Aufstellungen

Aufstellungen, Schamanismus, Spiegelneurone: Regression in die Archaik?

C. G. Jung hat sich intensiv mit indigenen Kulturen in Afrika, Indien, China und Nordamerika nicht nur theoretisch, sondern auch durch eigene Anschauung auseinandergesetzt. Auch unsere eigenen geistigen Wurzeln aus frühchristlicher Zeit und dem Mittelalter hat er mit diesen Erfahrungen verglichen. Um sein großes Wissensspektrum abzurunden, erwarb Jung durch intensiven Austausch mit dem Physiker Wolfgang Pauli (Nobelpreis 1945 für das Ausschließungsprinzip/Pauli-Prinzip) tiefe Einsichten in die Zusammenhänge von Geist und Materie.

In der von Aniela Jaffé herausgegebenen Jung-Biographie findet sich die Anmerkung, dass man unbewusste Inhalte personifizieren und mit ihnen in Dialog treten müsse. Dieser geniale Kunstgriff kann als Grundstein und perfekte Anleitung zum heute so weit verbreiteten Familienstellen angesehen werden.

 Insbesondere durch die Bewegung um Bert Hellinger wurden Familienaufstellungen weltweit vorangetrieben, obgleich er und seine Methode oft hart kritisiert wurden. Diese Kritik war manchmal unfair, manchmal aber auch dringend notwendig. Gerade durch die heftigen Angriffe und die öffentliche Aufregung, sind viele neue, fruchtbare Ansätze in Therapie und Beratung entstanden.

 Was sind Aufstellungen?

Aufstellungen sind hochwirksame (therapeutische) Verfahren. Der Klient wählt ihm fremde Personen aus einer Gruppe aus. Im vorgegebenen Feld, (meistens der Kreis, um den die Gruppe sitzt) werden die ausgewählten Personen so platziert, wie es dem Klienten intuitiv passend erscheint. Es ergibt sich dadurch ein Muster durch das erkennbar wird, wie der Klient die Beziehungen innerhalb seines Familiensystems wahrnimmt. Die neutralen, (unwissenden) Personen fungieren als Stellvertreter für die Angehörigen im jeweiligen System. Der Klient betrachtet die Szene von außen und nimmt (zunächst) nicht aktiv am Aufstellungsprozess teil.

 Der Therapeut belebt und verändert die Szene durch Fragen und Hinweise. Durch Umstellen der Repräsentanten/Stellvertreter, wird versucht, eine Lösung für die bestehenden Konflikte zu finden. Hierzu ist es erforderlich, das dargestellte System in eine – wie Hellinger es ausdrückt – „Ordnung“ zu bringen, die allen daran Beteiligten gut tut und so eine Entlastung herbeiführt. Durch diesen Prozess und durch die bildlich dargestellte Veränderung der Beziehungsstruktur, bekommt der Klient eine andere Sichtweise auf sein Problem. Das aufscheinende Lösungsbild mit der veränderten Anordnung der aufeinander bezogenen Personen zeigt, wie eine Veränderung der verfahrenen Situation aussehen könnte und welche Wirkungen sie hat.

 Es wird immer wieder berichtet, dass im Anschluss an eine Aufstellung plötzlich jahrelange Beziehungsblockaden durchbrochen werden, wobei die Initiative oft von Angehörigen ausgeht, die von der Aufstellung nichts wissen. Es gibt aber auch oft den Wegfall von Krankheitssymptomen, wie z.B. Neurodermitis, Asthmaleiden, Herzbeschwerden oder Rückenschmerzen u. v. A. m.. (Solche Effekte finden sich selbstverständlich auch nach einem guten Gespräch mit einem wohl gesonnenen Freund oder Therapeuten.

 Das ganze Szenario erinnert an die Anfänge der Hypnose, die, nachdem sie der ärztlichen Anwendung und Aufsicht entglitten war, unter der Hand weiter von Schauhypnotiseuren betrieben wurde und dadurch in Verruf geriet. Das Odium der esoterischen Spielerei ist (bei der Hypnose) inzwischen weitgehend verschwunden – insbesondere, seitdem ihr eine Abrechnungsnummer in der Gebührenordnung zugeteilt ist – das sicherste Zeichen für öffentliche Anerkennung.

 Es gibt auch unter Hypnose unerklärbares Wissen und Erinnerungen, ähnlich wie in Aufstellungen.

 Das wirft Fragen auf: Sind hier etwa „übernatürliche Kräfte“ am Werk? Woher haben die aufgestellten Repräsentanten so detaillierte Informationen über ihnen völlig unbekannte Personen? Handelt es sich um schamanische Praktiken? „Spukhafte Erscheinungen“, wie Einstein ironisch zu sagen pflegte, wenn zwei quantenmechanisch verschränkte Teilchen gleichzeitig – entfernungsunabhängig – aufschienen. Dazu eine Anmerkung von Prof. Paul Kienle, vom Physik-Department der TU München: „Eigentlich kenne ich nur quantenmechanisch verschränkte Teilchen, aber Teilchen sind auch Felder und Felder übertragen Information, vielleicht auch Gedanken …“.

