum erwehren können, vieles gar nicht mehr bewusst. Das bedeutet, dass der emotionale Reiz gesteigert werden muss, um bewusst wahrgenommen zu werden. Dies kann zu einer regelrechten Traumatisierung führen; zu Ängsten, die in Alpträumen und Erschöpfung ihren Ausdruck suchen, da die unzähligen Grausamkeiten aus aller Welt, deren Bilder täglich auf uns eindrängen, anders nicht mehr zu bewältigen sind. Unsere Empathie können wir nicht einfach abstellen. Unsere Nervenzellen spiegeln automatisch das, was sie sehen und verwandeln es in Emotionen – und wenn wir diese nicht wahrnehmen wollen – in körperliche Symptome.

Es sind aber nicht nur Medien, die uns beeindrucken und verändern. Noch stärker werden wir davon beeinflusst, wie sich die Beziehungen zur Umgebung (Partnern, Familie, Kollegen usw.) gestalten. Großvaters Spruch: „Sag mir, wer deine Freunde sind, und ich sage dir, wer Du bist“ ist heute zwar „politically“ nicht ganz korrekt, aber nach wie vor gültig.

In unserer christlichen Überlieferung wird das hohe Gut „Mitgefühl“ anschaulich durch die Legende des Heiligen Martin geschildert. Er teilt seinen Mantel mit dem Bettler. Was aber hätte der Heilige getan, wenn ihm noch zehn weitere Bedürftige begegnet wären? Hätte er sich – wie im Märchen „Sterntaler“ – bis aufs Hemd ausgezogen und wäre lieber am Ende selbst erfroren?

Es ist nicht immer ratsam, zuviel Empathie zu zuzulassen. Angesichts des übermächtigen Elends könnte dies zur Bedrohung der eigenen Existenz führen. Auf diese Weise kann man nichts Vernünftiges bewirken. Wenn ein Nichtschwimmer dem Ertrinkenden nach springt und mit ihm untergeht, so verdoppelt er damit nur das Unglück – aber er war empathisch.

Ich habe in meiner Praxis einmal einen seltsamen Fall erlebt: Eine junge Frau um die Dreißig kommt resigniert zum Gespräch. Sie schildert, dass sie bereits eine tiefenpsychologische Behandlung, sowie Gesprächs- und Verhaltenstherapie hinter sich hätte. Nichts könne ihr helfen. Sie leide an Schlaflosigkeit und Depressionen, die sie von produktiver Arbeit abhielten. Sie hatte zwar ihr Studium einigermaßen zu Ende gebracht, konnte damit aber wenig anfangen.

Auf die Frage, ob es ihr denn immer so schlecht gegangen sei, antwortete sie, dass sie bis zum 18. Lebensjahr ausgesprochen fröhlich und lebhaft und war. Dann hätte sich ihre Gefühlslage ins Gegenteil verkehrt. Ich fragte, was damals geschehen sei. Sie konnte sich an nichts erinnern. Ich fragte nach Liebesbeziehungen, Kränkungen, schulischem Scheitern, nach Familienstreit usw. Sie verneinte. Ich ließ nicht locker. Schließlich fiel ihr ein, dass in etwa zu diesem Zeitpunkt ihr Vater mit der Diagnose „Prostata-Karzinom“ konfrontiert worden war. Die Krankheit wurde jedoch in einem frühen Stadium entdeckt und konnte erfolgreich behandelt werden. Der Vater lebte noch. Sie aber hatte dieses Ereignis völlig vergessen. – Nach einer kurzen Aufstellungs- bzw. Gestaltübung mit der Gegenüberstellung eines Stellvertreters für ihren Vater (in diesem Fall war es eine Bürokraft, die gerade zur Verfügung stand und nichts von der Problematik wusste), ließ ich sie zu ihrem imaginären Vater sagen: „Lieber Vater, lieber ich als Du!“ (Dieser „Lösungssatz“ stammt von Bert Hellinger). Die Stellvertreter-Person reagierte erschüttert. Sie umarmte die „Tochter“ und sagte spontan: „Aber das will ich doch gar nicht! Ich will, dass es dir gut geht und dass du frei deinen eigenen Weg wählst.“ – Es gab dann noch heftige Tränen und viele Umarmungen und danach eine erschöpfte Klientin, die sich sichtlich erleichtert, freudestrahlend verabschiedete.

Sie rief mich später mehrmals und bedankte sich für die Intervention, die ihr Leben völlig neu geordnet habe. Sie begann schließlich mit einer beruflichen Tätigkeit, die sie interessant fand und ihr eine gute Perspektive eröffnete. Das Verhältnis zum Vater ist nach wie vor liebevoll, aber distanzierter, worüber beide glücklich sind.

Auch in diesem Fall wurde die junge Frau Opfer ihrer Empathie. Dazu kam noch eine Art von Aberglauben: Sie hatte ständig Angst, wenn sie fröhlich wäre, könnte eine Unglücksmeldung alles zunichte machen. Die Bestürzung des Vaters, dass seine damalige Erkrankung mit der Depression seiner Tochter zu tun hatte, wurde so authentisch vermittelt, dass sie das unmittelbare Gefühl von Befreiung erleben konnte. Man kann davon ausgehen, dass der wirkliche Vater genauso reagiert hätte, wie seine Stellvertreterin.

Oscar Wilde soll einmal bemerkt haben, dass man die Gedanken anderer Menschen erraten könne, wenn man ihre Mimik nachahmt. Das kennt jeder Schauspieler. Ohne die entsprechende Mimik könnte er niemals überzeugend in seine Rolle schlüpfen. Auch der Text verfließt leichter mit der entsprechenden Haltung und Gestik. So wird alles authentisch und glaubwürdig. – In diesem Zusammenhang ist der amerikanische Rat des „keep smiling!“ nicht ganz falsch, denn ein Lächeln im Gesicht ist mit Traurigkeit nicht vereinbar.

Noch zu Zeiten unserer Großeltern galt es als unhöfliches, schlechtes Benehmen, negative Gefühle oder Launen zu zeigen. Heute scheint es eher umgekehrt. – Wenn man in Modezeitschriften Reklamebilder teurer Marken betrachtet, könnte man denken, es sei wünschenswert – um es neudeutsch auszudrücken: besonders cool – ein möglichst unfrohes, blasiertes Gesicht zu machen. Auch diese (Mode-)Vorbilder haben Wirkung auf unsere Gefühlslage. (Siehe Lipps „Zwang zur Nachahmung“). Selbst über die Mimik schlüpfen wir möglicherweise in eine aufgepfropfte – in diesem Fall unfrohe – Gefühlslage.

Die „emotionale Empathie“ wird über Spiegelneurone gesteuert. Ein Handlungsimpuls wird aktiviert noch bevor eine kognitive (funktionale) Einschätzung der Situation möglich war. Dies führt zu den oft verfluchten Spontanhandlungen. Manchmal führen sie zu einem guten Ergebnis – meistens ist es jedoch klüger, wenn man (wie es unserer Kanzlerin nachgesagt wird) „vom Ende her“ denkt.

Solche Handlungsimpulse finden sich häufig in Konfliktlagen: Man möchte ja dem sympathischen Vertreter glauben, dass er die Anzahlung für die Ausstellung der Versicherungspolice braucht, weil sonst die angeblich so günstigen Bedingungen auslaufen. (Das Kleingedruckte kann man angesichts der Eile nicht mehr lesen.) Das Bauchgefühl aber warnt. Der Körper nimmt die Gefahrenlage zwar auf, aber sie dringt nicht bis zum Bewusstsein vor. Soll, kann man den netten jungen Mann einfach nach Hause schicken? Er hat sich doch so bemüht. Man möchte handeln und ignoriert den Körper – oft so lange, bis er rebelliert. Empathie ist der häufigste Grund dafür, dass man nicht Nein sagen kann, obwohl es angebracht wäre.

Viele Menschen beherrschen diese emotionale Erpressungstechnik meisterhaft. Es sind nicht nur die berüchtigten Betrüger, die eine akribisch ausgespähte ältere Frau mit der Geschichte vom unbekannten Enkel in Geldnot um ihre letzten Ersparnisse bringen, es ist auch die Mutter, die sich ständig in das Leben ihrer Kinder einmischt und glaubt darin nach wie vor die Hauptrolle einnehmen zu müssen. Dazu zählt auch die berüchtigte Schwiegermutter. Es handelt sich in solchen Fällen immer um einen Konflikt, denn man spürt ja ihre emotionale Bedürftigkeit. Andererseits werden aber die Kinder auch wütend, denn sie erahnen die Instrumentalisierung. Es wird ihnen eine Aufgabe zugemutet, die von der Mutter selbst zu bewältigen ist. (Die Mutter soll hier nur Klischee benutzt werden. Die Ausbeutung von Empathie findet auf allen Beziehungsebenen statt.)

Umgekehrt aber trifft dies ebenso Kinder, die ihre Eltern bis ins hohe Erwachsenenalter zur Kasse bitten und nicht daran denken, die Unannehmlichkeiten einer geregelten Arbeit auf sich zu nehmen. Auf beiden Seiten wird Empathie rücksichtslos (un-empathisch) missbraucht und benutzt. Eine permanente Vorwurfshaltung schadet beiden Seiten: den Ausbeutern, die auf diese Weise nie die Freude an ihrer eigenen Leistung erfahren und den Ausgebeuteten, die nie dazu kommen, die Früchte ihrer eigenen Arbeit zu genießen.

Wenn wir nun also durch Spiegelneurone mehr oder weniger unwillkürlich auf unsere Umwelt bezogen reagieren (müssen), so bedeutet dies, dass wir den Umwelteinflüssen, ob sie nun in feindlicher oder freundlicher Absicht auf uns einwirken, fast hilflos ausgesetzt sind, da Nervenzellen zunächst nur reagieren, ohne im Einzelnen eine moralische Entscheidung zu treffen. Dies geschieht erst auf einer höheren Organisationsebene.

Politiker, Unternehmer, Religionsstifter, alle Personen in leitenden Positionen und nicht zuletzt die zahlreichen Hilfsorganisationen brauchen ein erhebliches Maß an funktionaler empathischer Kompetenz, wenn sie ihre Ziele durchsetzen wollen. Sollten sich diese Ziele aber zu unserem Nachteil entwickeln, so verkehrt sich unser empathisches Mitgehen in Wut und Hass – weil wir sehr wohl spüren, dass unsere Gefühle missbraucht wurden. Dies ist der Stoff für Tragödien. Wenn aufrichtige Gefühle für unlautere Zwecke missbraucht werden, setzt dies ungeheure emotionale Kräfte frei, die tödliche Rache verlangen.

So positiv der Begriff Empathie besetzt ist, so eindeutig Empathie mit unserem christlichen Selbstverständnis verbunden bleibt, so gefährlich kann sie uns werden. Gerade weil wir fortwährend Spiegelungsvorgängen ausgesetzt sind, lassen wir uns auch so leicht manipulieren.

Aber: Wir selbst manipulieren auch! Das sollten wir fairer weise bedenken.

Literatur:

Bauer, Joachim: Das Gedächtnis des Körpers, 3. Aufl., Piper Tb. München, 2005
Bauer, Joachim: Warum Ich fühle was Du fühlst. Hoffmann und Campe. Hamburg. 1. Aufl. 2005
Ekman, Paul: Gefühle lesen. Spectrum. Akad. Verlag. 2004
Eisenberg, Leon, Harvard Medical School: The social construction of the Human Brain. Americ. Journal of Psychiatry 152:1563-1575. 1995).

Eros & Sexus

Vortrag gehalten bei der Jahrestagung der DGPA Wien 24. – 27. Oktober 2013 „Sexus und Eros“

Eros – in unseren Zeiten?

Eine Polemik

Die Götter der griechischen Mythologie sind eigentlich Personifikationen von Motiven bzw. Energien oder Kräften die in uns wirken. Dieses Prinzip würde C. G. Jung wohl Archetypen [1] nennen. Jeder Gott steht für eine wichtige oder schicksalhaft erlebte Lebenssituation, mit der wir uns alle irgendwann einmal auseinandersetzen müssen. (Parallelen zum Heiligenhimmel sind unübersehbar.) Heroen sind die sterblichen Untertanen dieser Götter. Ihr jeweiliger Mythos gibt uns Kunde davon, welche Folgen Widerstand gegen ihren Willen oder ihre Launen hat. Ein anschauliches Beispiel bietet Goethe im Gedicht „Prometheus“. Es handelt von der mythischen Zeit, in der Heroen noch persönlich mit ihren Göttern verkehrten; ganz ähnlich wie im Alten Testament. C.G. Jung beschreibt in seinem Buch „Antwort auf Hiob“ diesen launischen Gott, der den archaischen Göttern ähnelt,  und erst durch die Emanation von Jesus eine Weiterentwicklung erfährt.

Hesiod, der etwa um 700 v. Chr. als Dichter und Philosoph in Alexandria lehrte, versuchte erstmals einen Stammbaum der griechischen Götter zu erstellen. Darauf bauten die späteren Geschichtsschreiber und Dichter auf. Aus dem Chaos entsteht die erste Göttergeneration: Gaia/Erde, Tartaros/Unterwelt, Eros/Liebe, Erebos/Finsternis und Nyx/Nacht. Eros, die Liebe ist also einer der ersten und damit bedeutungsvollsten Götter.

In der Komödie „Die Vögel“ von Aristophanes (414 v.Chr.) schlüpft Eros aus einem Ei, das die schwarzgeflügelte Nacht gelegt hat. Eros hat aber goldene Flügel und zeugt mit Chaos das Geschlecht der Vögel. Die Flügel verweisen auf die geistige Dimension der Liebe. (Vielleicht sind auch die vulgär-erotische Anspielungen aus diesem Bild entstanden)

Sophokles thematisiert in der Tragödie „Antigone“ den Konflikt zwischen erotischem Begehren und Loyalitätspflichten. Eros veranlasst Haimon, den Sohn des Kreon, sich gegen Antigones Hinrichtung aufzulehnen. Eros wird in dieser Dichtung als „unbesiegt im Kampf“ angesprochen. Damit wird die Überzeugung ausgedrückt, dass der Mensch der Macht des Eros vollkommen ausgeliefert ist.

Auf diese Genealogie müssen wir uns besinnen, wenn wir die aktuellen Aspekte des Eros-Begriffes betrachten wollen. Von Voluptas, der Tochter von Amor und Psyche war zunächst noch keine Rede im Mythos. Die Begierde und die mit ihr verbundene Hoffnung auf Wollust stammen aus einer sehr viel späteren erweiterten Göttererzählung. Heute scheint vom göttlichen Flügelschlag nichts mehr vorhanden zu sein. Wohin hat sich unser Verständnis von Eros entwickelt?

„Die lächerliche und beinahe krankhafte Übertreibung des sexuellen Gesichtspunktes ist an sich ein Symptom einer zeitgenössischen geistigen Störung, die hauptsächlich auf der Tatsache beruht, dass unsere Zeit kein richtiges Verständnis der Sexualität besitzt (…) In Wirklichkeit könnte keine moralische Verurteilung die Sexualität so verhasst machen, wie die Obszönität und die verblendete Geschmacklosigkeit ihrer Überschätzung. Die intellektuelle Plumpheit der sexualistischen Deutung verunmöglicht sogar eine richtige Wertschätzung der Sexualität (…) Vor Freud durfte nichts sexuell sein, jetzt ist alles auf einmal sozusagen „nichts als“ sexuell.“ (Jung, GW 17,100)

Bei Antigone zum Beispiel, wie in unzähligen anderen Tragödien, bei denen nicht der Inhalt, sondern nur das Zeitalter wechselt, wird immer wieder der Konflikt zwischen Pflicht und der unbezwingbaren Macht der Liebe thematisiert. Liebe zwingt zum Ungehorsam und stellt Loyalitäten in Frage. Liebe entfaltet ungeahnte Kräfte, beflügelt den Geist und regt zu Höchstleistungen an. Eros symbolisiert nicht nur die sinnliche Liebe, sondern auch die Liebe zum Geistigen. Er verlangt nicht nur Freiheit für die Liebe sondern auch die Freiheit sich be-geistern zu dürfen. Es sind die goldenen Flügel, die einen davontragen.

In trockener psychiatrischer Diagnose könnte man dieses Ereignis einfach in den Bereich der „Affektiven Störungen“, ICD10 F30.0 bis F30.2 von „Manie“ – bis „Manie mit psychotischen Symptomen“ einordnen. – Aber wir sollten nicht vergessen, welch großartige Werke in diesem Zustand geschaffen wurden. Man denkt dabei auch unwillkürlich an Csikszentmihálys „Flow“.

In der heutigen Zeit scheint die Allmacht der alten Götter gebrochen zu sein. Wir verlachen sie als Hilfsmittel um unser Schicksal zu bebildern. Wir halten es für absurd, in Dialog mit den archaischen Götterbildern zu treten, dabei wäre das oft sehr hilfreich. „Die Seele ist von Natur aus religiös“, schreibt Aniéla Jaffé in der Einleitung zu Jungs Erinnerungen. Die Abweichung von dieser Grundnatur ist nach C. G. Jung die Ursache vieler Neurosen; besonders im späteren Alter. Dieses Manko ist in unserer Zeit besonders eklatant. Wir glauben, wir könnten alles nach vernünftigen Grundsätzen steuern – und dann stellen wir fest, dass sich vernünftige Menschen ruinieren, wenn sie Amors Pfeil getroffen hat und trotz besseren Wissens ihre gesamte Aufmerksamkeit (nicht selten zum Entsetzen der Angehörigen) auf eine völlig unpassende Person richten und alle Bindungen leugnen. Überkommene gesellschaftliche Normen und Strukturen sind zusammengebrochen. Nicht nur Monarchien, die sich von „Gottes Gnaden“ her legitimierten, sondern auch unsere bürgerliche Gesellschaft ist am Ende. Wir stehen ratlos und leer da, seit der religiöse Rahmen zerbrochen ist. Desorientiert, ohne Werte, ohne gesellschaftlichen Konsens darüber, wie wir uns verhalten müssen, wie wir mit unserem Schicksal umgehen können. Wir haben den großen Gott Eros auf Sexualität und (im Mythos seine Tochter) Voluptas reduziert. Wir sind zügellos, aber nicht glücklicher geworden.

Wenn wir beobachten, was sich heute im Internet tut, wenn wir aufhören wegzuschauen und wissen wollen, was unsere Kinder und Enkel dort treiben, werden wir schockiert feststellen: Das haben wir nicht gewollt! Eros? Eine göttliche Macht? Wo ist der Gott der Liebe geblieben? In einer Gesellschaft, in der bereits über 80% der 14- bis 24-jährigen jungen Menschen sexuelle Kontakte über das Internet hergestellt haben, ist Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Die Seelen der Kinder, der jungen Menschen, die glauben mithalten zu müssen, sind trostlos leer. Kinder und Jugendliche reagieren nur noch mit blankem Zynismus. Wir haben „Erotikmessen“ die mit der göttlichen Macht des Eros ungefähr so viel zu tun haben, wie eine holländische Erdbeere, die auf einem mit Nährstoff getränkten Vlies produziert wurde, mit der aromatischen Waldfrucht (sic!). Wir haben so genannte seriöse Nachrichtenorgane, die im Viertelstundentakt, pornographische Inhalte als Nachrichten verkleidet ins Netz stellen. Ich verweise z.B. nur auf den Medienrummel um den Film „Feuchtgebiete“ oder „Schoßgebete“. Religiöse Inhalte, Ekel und Sexualität der untersten Pornoklasse werden gern vermengt und als großer Spaß vermarktet. Was ist daran falsch, wenn es alle machen? Millionen Fliegen können bekanntlich nicht irren.