 Medizinmänner und Heiler benutzen seit Urzeiten Stellvertreter, z.B. eine Puppe, in die sie die Krankheit „hinein legen“. Sie wird dann Dämonen oder Ahnengeistern geopfert, um diese zu befrieden und vom Kranken abzulassen. Hierbei handelt es sich nur um eine von vielen anderen schamanischen Praktiken; .

 Damit der Zauber beim Schamanen gelingt, werden – je nach Überlieferung – unterschiedliche Techniken benutzt, die den Medizinmann in Verbindung mit den Ahnengeistern, Totemtieren oder sonstigen Dämonen bringt. Zur Herstellung einer solchen Verbindung gehören u. a. Trommeln, Gesang, Tanz, die Schwitzhütte, Fasten, Atemtechniken und verschiedene psychedelische Drogen und Gifte, die in einen hypnotischen oder halluzinatorischen Zustand versetzen.

  Wir kennen Residuen solcher Rituale auch aus unserer traditionellen Kirche, in der symbolisch (darüber gibt es bekanntlich Streit) mit Wein, geweihtem Wasser, Weihrauch, bestimmten Umrundungen des Altars, Reliquien (siehe Amulette), (magischen) Gebetsformeln auch an bestimmten, oft heidnisch überkommen Kraftorten, (an denen christliche Kirchen errichtet wurden), das Heil, die Ganzheit herbeigeführt werden soll. – Den Erfolg dieser Praktiken bezeugen unzählige Wunderheilungen, die dann auch eine entsprechende Begründung finden: „Dein Glaube hat dir geholfen!“

 Schamanismus ist die älteste Form von Religion. Es wird damit begonnen haben, dass Menschen mit ihren Angehörigen auch nach deren Tod in Kontakt bleiben wollten. Der Schamane konnte mit anderen unsichtbaren Welten in Verbindung treten. Schamanen wussten immer den Weg, um Krisen zu lösen und Krankheiten zu heilen, d.h. die Ganzheit des Kranken wieder herzustellen. Die Vorstellung war in etwa so, dass ein Teil der Seele des Patienten fehlte oder von Dämonen geraubt worden war. Exorzismus, die Teufelsaustreibung, gehört auch zu den Heilungspraktiken, die schon Schamanen verwendeten. Sie treiben auch Dämonen aus. Die Ähnlichkeit mit vielen modernen psychotherapeutischen Verfahren ist unübersehbar.

 Wie könnte das Aufstellungsphänomen, das so sehr an schamanische Praktiken erinnert, mit etwas moderneren Erklärungen auch aufgeklärten Geistern zugänglicher werden? Vielleicht findet sich eine Antwort bei den von Giaccomo Rizzolatti entdeckten Spiegelneuronen: Nach J. Bauer (S. 116, f.) sind es „…Spiegelneurone, die in einem anderen Menschen ergänzende Gedanken auslösen.“…“ Abläufe oder Geschichten im Leben eines Menschen können, auch wenn bestimmte Abschnitte nicht sichtbar bzw. verborgen sind, durch die Spiegelneurone einer miterlebenden oder mitfühlenden Person komplementär ergänzt und damit intuitiv verstanden werden. Dies setzt allerdings voraus, dass die offen sichtbaren Teile der Geschichte genügend Anhaltspunkte bieten.“

Wäre mit Spiegelneuronen das Geheimnis schamanischer Heilerfolge, das verblüffend stimmige Wissen eines guten Schamanen zu erklären?

 Ähnlich den Vorstellungen eines Schamanen, der die Ahnen zu Hilfe ruft, wird in einer Familienaufstellung 

1) eine Regression in die Vergangenheit herbeigeführt und – im günstigen Fall – wird

2) durch eine neue, stimmige Anordnung der Repräsentanten, der Konflikt im bestehenden System überwunden. Die Lösung ist dann vollbracht, wenn sich alle am System beteiligten Personen gut fühlen.

 Die neurobiologischen Resonanzphänomene, die durch Spiegelnervenzellen eine blitzartige Einschätzung von Gedanken, Intentionen und Handlungsabsichten unseres Gegenübers ermöglichen, sind zuerst nur intuitive Erkenntnis. So läuft auch eine Aufstellung mehr tastend und in einem wechselseitigen Aufnehmen und spiegelndem Zurückgeben von Signalen zwischen Therapeut und Klient ab.

 Man könnte aber auch den Biochemiker und Zellbiologen Rupert Sheldrake für einen Erklärungsversuch heranziehen: Seine Theorie von der Entstehung der Formen in der Natur, (Originaltitel: „The Presence of the Past“) führt den Begriff der so genannten „morphischen Felder“ ein.

Für die Aufstellung gilt dann folgendes Phänomen: Wenn man in ein Feld gestellt wird, das ein bestimmtes System repräsentiert, übernimmt man an diesem Platz automatisch die Rolle, die das jeweilige System vorschreibt.