„Ich bezweifle nicht, daß die Naturtriebe sich im seelischen Gebiete mächtig entfalten, sei es der Eros oder sei es der Machtwille, ich bezweifle aber auch nicht, daß diese Triebe gegen den Geist anstoßen, denn gegen etwas stoßen sie immer an, und warum soll dieses Etwas nicht Geist genannt werden?“ (Jung, GW Bd.4, §776)

Vom echten Eros ist heute keine Rede mehr. Er ist aus dem Bewusstsein verschwunden, zerredet, verkauft, vermarktet. Dabei wird der Liebesgott doch so sehr herbei gesehnt. In jedem Mega-Orgasmus, den man mit dieser oder jener Steigerung der sexuellen Erregung zu erreichen glaubt, erhofft man sich nichts anderes, als die Erfahrung von Entgrenzung und Göttlichkeit. Man weiß sehr wohl, dass man sich dieses Erlebnis nicht kaufen kann, versucht es aber doch immer wieder. Die Werbung dafür ist zu ideenreich und das Geschäft zu lukrativ. Es sind Verirrungen, weil man sich innerlich leer fühlt. Leidenschaft findet bestenfalls noch in alten Filmen oder Dramen statt. Aus dem Internet kommen im Minutentakt verlockende Angebote, die Hoffnung wecken, das große Erlebnis könnte sich über die vorgestanzten Liebesanpreisungen einstellen. Der wirkliche Gott verlangt Demut und Hingabe; Eigenschaften, die dem modernen Homo faber bzw. –oeconomicus fremd sind.

Die Vertreibung des ehrwürdigen Gottes Eros hat aber noch andere Folgen: Mit der Entzauberung der Welt (M. Weber) hat sich auch die Schönheit verabschiedet und Hässlichkeit auf allen Gebieten ausgebreitet. Wir haben uns von unserem Begriff von Schönheit, für den die Göttin Aphrodite steht, weit entfernt. Dies bleibt nicht ohne Folgen für unsere innere Befindlichkeit. Das Lob der Schönheit von Ebenmaß und Gesetzmäßigkeiten ist verpönt. Disharmonie ist in der zeitgenössischen Kunst ein Muss. Schönheit und Harmonie sind nicht rein subjektive Werturteile sondern sinnlich erfahrbare Tatsachen, die eine beruhigende und heilende Wirkung entfalten. Der Verbrauch unserer natürlichen Umgebung nach rein nützlichen Erwägungen, die Abscheulichkeit moderner Städtearchitektur, die gleichförmigen „Designer-Wohnungen“, deren Hauptmerkmal fade Farbgebung und Leere ist, erzeugen Stress und Aggression, verderben die Laune und Lust am Leben. Es sind meist politische Ideologien, die alles Erhabene, alles über die Banalität des Alltags hinausgehende, aus dem öffentlichen Erscheinungsbild ausmerzen wollen. Ein Beispiel ist die Kulturrevolution in China, in der unwiederbringliche Kunstwerke zerstört wurden. Machtpolitiker haben immer die Definitionsmacht für alles was im öffentlichen Raum als schön oder hässlich zu gelten hat, an sich gerissen. Dies war schon im alten Ägypten so, als die Tempel der thebanischen Götterdreiheit Amun, Mut und Chons durch Pharao Echnaton beseitigt wurden. Stattdessen wurde Aton, der Sonne, gehuldigt. In unserer Zeit sprengten die Taliban uralte Buddha-Figuren und die DDR-Regierung das Berliner Schloss. Damit wurde der Sieg über die vorhergehende Macht mit einer neuen Gewalttat dokumentiert, die bekanntlich  – wir kennen dieses Gesetz aus Schillers Wallenstein – sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.“

Als die Menschen noch mit sich und den Göttern in Harmonie lebten, entstanden die größten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte. Wir sind bis heute noch nicht über die ägyptischen, hellenistischen oder gotischen Kirchenbauten hinausgekommen. Es hilft selbst die gewagteste moderne Architektur nicht, wenn der göttliche Funke fehlt. Sie kann nicht jenen religiösen Schauer in uns erzeugen, den wir beim Betreten einer alten Kathedrale empfinden. Um solche Bauwerke errichten zu können, brauchen wir die Liebe des geflügelten Eros, den Mut zu und die Demut vor einer weit höheren Macht.

„Die viel geschmähten und verdächtigen Ästheten verfügen über eine schreckliche Gabe, die äußere Gestalt einer Sache, eines Vorganges, eines Gedankens enthüllt ihnen mit Sicherheit die innere Wahrheit des Angeschauten.“ (Mosebach)

Was hat das alles mit unserer Anschauung von Erotik in unseren Zeiten zu tun? Wir haben unseren Eros ebenso verloren wie unsere Götter. Wir sind hilflos und orientierungslos unseren Emotionen ausgeliefert und wir glauben, wir könnten durch möglichst häufige, rein physische Triebabfuhr, das Dilemma lösen. Die Folge ist seelische Verrohung. Der Gott der Süchte hält unsere Physis aufrecht. Unsere Verzweiflung bekämpfen wir mit Antidepressiva, unsere Hilflosigkeit ertränken wir in Alkohol – unsere wirklichen Bedürfnisse verleugnen wir.

Es gibt eine Therapeutenregel, für scheinbar aussichtslose Situationen: Man muss den Mut haben, den Patienten so weit in die Verzweiflung zu treiben, bis er selbst eine Lösung anbietet. Ein unbequemer Rat, der nicht gern befolgt wird, weil es sicher irgendwo wieder eine angeblich schmerzfreie Lösung zu kaufen gibt. Man kann die Verzweiflung allerorten erkennen, gerade in Arztpraxen und Kliniken, dennoch machen wir alle wie gewohnt, weiter. All die Freizügigkeit hat ja auch ihre fröhlichen Seiten; – bis das eigene Kind im Alkohol- oder Drogenkoma aufgegriffen, oder mit einer schweren Geschlechtskrankheit konfrontiert wird und Vieles mehr.

Seit der Zusammenhang von Sexualität und Fortpflanzung entkoppelt wurde, ist die gesamte Wertewelt die den Umgang der Geschlechter miteinander regelte, aus den Fugen geraten. Man kann die Geschlechterspannung nicht durch Gleichmacherei weg diskutieren. Sie bleibt eine Tatsache und hat nichts mit den Emanzipationsbemühungen der Frauenbewegung zu tun. Einerseits wirken in uns noch die Wertvorstellungen des 19. Jahrhunderts. (C. G. Jung: „Die Seele ist konservativ.“) – andererseits leben wir in einer ganz anderen Wirklichkeit. Wir wünschen uns für unsere Töchter einen tüchtigen Mann und für unsere Enkelkinder verlässliche Eltern. Dabei hält heute kaum noch eine Ehe für ein ganzes Leben. Selbst in Kirchen wird das Versprechen „bis zum Tode“ nicht mehr unbedingt abgenommen. Scheidung und Trennung werden einkalkuliert. Die alten Modelle halten nicht mehr – und selbstverständlich ist der Seitensprung, sofern er wirklich von Eros angestiftet wurde, eher eine lässliche Sünde. Früher war er ein Sakrileg, das die existentielle Vernichtung zur Folge hatte. Man muss nur bei der Nachbarin muslimischen Glaubens nachfragen.

Sexualität, darin hat Sigmunds Freud Recht behalten, wurde tatsächlich eine Art von Religionsersatz im 20. Jahrhundert. Aber sie ist eben nur der Ersatz und nicht das Original. Wir wünschen uns immer noch das „Mysterium tremendum“ (Rudolf Otto), das Numinose, das mit Ergriffenheit aber auch Ambivalenz, Angst und einem Schauder einhergeht, wenn ein Mensch vom Gott Eros berührt wird. Der Mythos bleibt. Er wird immer wieder mehr oder weniger verschämt in Filmen oder Romanen neu interpretiert werden – und die Leute werden applaudieren, auch wenn sie nicht wissen warum; aber doch etwas ahnen. Der Mythos wird nie ganz erlöschen, denn einen Gott kann man nicht wegdiskutieren. Er gehört zur Menschheit. Es sei denn man vernichtet die Menschheit, die – zumindest im Westen – zu dem verkommen ist, was Max Weber als „Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz“ beschrieben hat. Davor wird uns – so hoffe ich – der goldgeflügelte Gott Eros bewahren, oder es „… werden andere Völker auferstehen, die noch einen Gott in sich tragen“.

Eros ist ein Urinstinkt, eine Grundlage des Lebens. Wir sollten nicht leichtfertig damit umgehen. Was immer es ist, ob archaischer Trieb oder numinose Macht – oder Beides: Er ist und bleibt eine „condition humaine“ – genau genommen sogar eine condition biologique – die unseren Respekt verdient. Keine Angelegenheit für Geschäftemacher und Marktschreier. Auch wenn der alte Journalistenspruch „Sex sells!“ stimmt. Sex verkauft sich, weil alle Konsumenten hoffen, etwas über die eigenen Sehnsüchte zu erfahren. Eros ist noch nicht im Bezahlfernsehen angekommen. Seine Kommerzialisierung ist so absurd, wie Atemluft zu verkaufen.

Weil es so ist, wurde zu allen Zeiten der Verkauf von Lebensgrundlagen als obszön empfunden. Daran können auch mehr als hundert Jahre Sigmund Freud nichts ändern, der diese Entwicklung sicher nicht so gedacht hatte. Er betrachtete seine Lehre ja als die zukünftige Religion. Wenn das so ist, dann sollte man ihr einen Tempel bauen, aber bitte keinen Marktplatz!

Literatur:

Csikszentmihályi, Mihaly: Optimal experience: studies of flow in consciousness. Cambridge University Press 1988

Goethe, J. W.: Prometheus

Mosebach, Martin:. Die Häresie der Formlosigkeit. S. 24. dtb München 2012

Schiller, Friedrich: Wallenstein. Die Piccolomini, V,1/Octavio Piccolomini)

Weber, Max:. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, S.

[1] „…Nichts hindert uns anzunehmen, dass gewisse Archetypen schon bei Tieren vorkommen, dass sie mithin in der Eigenart des lebendigen Systems überhaupt begründet und somit schlechthin Lebensausdruck sind, dessen Sosein weiter nicht mehr zu erklären ist. Die Archetypen sind, wie es scheint, nicht nur Einprägungen immer wiederholter typischer Erfahrungen, sondern zugleich auch verhalten sie sich empirisch wie Kräfte oder Tendenzen zur Wiederholung derselben Erfahrungen. Immer nämlich, wenn ein Archetypus im Traum, in der Phantasie oder im Leben erscheint, bringt er einen besonderen „Einfluss“ oder eine Kraft mit sich, vermöge welcher es numinos, resp. faszinierend oder zum Handeln antreibend wirkt.“ (Jung, GW 7, § 109)

2. „Bedecke deinen Himmel, Zeus, – Mit Wolkendunst! – Und übe, dem Knaben gleich, – Der Disteln köpft, – An Eichen dich und Bergeshöh’n! – Mußt mir meint Erde – Doch lassen steh’n – und meine Hütte – Die du nicht gebaut, – Und meinen Herd, – Um dessen Glut – Du mich beneidest. …“ …

Symbole und Traum

Zusammenfassung:

Vor dem Hintergrund der Traumtheorie C. G. Jungs werden Initialträume und eine Traumserie mit prognostischem Inhalt besprochen.

Die jeweiligen Symbole, deren Sinn erst post festum richtig gedeutet werden konnten, werfen die Frage auf, ob bestimmte Träume die Zukunft konstellieren.

Sigmund Freud kommt das unschätzbare Verdienst zu, Träume als Forschungsgegen-stand in die Wissenschaft eingeführt zu haben. Bei seinem jüngeren Kollegen Carl Gustav Jung rief er damit zunächst Begeisterung hervor, später jedoch kam es wegen des zu engen theoretischen Konzepts zum Bruch mit Freud. Jung bestand darauf, dass das Unbewusste nicht nur aus individueller Erfahrung sondern auch aus kollektiven Inhalten, die dem Menschen à priori mitgegeben sind, besteht. Aus dieser Sphäre des sowohl individuellen wie auch kollektiven Unbewussten stammen die Träume und ihre Symbole.

Das kollektive Unbewusste umfasst mehr „Wissen“ als nur persönlich erworbene Erfahrungen. Menschen weisen zu verschiedensten Zeiten und in verschiedenen Kulturen eine gleichartige Manifestation der Grundstruktur bestimmter psychischer Funktionskomplexe auf. Die Bilder sind zwar der umgebenden Kultur entlehnt, gleichwohl handelt es sich immer um ähnliche Inhalte (Archetypen), z.B. um den Kampf des Helden mit der Riesenschlange, der Sphinx oder dem Drachen, kurz mit den Naturgewalten. Tiefenpsychologisch bedeutet dies den Kampf des Ich um das Bewusstsein. Wie in Mythen, Märchen und in der Kunst werden diese Bilder auch im Traum und in der Phantasiebildung der modernen Menschen benutzt (Superman, James Bond, der Detektiv oder Kommissar etc.).

Jungs Konzept, außer der persönlichen und dem Zeitgeist entlehnten Sphäre ein vorstrukturiertes kollektives Unbewusstes anzunehmen, hat praktische Konsequenzen. Da das kollektive Unbewusste einen autonomen Funktionskomplex darstellt, sind darin wie in einem Samenkorn die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten bereits vorgegeben. Jungs Interesse gilt diesen Entwicklungsmöglichkeiten, die dem Bewusstsein (meist über Trauminhalte) vom Unbewussten angeboten werden.

Wenn man sich auf diese Theorie einlässt, wird Psyche zum Objektiv, zur Realität, mit der man umgehen können sollte. Die innere psychische und die äußere Welt sind bei dieser Betrachtungsweise gleichwertig. Unbewusste Äußerungen im Traum werden dann nicht als Reaktion auf äußere Reize verstanden, sondern als Botschaften einer autonomen inneren Welt, die allerdings zum Bewusstsein Verbindungen hat.

Die Anekdote eines chinesischen Weisen deutet auf die Gleichwertigkeit von Tag- und Nachtbewusstsein hin, in der wir je die Hälfte unseres Lebens verbringen:

„Heute Nacht träumte ich, ich sei ein Schmetterling und flöge auf einer Wiese voller Blumen. Nun, da ich aufgewacht bin, weiß ich nicht recht, bin ich nun ein Mensch, der geträumt hat ein Schmetterling zu sein, oder bin ich ein Schmetterling der jetzt träumt ein Mensch zu sein?“

Jung war der erste Psychologe, der zur Beantwortung dieser Fragen bereits vor mehr als fünfzig Jahren bei Nachbarwissenschaften nach Antworten gesucht und intensiven Austausch gepflegt hat. (Briefwechsel mit Nobelpreisträger W. Pauli von 1932-1958).

Vor diesem nur stichwortartig dargestellten Hintergrund möchte ich über eine beeindruckende Traumserie mit prognostischem Inhalt berichten. Die jeweiligen Symbole, deren Sinn erst post festum richtig gedeutet werden konnte, werfen die Frage auf, ob bestimmte Träume die Zukunft konstellieren oder ob die Träume aus einem „Wissen“ stammen, in dem die Zeit aufgehoben ist: Es stellt sich die Frage, auf welcher energetischen Ebene Botschaften aus dem kollektiven Unbewussten über Träume zum Bewusstsein vordringen; – und weshalb gerade dieser „Eintrag“ zu diesem Zeitpunkt aktiviert wurde. Eine Antwort könnte vielleicht lauten: Weil die Träumerin auf kommende Ereignisse von großer emotionaler Bedeutung vorbereitet werden sollte. (Lottozahlen werden bekanntlich nicht geträumt. Geld scheint der Seele nicht so wichtig zu sein, wohl aber dem Bewusstsein.)

Es handelte sich um eine Journalistin, Mitte vierzig, die im Begriff stand, mit einem gleichaltrigen Mann eine Ehe einzugehen. Aufgrund von beruflich notwendigen Auslandsaufenthalten waren beide häufig getrennt und führten eine sogenannte Wochenendbeziehung. Gemeinsames Domizil war vorübergehend ein Ferienhaus in Österreichs Bergen. In Kürze wollten sie ihre beruflichen Aktivitäten so koordinieren, dass sie in Deutschland Wohnsitz nehmen konnten. Im August des entscheidenden Jahres hatte die Frau plötzlich das Gefühl ein Tagebuch anlegen zu müssen, um ihre Träume und Erlebnisse aufzuschreiben. Bis dahin hatte sie noch nie einen derartigen Impuls verspürt.

Am 30. September hatte sie den ersten Traum, den sie wie folgt notierte:

A. steht im Fenster und sagt: „Ich springe jetzt!“ Sie denkt im Traum: Das hat er schon oft gesagt. Es passiert ohnehin nichts. Dann sagt sie ärgerlich: `Ich kann es nicht verhindern, wenn Du springen willst.´ Er springt. Sie denkt: das ist nur Spaß! Und sieht ihn vom Fenster aus unten leblos auf dem Rasen liegen. Sie will das immer noch nicht glauben, geht hin und muss tatsächlich seinen Tod feststellen. Sie glaubt es immer noch nicht.

Die Träumerin war zu diesem Zeitpunkt besorgt, weil beide ein hektisches Leben führten und sehr viel im Auto unterwegs waren. Sie interpretierte diesen Traum als Reaktion auf diese Ängste.

Vier Wochen später, am 31. Oktober, schrieb sie folgenden Traum auf:

Sie sitzt mit A. im Frühstücksraum eines Hotels, zusammen mit anderen Gästen. Er reicht ihr über den Tisch ein Etui in dem sich ein herrlicher Ring aus lauter Diamant-Navettes befindet. (Navettes sind oval-spitz-zulaufend geschnittene Diamanten. Wörtlich übersetzt bedeuten sie „Schiffchen“, sie erinnern aber in ihrer Form auch an Blätter). Sie denkt (im Traum): das ist ja unglaublich, dass er mir so kostbaren Schmuck schenkt. Bei ihrer sportlichen Lebensweise hätte er ihr normalerweise sicher nur an ein praktisches, unromantisches Geschenk gemacht. Plötzlich verwandelt sich der Diamantring in einen weißen Kranz….“

Diesen Traum versteht sie nicht. Sie wundert sich nur über den „Luxus“.

Am 30. November notiert sie wieder einen Traum. Sie führt ihn darauf zurück, dass er ärgerlich war, weil sie das Ferienhaus winterfest machen, und erst im Frühjahr wiederkommen wollte. Sie befürchtete einen plötzlichen Wintereinbruch und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten. Darüber stellte sich eine leichte Verstimmung zwischen dem Paar ein:

Sie befindet sich in einer ganz bestimmten Klinik, die sie namentlich kannte, in der Stadt, in der sie in Kürze ihren Wohnsitz nehmen wollten. Ihr Lebensgefährte liegt dort auf der Intensiv-Station und wird künstlich beatmet. Ein Team von Ärzten steht schemenhaft herum und ihre Stimmen sagen: “A. stirbt.“ Daraufhin fragt sie verzweifelt: „Kann man denn da gar nichts machen?“ „Nein, er stirbt!“ war die Antwort. Sie blickte in Richtung seines Heimatlandes und sagte zu sich: „Jetzt bin ich wieder allein.“

Auch diesen Traum fasste sie nicht als bedrohlich auf. Sie notierte ihn zwar, dachte aber psychologisierend, das sei die Reaktion auf den Dissens vom Wochenende. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass man den Tod nur symbolisiert im Traum wahrnimmt, niemals als wirkliche Sterbeszene.