 Typische Muster sozialer und kultureller Organisationen – wir nennen sie auch Systeme – bilden so ein Feld. Bei Moden, Kulten, politischen Bewegungen und Gruppierungen aller Art sprechen Soziologen von kollektivem Verhalten.

 Sheldrake zitiert Elias Canetti, der mehrere Arten von Massen mit ganz verschiedenen Eigenschaften unterscheidet. Unter dem Gesichtspunkt seiner Hypothese fasst er sie als verschiedene Arten von Massen-Feldern auf. Eine dieser (Massen)-Grundtypen ist die so genannte offene Masse:

„Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, ….sobald sie besteht, will sie aus mehr bestehen. Der Drang zu wachsen ist die erste und oberste Eigenschaft der Masse…“ …“Die offene Masse besteht, solange sie wächst. Ihr Zerfall setzt ein, sobald sie zu wachsen aufhört.“

 Dieser Masse gegenüber stellt Canetti die geschlossene Masse:

„Diese verzichtet auf Wachstum und legt ihr Hauptaugenmerk auf Bestand. Was an ihr zuerst auffällt, ist die Grenze …“ … „Die Masse besteht, solange sie ein unerreichtes Ziel hat.“

 Diese Theorie könnte man auch für offene- bzw. geschlossene Systeme verwenden und damit gewisse Gesetzmäßigkeiten in Familiensystemen oder anderen Organisationen beschreiben. Das morphische Feld, in dem das jeweilige System wirkt, wäre der Raum, innerhalb dessen um Erhalt oder Erweiterung gerungen wird. Daraus entstehen Konflikte: Ordnungen werden durchbrochen, was wiederum vom System geahndet wird, z. B. mit Schuldgefühlen, Heimweh, Depression etc.. Wer die Regeln verletzt, muss vielleicht auch ein Opfer bringen, damit dem System Genugtuung widerfährt. Vielleicht verlangt dies unser archaisches Unterbewusstsein, in dem sich Dämonen, Ahnengeister oder Götter tummeln. Genau wissen wir es nicht. Zugänglich ist es nur über Märchen, Träume, Kunst und unsere Phantasie.

 Könnte dies alles bedeuten dass wir uns auf unsere Modernität zu viel einbilden? Ist der Esoterik-Boom ein Hinweis darauf, dass das starke Bedürfnis nach der archaischen Welt fest in uns verwurzelt ist und in unseren tieferen Seelenschichten darauf wartet, wieder belebt zu werden?

 Die Postmoderne, die bekanntlich alles infrage stellt, scheint dieses Bedürfnis umso stärker hervorzurufen, je nüchterner sie uns der kalten Erdkugel, der „entzauberten Welt“ (M. Weber) aussetzt und als einzigen Schutz den Intellekt anbietet.

 Der Verlust unserer Religion könnte uns weit mehr gefährden, als dies je durch die Kirchen mit ihren (vom modernen Menschen nicht mehr hinnehmbaren) Dogmen der Fall war. Nachdem im Geist der Aufklärung die überkommene Religion und ihre Kirchen erfolgreich bekämpft wurden, kehrt alles, was an Absurditäten und primitivem Aberglauben denkbar ist – sozusagen durch die Hintertür – wieder zurück. All die Besessenheiten (im doppelten Sinn) wie Sex-Mails, Kinderpornographie, Killerspiele aus dem Internet, Satanskulte, Blutrituale, Exzesse der vielfältigsten Art und höchst gefährliche Sekten, haben wohl ihren Ursprung in der Sehnsucht nach Ekstase, um Zugang zu den ewigen Wahrheiten zu finden, die wir nur im perennierenden Urgrund unseres Menschseins vermuten können.

 In Zeiten persönlicher Krisen ist es modern geworden, alternative Hilfsangebote in Erwägung zu ziehen. Wir suchen in exotischen Ländern Wahrsager, Medizinmänner und Wunderheiler auf. Aber auch bei uns blüht das Geschäft mit weisen Frauen, Hexen und Schamanen. Die explodierende Heilpraktiker-Szene, die alternative Medizin und die unzähligen Heil- und Heilsangebote zeugen davon, dass auch im modernen Menschen eine unausrottbare Sehnsucht nach Wundern steckt. Inzwischen ist man viel toleranter geworden. Die aktuelle Psychoszene kommt diesem Bedürfnis entgegen. Für unseren modernen Geist gilt also auch, was Samuel Hahnemann schon vor 200 Jahren feststellte: „Wer heilt hat Recht!“ – Oder besser noch Jean Baptiste Alphonse Karr, dem Journalisten und Herausgeber des Figaro: „Plus ca change, plus c’est la meme chose!“

 

Literatur:

Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2005

Canetti, Elias: Masse und Macht, Claassen, 1960

Jaffé, Aniela: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. 10. Aufl., Walter, Zürich, 1997

Nelles, Wilfried: Die Hellinger Kontroverse. Herder, Freiburg, 2005

Sheldrake, Rupert: Das Gedächtnis der Natur. (Originaltitel: The Presence of the Past.) Scherz, Bern, München, Wien, 4. Aufl. 1991