Die Verstimmung wich dann auch wieder. Es herrschte sogar ein besonders gutes Einverständnis in den folgenden vier Dezemberwochen.

Dann bekam er eine scheinbar harmlose Erkältung, die ihn aber nicht von seinen Geschäftsterminen in Italien und Norddeutschland abhielt. Zwischendurch traf sich das Paar für einige Tage oder Stunden. Seine Erkältung weitete sich zu einer Nebenhöhlenvereiterung aus. Er trat gegen den Rat seines Arztes eine weitere Geschäftsreise an. Danach war eine Sylvesterfeier geplant, die am neuen Wohnsitz stattfinden sollte. Am 30. Dezember kam er spät Nachts nach langer Autofahrt dort an. Er befand sich in euphorischer, geradezu manischer Stimmung, freute sich, trank Wein… bekam Schüttelfrost. Seine Temperatur am frühen Morgen: 40,5 Grad.

Der Notarzt wies ihn ins Krankenhaus ein. Als die herbeigerufenen Sanitäter über die Rettungsleitstelle nach einigem Funkverkehr die Anweisung bekamen genau jenes Krankenhaus anzufahren, von dem sie bereits geträumt hatte, wurde der Rest der Ereignisse nur noch zum Déja-vu-Erlebnis. Wenige Stunden später stand sie am Bett der Intensiv-Station. Die Ärzte antworteten, als sie – so wie im Traum – die Frage stellte: „Wir können nichts mehr tun. Er stirbt uns unter den Händen weg.“

Der Träumerin wurde erst im Nachhinein, während ihrer Trauerzeit, in der sie ihr Tagebuch las, bewusst, dass sie seit drei Monaten deutliche Hinweise auf die drohende Gefahr erhalten hatte. Jetzt erkannte sie, dass das jeweilige Monatsende eine Analogie für den Jahreswechsel war, an dem sich das Unheil vollendete.

Nun kann man aus dieser Traumserie viele Symbole ausfiltern, die aber nicht verstanden wurden, bis die Psyche den ganz und gar unverhüllten Sachverhalt (im dritten Traum) zum Bewusstsein brachte, der aber dann als Symbol umgedeutet wurde. (Jung weist darauf hin, dass ein Symbol, das „verstanden“ wird, seinen Symbolcharakter verliert und lediglich zum Zeichen wird).

Ob der Lauf der Dinge bei richtiger Interpretation der Träume zu verhindern gewesen wäre, bleibt dahingestellt.

Zu den Symbolen im ersten Traum: Der Rasen und die umgebenden Büsche deuten ziemlich unverhüllt auf den „Rasen, der uns alle einmal deckt“ hin. Auch der „Garten“. Das Fenster aus dem er springt erinnert an die Redewendung: „Weg vom Fenster“, die aus dem Ruhrgebiet stammt, aus einer Zeit da die Leute noch täglich im Fenster lehnten und dem Treiben auf der Straße zusahen. Wer dort nicht mehr gesehen wurde war gestorben.

Das Symbol im zweiten Traum, der weiße Ring mit den Navettes, den Schiffchen, (Totenschiffchen) bzw. gleichzeitig „Kranz“, ist ebenfalls sehr beziehungsreich.

Beim dritten Traum war eigentlich nur der Name des Krankenhauses unglaubwürdig, denn bei Tageslicht betrachtet wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass der Patient in genau dieses Krankenhaus eingeliefert worden wäre. Er wäre ins „Spital“ (Österreich) gekommen, wenn es sich um den Ausdruck einer rational begründeten Sorge gehandelt hätte.

C.G. Jung wies darauf hin, dass Träume eine prognostische Bedeutung haben können. Er spricht davon, dass es vor Therapiebeginn häufig einen „Initialtraum“ gibt, der den weiteren Verlauf der Therapie vorwegnimmt. Solche Initialträume gibt es auch bei wichtigen Begegnungen, die für die persönliche Entwicklung von Bedeutung sind.

In diesem Zusammenhang kann ich über eine eigene Traumerfahrung berichten:

Ein Familienmitglied war schwer erkrankt. Dies war die Wiederholung eines Leidens, das etwa neun Jahre vorher nach einer dramatischen Operation überstanden zu sein schien. Diesmal war nach Auskunft der Ärzte eine Rettung aussichtslos. Wir alle waren sehr bedrückt, als der Patient am Wochenende zum Sterben nach Hause geschickt wurde, weitere Interventionen wurden abgelehnt. Jeder versuchte auf seine Weise mit der heillosen Situation zurecht zu kommen. Hilflos zündete ich eine Kerze an. In der Nacht hatte ich folgenden Traum:

„B. lag zum wiederholten (?) Male tot da. Es kamen einige Leute, um ihn zu reanimieren. Dies sollte so vor sich gehen, dass er zusammen mit einem Lebensretter in einen Sarg gelegt werden sollte. Ich protestierte: „Das kann man nicht machen! Nun hat er schon so oft dem Tod ins Auge geblickt. Wenn er aufwacht und den Sarg sieht, … das ist ja entsetzlich!“ Ein Sarg wurde herangefahren. Er hatte einen aufklappbaren Deckel, ähnlich einer antiken Schreibkommode. Die Prozedur wurde durchgeführt. Der Tote bäumte sich auf. Er riss die Augen auf. In seinem Gesicht stand ein unsägliches Grauen. Ich fing an zu lachen und lachte und lachte und laut lachend erwachte ich. …“

Dieses Lachen empfand ich als äußerst unpassend und konnte es mir nicht erklären. Dennoch blieb mir die heitere Stimmung den ganzen Tag erhalten. Der Spruch: „Totgesagte leben länger!“ hat sich bewahrheitet: Der Totgesagte erfreut sich heute (nach zwei Jahren) immer noch seines Lebens und geht seinen Geschäften, mit beeindruckender Energie nach. Ich weiß immer noch nicht, warum ich im Traum – und sogar über die Schwelle ins Bewusstsein hinein – so sehr lachen musste, ich weiß nur, dass die monatelange Bedrückung einem befreienden Lachen wich, obwohl der manifeste Trauminhalt dazu keinen Anlass geben konnte. Ein tieferes „Wissen“ (aus dem kollektiven Unbewussten?) hat wohl dieses Lachen hervorgerufen. Ich glaube jedenfalls, dass unser Patient außer Gefahr ist, … zumindest bis zum nächsten Traum.

 

Literatur:

Jung CG (1991) Seminare Traumanalyse. Nach Aufzeichnungen des Seminars 1928-1930. Walter-Verlag, Olten
Meier CA (Hrsg) (1992) Ein Briefwechsel 1932-1958/Wolfgang Pauli und C.G. Jung. Springer, Berlin Heidelberg
Siebenthal von W (1953, 1984) Die Wissenschaft vom Traum. Springer, Berlin Heidelberg

Emotionale Intelligenz

Emotionale Intelligenz – ein Muss für erfolgreiche Führungskräfte

Mäxchen war ein miserabler Schüler. Als er erwachsen ist trifft er auf seinen alten Lehrer. Inzwischen fährt der „große Max“ fährt ein teures Auto, trägt eine goldene Rolex und ist auch sonst mit allen Insignien des Wohlstands ausgestattet. Der Lehrer ist fassungslos und fragt Max nach seinem Erfolgsrezept. Frohgemut antwortet der: „Ach Herr Lehrer, Sie wissen doch wie schlecht ich immer im Rechnen war. Inzwischen kann ich das ganz ausgezeichnet. Ich handle mit Parfümerieartikeln. Meine Seifen, zum Beispiel, kaufe ich um zwei Mark ein und verkaufe sie um fünf Mark. – Und von den drei Prozenten lebe ich!“

Ist unser Max nun intelligent oder dumm?

Seine besondere Form der Intelligenz wird in IQ-Tests selten berücksichtigt. Die Geschichte zeigt uns aber in drastisch-humorvoller Weise, dass die Frage nach der Intelligenz gar nicht so einfach zu beantworten ist, dass Schulwissen nicht alles im Leben ausmacht.

Was ist Intelligenz? Intelligenz wurde bereits im antiken Griechenland als Persönlichkeitsmerkmal begriffen, als „Exhypnos“, Aufgewecktheit. Moderner ausgedrückt: als die Geschwindigkeit mit der Informationen verarbeitet werden können. In der modernen Psychologie wird diese Fähigkeit als Persönlichkeitsmerkmal verstanden, weshalb der Intelligenzquotient der Person als überdauernde Eigenschaft zugeschrieben wird. Intelligenz ist aber nicht nur angeboren, man kann sie auch schulen. Allerdings geht dies nur durch kontinuierliches Lernen und Einprägen.

Immer noch wird mit großer Ehrfurcht davon gesprochen, dass diese oder jene Person einen besonders hohen Intelligenzquotienten hätte. Dabei wurde der IQ-Test ursprünglich von dem französischen Psychologen Alfred Binet nur konstruiert, um eine Vorhersage über den Schulerfolg zu ermöglichen. Der Test misst nur das,  was der Psychologe, der ihn entwickelt hat, für Intelligenz hält.

Ähnliches gilt für Schulnoten. Gute Noten bedeuten, dass der Schüler die Aufgaben in der Schule bewältigt hat. Sie sind aber kein zuverlässiger Prädiktor dafür, dass der Schüler im wirklichen Leben Erfolg haben wird.

Was sind Emotionen?

„Richtig sieht man nur mit dem Herzen; das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.“ (Antoine de Saint-Exupery, Der kleine Prinz)

Die Evolutionspsychologen haben den Emotionen eine zentrale Rolle zugewiesen. Immer dann, wenn wichtige Entscheidungen anstehen, wenn mit Verlusten umgegangen werden muss, bei der langfristigen Verfolgung eines Ziels trotz Frustration – oder bei der Partnerwahl und in vielen anderen Situationen: „Jede Emotion weckt eine spezifische Handlungsbereitschaft, die uns in eine Richtung weist, welche sich in der Evolution angesichts von Umständen, die in jedem Menschenleben immer wieder vorkommen, gut bewährt hat…. Während unserer Evolution sind solche Situationen immer wieder aufgetreten, und so hat sich ein überlebenswichtiges Repertoire an Emotionen herausgebildet, die sich als angeborene, automatische Tendenzen des menschlichen Herzens in unsere Nerven eingeprägt haben“ (Goleman, S. 20).

Emotionale Intelligenz entsteht durch langsame Konditionierungsprozesse, durch Einprägung. Es nützt nichts, nur Vorträge über emotionale Intelligenz zu besuchen, man muss sie kontinuierlich einüben.

Da wir bereits wissen, dass die Verarbeitungsgeschwindigkeit ein wichtiges Kriterium für Intelligenz ist, bedeutet emotional intelligentes Verhalten, dass man eine Situation schneller erfasst als andere. Der Eine kommt z.B. in einen Raum mit mehreren Personen und spürt sofort die spannungsgeladene Atmosphäre, während ein Anderer dafür nicht sensibel ist . Das kann besonders bei introvertierten Menschen der Fall sein. Sie reagieren kühl wie der Silicium-Chip eines Computers, der seine Entscheidungen ausschließlich aufgrund von Berechnungen trifft. Die Überzeugung, Emotionslosigkeit stelle den Schlüssel für erfolgreiches Problemlösen dar, spukt zwar noch in vielen Köpfen herum, wird aber heute kaum noch ernst genommen.

Daniel Goleman hat den Begriff „Emotionale Intelligenz“ 1995 in die öffentliche Diskussion eingeführt. Der Begriff war „intelligent“ gewählt, weil Goleman auf Defizite in unserer Gesellschaft aufmerksam machen wollte, denen wir alle ziemlich ratlos gegenüber stehen. Durch die Verwendung des prestigeträchtigen Begriffes „Intelligenz“ in Verbindung mit „Emotion“ konnte er mit Aufmerksamkeit rechnen. Emotionen wurden bis zu Golemans Buch eher als hinderlich für eine rationale Weltbetrachtung angesehen. Im Grunde geht es ihm um die Rückbesinnung auf Werte, die unseren Vorfahren sehr wohl bewusst waren und von ihnen auch eingeübt und geschult wurden. Kinder sollen wieder lernen mit sich und ihrer Umwelt achtsam umzugehen und – vor allen Dingen erkennen, welche Gefühle ihr Verhalten steuern. Man könnte ebenso gut von Charakterbildung oder Erziehung zu selbstverantwortlichem Handeln sprechen. Begriffe und Werte, die in unserer Kultur immer eine große Rolle spielten und dann – vielleicht wegen der Enttäuschung über die Massaker der beiden Weltkriege – aus dem Blick kamen. Religionen, als Anleitung für ein gelingendes Leben, wurden lächerlich gemacht. Überhaupt gilt Moral heutzutage geradezu als Synonym für Unaufrichtigkeit. Man ist lieber „aufrichtig“ unmoralisch. Dennoch kommt keine Gesellschaft ohne moralische Standards auf Dauer aus. Sie sind als Richtschnur und Ideal unverzichtbar.

In unserer Shareholder-Value-Gesellschaft zählt nur der unmittelbare materielle Nutzen. Hohe Gewinne und viel Geld scheinen alles zu rechtfertigen. Bildung, Charakter, Rücksicht, Anstand, Einfühlungsvermögen, gute Umgangsformen werden in unseren Tagen nicht sonderlich belohnt. Man gerät in Gefahr von weniger sensiblen Zeitgenossen überrumpelt zu werden, wenn man sich solche Verhaltensnormen zu Eigen macht; – und sei es nur (symptomatisch) im Kampf um einen Parkplatz.

Emotionale Intelligenz sollte wieder geschult und durch Einprägung zu einer überdauernden Charaktereigenschaft herausgebildet werden, so wie der IQ ein Persönlichkeitsmerkmal ist, wäre dann der EQ Kennzeichen einer gesellschaftlichen Elite und Voraussetzung für Führungskompetenz. – Oder war emotionale Intelligenz immer schon ein Merkmal für erfolgreiche Führung?

Goleman rührt an offene Wunden, wenn er schreibt, „…dass der Zusammenhalt der Gesellschaft sich immer schneller aufzulösen scheint, in der Egoismus, Gewalt und Niedertracht die Qualität unseres Gemeinschaftslebens zu untergraben scheinen.“

Wird uns nicht täglich durch die Medien vorgeführt, wie jeder Impuls sofort ausgelebt werden kann? Gilt nicht als besonders gut, ein Kind „antiautoritär“ zu erziehen? Was letztendlich nur heißt, dass Kinder keine Frustrationen auszuhalten lernen, dass sie nicht fähig sind Belohnungen aufzuschieben, sich auf eine Sache längere Zeit zu konzentrieren, dass Disziplin ein „Hasswort“ geworden ist. „Autoritär“ wird meistens mit „Autorität“ verwechselt – danach allerdings verlangen Kinder und Jugendliche – und auch immer mehr Erwachsene – verzweifelt.

„Emotionale Intelligenz hat etwas zu tun mit dem Zusammenhang zwischen „Gefühl und Charakter und moralischen Instinkten“. (Goleman)

Nun wird heute gerne so getan, als ob Moral oder Altruismus nur etwas für frömmelnde Betschwestern sei. Ohne die Fähigkeit zur Empathie hätte die Spezies Mensch, ja nicht einmal eine Schimpansenhorde, überlebt. Selbstbeherrschung und Mitgefühl sind die Voraussetzung für das Zusammenleben in einer Gruppe. Wir Menschen sind auf einander angewiesen – das ist eine Plattitüde! Dazu müssen wir aber sowohl uns selbst richtig wahrnehmen, als auch die Emotionen anderer richtig deuten können. Beides muss gelernt werden, man nennt dies heute „Sozialisation“ – früher hieß es schlicht „Erziehung“. Übrigens etwas, das man bei jeder Katzen- oder Hundemutter beobachten kann.

Wir alle kennen die Situation: Wir sind gemütlich mit dem Auto unterwegs und genießen die Tatsache, dass wir Zeit haben. Da sehen wir im Rückspiegel, wie ein ungeduldiger Sportwagenfahrer dicht auffährt und trotz der unübersichtlichen Lage zum Überholen ansetzt. Automatisch geben wir Gas. Die innere Ruhe ist dahin. Wir zeigen dem „Raser“ dass wir mindestens ebenso schnell beschleunigen können wie er. Wir reagieren mit Flucht, obwohl der aufholende Wagen nur schneller weiterkommen will als wir.

Psychologen sagen in solchen Situationen spöttisch: „Jetzt hat der Fahrer wieder sein Reptiliengehirn eingeschaltet!“ Tatsächlich übernimmt in diesem Augenblick reflexartig ein Impuls, der von einer niedrigeren neuronalen Basis her kommt, die Steuerung des Verhaltens. Die Vernunft braucht einige Zeit, bis sie sich durchsetzt, denn die neuronalen Verschaltungen des Neokortex sind komplizierter und infolgedessen auch unklarer. Sie müssen mehrfach überprüft werden, bis eine Handlung ausgeführt werden kann. Die neuronale Primitivreaktion hingegen reagiert blitzartig und „überrumpelt“ das differenziertere Denken. Die starken Emotionen stammen aus dem Mandelkern (Amygdala), einem mandelförmigen neuronalen Gebilde oberhalb des Hirnstammes, nahe an der Unterseite des limbischen Ringes. Die zwei Mandelkerne (einer in jeder Gehirnhälfte) sind beim Menschen größer als bei unseren engsten evolutionären Verwandten, den anderen Primaten.

Hippocampus und Mandelkern waren die beiden entscheidenden Teile des primitiven „Riechhirns“, aus denen in der Evolution Kortex und Neokortex hervorgingen. Der Mandelkern ist Spezialist für Emotionen. Menschen denen die Amygdala operativ entfernt wurde können zwar Gespräche führen, die Wertigkeit einer Beziehung – selbst zur eigenen Mutter – wird aber nicht mehr gefühlt. „Der Mandelkern scheint als Speicher der emotionalen Erinnerung und damit der Sinngebung von Emotionen zu fungieren; … Am Mandelkern hängt nicht nur die Zuneigung – jegliche Leidenschaft hängt von ihm ab. Tiere, bei denen der Mandelkern entfernt (…) wurde, kennen weder Furcht noch Wut, verlieren den Antrieb für Wettbewerb und Kooperation und erkennen nicht mehr ihre Stellung innerhalb der sozialen Ordnung ihrer Art. …(Goleman, S. 33)

Wenn man sich dies vor Augen hält, könnte man angesichts mancher moderner Entwicklung die Frage stellen, ob wir heute zu einer Gesellschaft mutieren, die wieder in primitivere Verhaltensweisen regrediert, zur „Sibling Society“ wie es Robert Bly (1996) nennt, einer „Kindlichen Gesellschaft,“, die ihre Impulse nicht mehr beherrschen kann. Emotional intelligentes Verhalten wäre hingegen idealerweise reif und abgewogen, im Einklang mit sich und der Umwelt.

Was haben Emotionen und Intelligenz mit Führung zu tun?

„Führung ist zielbezogene Einflussnahme „ (Rosenstiel, Molt & Rüttinger, 1988). Werden die jeweiligen Ziele, (meist durch die Organisation oder das Unternehmen vorgegeben) erreicht, so ist damit auch gleichzeitig der Erfolg (im Zusammenhang mit der Führungsaufgabe) definiert. Dennoch: Ziele können noch so genau definiert sein, die Unternehmensberatung kann noch so präzise Handlungsanleitung geben; immer wieder stellt sich bei Mitarbeiterbefragungen heraus, dass es vom Führenden abhängt, ob Dienst nach Vorschrift abgeleistet – oder engagiert und verantwortungsbewusst gearbeitet wird.

80 – 95% der Arbeitszeit verbringen Vorgesetzte mit Kommunikation. Fachkompetenz wird dabei als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Dafür hat man schließlich Jura oder Ingenieurswissenschaften studiert. Unterschiede im Führungserfolg ergeben sich aus der Fähigkeit Mitarbeiter zu motivieren – besser noch: zu begeistern. Es genügt nicht mehr aus irgendwelchen Zufällen heraus „Chef“ zu sein. Ein guter Studienabschluss reicht auch nicht mehr aus. Führungsqualitäten sind nicht so einfach einzugrenzen und zu definieren.

Hierzu ein Fall aus meiner Praxis:

In einer internationalen Handelsgesellschaft wurde ein Einser-Jurist eingestellt. Dieser hatte eine Hochschulkarriere ausgeschlagen um zu beweisen, dass er nicht nur auf der Universität hervorragende Leistungen erreichen kann. Der Ausflug ins Wirtschaftsleben endete mit einem Desaster: Durch seine akademische Arroganz machte er sich bei Kollegen und Geschäftspartnern unbeliebt. Trotz seiner brillanten juristischen Kenntnisse war er als Verhandlungspartner bei wichtigen Geschäftsabschlüssen nicht zu gebrauchen. Fachkompetenz allein ist keine Garantie für Führungskompetenz.. Vielleicht wäre ein Hochschulposten geeigneter gewesen. Vielleicht könnte die zur Schau getragene juristische Überlegenheit sogar auf Studenten motivierend wirken. Dann wäre er, so könnten wir weiter spekulieren, im Sinne dieser Führungsaufgabe sogar als erfolgreich einzustufen. – Im normalen Geschäftsleben reicht aber rein kognitive Überlegenheit nicht hin, um ernst genommen zu werden.

Ein weiterer Fall:

Eine junge Frau aus der Medienbranche kommt in meine Praxis um Ihre Depression behandeln zu lassen. Ich kannte sie schon aus ihrer Studentenzeit, auch damals hatte sie ein vorübergehendes Tief auf Grund einer unglücklichen Liebesgeschichte. Die Störung konnte schnell behoben werden.

Inzwischen waren sechs Jahre vergangen. Sie ist mit einem Kollegen

verheiratet und beruflich war sie bis vor kurzem sehr erfolgreich. Ihre aktuelle Depression ist schlimmer als alles was sie bisher erlebt hatte. Sie befürchtete ihre Ehe zu zerstören und ihren Job zu verlieren. Sie konnte nicht mehr arbeiten. Sie konnte aber auch auf ihren Mann nicht mehr eingehen. Einerseits klammerte sie sich an ihn – andererseits ließ sie sich gehen. Sie erwartete von ihm „Rettung“ von etwas, was sie selbst nicht kannte. Immer wieder versicherte sie mir, dass sie keinen Grund für Ihre Depression wüsste.

Dann bat ich ihren Mann um seine Meinung. Da er mit ihr eng zusammen arbeitete konnte er Grund und Zeitpunkt des Ausbruchs der Depression schnell benennen: Sie wurde vor drei Monaten für zwei Filme, die sie im Ausland gedreht hatte von ihrem Vorgesetzten und den Kollegen heftig kritisiert. Ihr Mann kannte diese „Rituale“ (wie er sie nannte) bereits und nahm sich die Sache nicht so sehr zu Herzen. Er wusste, dass die Kollegen selten Zeit hatten, einen Film anzuschauen. Wenn dies aber geschah, wurde bei allen hart kritisiert. Dabei ging es nicht immer sehr fair zu. Seine Frau aber, die mit den Gepflogenheiten ihrer Branche noch nicht so vertraut war, nahm die Sache persönlich und brach unter dem Ansturm der negativen Kommentare völlig zusammen.

Wir konnten uns darauf einigen, dass sie ein klärendes Gespräch mit ihrem unmittelbaren Vorgesetzten führt. Unmittelbar danach waren drei Monate Stagnation, Depression und Verzweiflung wie weggeblasen. Sie konnte wieder arbeiten und die Filme innerhalb eines einzigen Wochenendes fertigstellen.

Dieses Beispiel zeigt, in welchem Ausmaß Geld und Arbeitskraft durch Kränkungen am Arbeitsplatz verschwendet werden. Die meisten Führungsmodelle haben ein klares Konzept der Rationalität – dabei kommt die Emotion zu kurz. An dem oben dargestellten Beispiel ist dem Vorgesetzten vieles aus dem Ruder gelaufen. Erstens hat er seine sarkastischen Kommentare gar nicht so ernst genommen. Er bemerkte nicht einmal, dass er damit seine erfolgsverwöhnte Mitarbeiterin kränkte. Zweitens hat er verkannt, dass sie die Kritik unvorbereitet traf und auch nicht gewohnt war. Drittens konnte aber auch die Patientin ihre Gefühle nicht richtig deuten. Sie bemerkte nicht einmal, dass die Depression eine Folge der Kritik ihrer Kollegen und Vorgesetzten war. All diese Faktoren (und noch einige mehr) führten zu einem totalen Arbeitsausfall und einer persönlichen Krise der zweifellos fähigen jungen Frau.

Oft sind es gerade die Erfolgreichen, die sich Kritik sehr zu Herzen nehmen. Gerade sie sind ja besonders engagiert und versuchen gute Arbeit zu machen. Sie strengen sich über alle Maßen an. Weil sie aber so erfolgreich dastehen bekommen sie selten Lob und Anerkennung. Man denkt: „die wissen ohnehin, dass sie gut sind. Man muss es ihnen nicht auch noch sagen.“ Das ist ein großer Irrtum! Je höher die Position umso weniger Anerkennung bekommt man im Allgemeinen. Dies sollte bedacht werden, wenn man kritisiert. Selbstverständlich muss sachliche Kritik geäußert werden, wo etwas im Argen liegt, allerdings sollte sie in konstruktiver Weise erfolgen.

Um Ihnen den Kränkungsmechanismus zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen in

Anlehnung an Evelyn Kroschel ein Motivationsmodell vorstellen, das in eleganter Weise Führungsanforderungen mit emotionaler Intelligenz verbindet:

Jeder Mensch wird durch einige wenige Grundbedürfnisse mehr oder weniger gesteuert. Diese Grundmotive sind polar angeordnet, so dass immer ein Spannungsverhältnis besteht. Ich habe diese Grundmotive im Gegensatz zu Kroschel verkürzt auf das Bedürfnis nach Bindung (das sehr viele differenziertere Begriffe wie z.B. Liebe oder Loyalität mit umfasst) und im Gegensatz dazu – auf dem anderen Pol – das Bedürfnis nach Freiheit, worunter man auch wieder viele weitergehende Motive subsummieren kann, wie z.B. Autonomie, Individualität, aber auch Spiel und Spaß. Das zweite Hauptmotiv wäre Sicherheit und Besitz im Gegensatz zum Bedürfnis nach Neuigkeit und Leisten-wollen. Auch diesen beiden Hauptbegriffen sind viele ähnliche Motive zuzuordnen.

Die Spannung zwischen den Gegensätzen ist nie ganz aufzulösen. Idealerweise sollte man die Möglichkeit haben zwischen den Polen, etwa um die Mitte herum, etwas hin- und her zu wandern. Wir befinden uns – je nach Bedürfnislage – immer mehr auf der einen oder anderen Seite. Je nach Lebenskonzept und Entwicklungsstadium spielen bestimmte Motive eine stärkere Rolle als andere. So kann z.B. ein Mensch, der in der Kindheit Krieg und Enteignung erlebt hat, möglicherweise allzu sehr auf dem Sicherheitspol fixiert sein und dadurch neuen Entwicklungen äußerst misstrauisch gegenüber stehen. Er versucht möglichst jedes Risiko vermeiden, was zu Zwanghaftigkeit, Dogmatismus und Pedanterie führt. Andererseits wird er aber gerade seine Sicherheiten umso mehr riskieren, je weniger er Neuem gegenüber aufgeschlossen ist. Seine Besitztümer könnten sehr schnell an Wert verlieren, wenn er sich nicht genügend informiert. Dies gilt auch für das „Hergeben“ bzw. Leisten-wollen.  In Bezug auf das jeweilige Entwicklungsstadium wäre zu berücksichtigen, dass ein junger Mensch verständlicherweise gerade besondere Bedürfnisse hat, die dem Freiheitspol zuzuordnen sind. Emotional intelligente Personen erkennen solche Bedürfnisse und vermeiden nach Möglichkeit besondere Frustrationen auf diesem Gebiet. Allzu starke Fixierung auf einer Pol-Seite bringt andererseits immer eine Frustration des Gegenpols mit sich und es folgt eine unheilvolle Kränkungsspirale. Je mehr ein Partner klammert, umso mehr wünscht sich der andere Freiheit. Je rigider Eltern mit ihren Kindern umgehen, umso unverantwortlicher benehmen sie sich – usw.

Wenn unter Führung „zielbezogene Einflussnahme“ zu verstehen ist, dann stellt sich die Frage, wie man Ziele erreicht. Die Schlüsselqualifikation heißt „Soziale Kompetenz“. Welches konkrete Verhalten zeigt auf, ob jemand sozial kompetent ist?

Soziale Kompetenz setzt voraus, dass ich die psychischen Grundbedürfnisse meiner Mitarbeiter erkenne und so weit wie möglich berücksichtige. Menschen mit sozialer Kompetenz schreibt man „natürliche Autorität“ zu. Sie ist nicht angeboren sondern erlernt (vielleicht von einem Vorbild).

Natürliche Autorität beruht auf zwei Säulen

                      Mut                                                                               Fähigkeit

zum entschiedenen                                                              für andere ein

selbstverantwortlichen Handeln                                        „Bedürfnisbefriediger“ zu sein

Selbsterkenntnis, Achtsamkeit und                           Erkenntnis und Würdigung fremder

Akzeptanz einer gegenseitigen                                                 Wirklichkeiten

Abhängigkeit                                                               Kränkungsfreies Verhalten

Kognitive Intelligenz (IQ) entsteht durch den Aufbau einer Wissensstruktur; emotionale Intelligenz (EQ) durch den Aufbau „nährender Felder“ (Kroschel) für sich selbst und die Mitarbeiter; – und durch Sensibilisierung für „toxische Felder“ um sie nach Möglichkeit  zu vermeiden. Wenn eines der Grundmotive frustriert wird, löst dies eine Kränkung aus. Kränkungen sind nicht immer zu vermeiden. Eine Führungskraft muss aber wissen, welche Dynamik damit in Gang gesetzt wird. Dann kann sie auch manche –scheinbar irrationale – Reaktion besser verstehen:

Eine Kränkung löst gleichzeitig vier Reaktionen aus:

Blockade  –  Schmerz  –  Aggression  –  Scham.

Dabei läuft meistens nur ein Prozess bewusst ab. Am häufigsten ist die Blockade zu beobachten, wie im Fall der Filmregisseurin.

Bei der Blockade werden Assoziationen zu verdrängten ähnlichen früheren Erlebnissen hervorgerufen. Diese Verdrängung erfordert einen hohen psychischen Energieaufwand. Als Folge stellt sich eine Reduzierung der Reaktions- und Handlungsfähigkeit ein. (Am nächsten Tag fällt einem dann die schlagfertige Antwort ein. Dann ist es aber zu spät).

Wie jede körperliche Verletzung verursacht auch jede psychische Kränkung Schmerz. Wir sind aber durch unsere Erziehung für die psychischen Verletzungen eher desensibilisiert. (Indianer kennen hingegen keinen körperlichen Schmerz). Folge der Verdrängung sind Ängste, Niedergeschlagenheit, Energielosigkeit, Depression, Zwänge, Süchte und Mitleidlosigkeit.

Scham geht mit Verlust der Selbstachtung einher. Angst vor Misserfolg, anstelle Erwartung auf Erfolg bestimmt das Handeln. Die Risiko- und Lernbereitschaft wird gehemmt. Neugier und Offenheit sind eingeschränkt. Konfliktfähigkeit nimmt ab. Intoleranz gegen sich selbst führt zur Unfähigkeit eigene Fehler oder Unwissenheit einzugestehen. Dadurch fehlt die Gelassenheit sich rechtzeitig Informationen und Hilfe zu beschaffen.

Die Aggression richtet sich entweder direkt gegen den Kränker als Rache, z.B. als Abwertung, oder man sucht sich dafür Verbündete. Intrigen werden angezettelt oder Forderungen und Wünsche sabotiert. Die Aggression kann sich aber auch gegen Unbeteiligte richten. (Der Herr schlägt den Hund und meint den Chef –oder brüllt die Kinder an – oder, (was besonders häufig vorkommt) er wird zum Horror-Autofahrer, für den jeder andere Verkehrsteilnehmer ein Vollidiot und was sonst noch alles ist). Damit wird bei diesen dieselbe Dynamik in Gang gesetzt.

Im Fall der Filmemacherin können wir alle Reaktionen sehr gut beobachten. Ihre Arbeitsunfähigkeit war u.a. auch eine Aggression gegen den Arbeitgeber. Die Depression eine gegen sich selbst gerichtete Aggression. Die Eheprobleme entstanden, weil sie die Aggression nicht direkt bei ihrem Vorgesetzten ausleben konnte und sie daher auf ihren Mann verschob, der ihr nichts mehr recht machen konnte usw. usw.

Wir können also schlussfolgern: Erstens muss ich wissen, dass es Grundbedürfnisse gibt und zweitens muss ich versuchen, meine Mitarbeiter hinsichtlich dieser Motivlage weitestgehend zu befriedigen. Ich muss also ein „Bedürfnisbefriediger“ sein. (Übrigens hat das jeder gute Verkäufer immer schon gewusst).

Wie erkenne ich nährende bzw. toxische Felder? Wenn ich mich schlecht fühle befinde ich mich in einem toxischen Feld. Aber ich muss es erst einmal wahrnehmen können. Das haben die meisten von uns bereits verlernt. Sie wurden dazu erzogen gut zu funktionieren und haben die Achtsamkeit auf die eigene Bedürfnis- und Befindlichkeitslage nicht mehr eingeübt.

In nährenden Feldern fühle ich mich sicher und geborgen. In toxischen Feldern hingegen ausgegrenzt oder im Stich gelassen. Nährend ist mein Umfeld wenn man mich wertschätzt und anerkennt. Toxisch hingegen bedeutet, dass ich mich klein und minderwertig fühle. Ebenso verhält es sich mit Vertrauen im Gegensatz zu Unsicherheit, Angst oder Einengung. Das Gefühl Einfluss nehmen, mitreden zu können ist wohltuend, bei Misstrauen oder Resignation ist die Atmosphäre vergiftet. Entscheidung vs. Ohnmacht, Faszination und Begeisterung lässt meine psychische Energie wachsen und führt zu Vitalität und Arbeitsfreude. Bei Überforderung hingegen fühle ich mich kraftlos, belastet, demotiviert, niedergeschlagen und krank. Es ist wichtig zu erkennen, ob das mich umgebende Feld – sei es im privaten oder im beruflichen Bereich – auf mich einen nährenden, d.h. belebenden Einfluss hat oder ob es mich schwächt und somit toxisch wirkt. Erfolgreiche Menschen erkennen im allgemeinen schneller als weniger erfolgreiche, wenn ihre Umgebung für sie schädlich ist. Sie versuchen dann entweder die Bedingungen zu ändern oder sie verlassen die für sie ungute Situation. Wichtig ist, dass sie sich nur so kurz wie möglich den ungünstigen Verhältnissen aussetzen. Sie entscheiden sich sehr schnell für eine positive Veränderung, während die weniger Erfolgreichen viel zu lange in einem toxischen Feld ausharren.

Als Vorgesetzter binden Sie Ihre Mitarbeiter an sich, indem Sie das Umfeld „nährend“ gestalten. Das Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ setzt voraus, dass man sich selbst überhaupt wahrnimmt und die eigenen Bedürfnisse liebevoll annimmt.

Erlauben Sie mir Ihnen eine kleine Anregung zur Selbsterfahrung vorzustellen. Ich möchte Sie dazu einladen zu erfühlen wie es Ihnen gerade geht:

Zunächst bitte ich Sie, sich zu sammeln und ganz auf sich und ihre körperliche Befindlichkeit zu konzentrieren. Versuchen Sie nicht zu analysieren, sondern achten Sie nur auf ihren Organismus. Dort gibt es eine wahrnehmende Instanz, die Ihnen signalisiert, ob Sie sich jetzt in angespannter oder angenehmer Stimmung befinden. Wenn Sie innerlich zur Ruhe gekommen sind, stellen Sie sich vor, dass Sie für kurze Zeit alle Belastungen, die Sie mit sich herumschleppen, vor sich abstellen. Bitte stellen Sie sich das bildlich genau vor. Sie sollen Ihren Problemen nicht davonlaufen und sie nicht verdrängen. Sie sollen nur fühlen wie es ist, wenn ein Lastenträger seine Last für eine kurze Ruhepause abstellt. Wie fühlt sich das körperlich an? Bitte beachten Sie nur ihr Körpergefühl. … Sie können sich dieses Gefühl merken, sich immer daran erinnern wie es ist, wenn man für einige Zeit befreit ist. … Sie haben nun Ihre Probleme vor sich stehen. Die Probleme sind nicht Sie selbst! Spüren Sie körperlich die Distanz zwischen Ihnen und Ihren Problemen. Sie können sie nun eines nach dem anderen genauer ansehen und mit dem nötigen inneren Abstand vielleicht auch bearbeiten. – Aber vorläufig atmen Sie tief durch und merken sich das Körpergefühl – sonst nichts! Sie werden Sich danach besser und erfrischt fühlen und spüren, was Achtsamkeit in der Praxis bedeutet.

 

Zitierte und weiterführende Literatur:

Bly, Robert: Die kindliche Gesellschaft. Kindler, München. 1997
Csikszentmihalyi, Mihaly: Optimal Experience. Cambridge University Press. 1988
Cube, Felix von: Besiege deinen Nächsten wie dich selbst.  Piper, München. 1988
Goleman, Daniel: Emotionale Intelligenz. Hanser, München. 1996
Hejj, Andreas: Traumpartner – Evolutionspsychologische Aspekte der Partnerwahl. Springer, Heidelberg, 1996.
Kroschel, Evelyn: Die Weisheit des Erfolges. Kösel, München. 1996
Peters, Thomas, J. and Waterman, Robert H. Jr.: In Search of Excellence. Harper & Row, New York. 1982
Rosenstiel, Lutz von, Regnet, Erika, Domsch, Michael (Hrsg.): Führung von Mitarbeitern. Schäfer-Poeschel, Stuttgart. 1995
Schoch, Anna: Perspektiven für erwachsene Männer. Orell Füssli, Zürich 1997
Schoch, Anna: Perspektiven für erwachsene Paare. Orell Füssli, Zürich, 1998