Von Gott verlassen

„Über Gott und die Welt“

Vortrag gehalten auf der 37. Jahrestagung der DGPA, Deutschsprachige Gesellschaft für Kunst und Psychopathologie des Ausdrucks e. V.,  in Berlin, Charité vom 28.-31. Oktober 2004

Vor seiner tragischen Erkrankung stellte Nietzsche fest: „Gott ist tot“; – und schuf sogleich seinen eigenen Götzen, Zarathustra, damit er nicht doch völlig verlassen war. (Dieser Gedanke entstammt einer Veröffentlichung von C.G. Jung).

Seit Nietzsche ging Gott allerdings auch den „breiteren“ Bevölkerungsschichten der westlichen Welt weitgehend verloren. Dies wurde lange Zeit als Fortschritt für die individuelle Entwicklung begrüßt, ob jedoch die breiteren Bevölkerungsschichten mit dieser Gottverlassenheit zurecht kommen, darüber gibt es wenig Auskunft. Nicht jeder hat gleich einen Ersatzgötzen zur Hand.

Ist der eifernde Gott noch aktuell, der an oberste Stelle im Dekalog fordert:  „Du sollst keine andern Götter haben vor mir!“?

Wenden wir dieses uns heute so unsinnig erscheinende altertümliche Gebot vom Theologischen ins Profane so stellt sich die Frage, ob die Forderung etwa dazu dienen könnte, uns vor psychischen Erkrankungen zu bewahren. Vielleicht erscheint es lächerlich, sich mit Gott zu beschäftigen in einer Zeit, da Religion nur noch etwas für Kirchgänger zu sein scheint, die es nur noch dort zu geben scheint, wo sakrale Kunstwerke zu besichtigen sind. Dort brennen allerdings auffallend viele kleine Kerzchen. – Man glaubt zwar offiziell nicht und nichts mehr, – aber es “soll doch helfen, auch wenn man nicht daran glaubt“. (So Nils Bohr zu seinen Studenten, als sie ihn wegen eines Hufeisens über seiner Haustür ansprachen).

Unser Gott, den wir uns viele Jahrhunderte lang gründlich abtrainiert haben, wozu die Amtskirche kräftig mitgeholfen hat, hat in unserer Gesellschaft eine auffällige Leere hinterlassen. Der Nachrichtensender des Bayerischen Rundfunks wirbt beispielsweise in ständigen Wiederholungen mit dem Slogan: “Denn in 15 Minuten kann sich die Welt verändern!“. (Klingt das nicht nach religiösem Eifer?) Warum ist es so wichtig nichts zu verpassen? – Es geht in Wirklichkeit um die zwischengeschalteten Werbespots! Dafür sollen wir uns den ganzen Tag an den Sender halten. Sonderbarerweise tun das auch viele Menschen ohne den Trick zu durchschauen. Was sie aber uneingestanden erhoffen sind Sinnangebote die vermittels irgendeiner grandiosen Neuigkeit, alles verändern könnten.

Es wird wieder vermehrt nach Sinn, nach Religion, ja vielleicht sogar nach einer Kirche, für die man sich nicht genieren und rechtfertigen muss, gesucht. Dabei hat sich eine esoterische Bewegung entwickelt, in der alles geglaubt wird: Hexen- und Satanskulte, schwarze- und weiße Magie, Tarot, Schamanismus, Wahrsagerei, Reiki, Astrologie und unzählige andere okkulte Phänomene und Techniken werden auf dieser Sinnsuche in Anspruch genommen. Dies alles nennt man dann Spiritualität – was immer auch damit gemeint ist.

Unsere aktuelle, gerade im Sinken begriffene Religion, die Sinnstiftung der letzten Jahrzehnte, geht von der (schon im Alten Testament als Frevel angeprangerten) Ideologie eines Götzendienstes aus. Zur Erinnerung: Als Moses vom Berg mit seinen Gesetzestafeln herabstieg, sah er, wie das Volk um das „Goldene Kalb“ tanzte. Der Götze hieß Gold – Geld – Erfolg. Geradeso wie in den letzten Jahren des Börsenbooms, als sogar solide Großväter ihre Ersparnisse Aktienspekulanten anvertrauten. Der darauf folgende Kater führte in eine kollektive Depression.

Das Credo der letzten Jahrzehnte hieß Erfolg. Erfolg wurde dokumentiert durch materielle Statussymbole. Früher war man stolz darauf, als Handwerker, Kaufmann oder Lehrer in die auf religiöse Werte ausgerichtete Gesellschaft eingebettet zu sein und einen sinnvollen Beitrag zum Ganzen, zur höheren Ehre Gottes, zu leisten. Heute muss man schon ein Superstar sein – zur eigenen Ehre. Das führt geradewegs zum Daniel-Kübelböck-Syndrom. Es geht nicht mehr darum, was einer kann, sondern wie er es vermarktet. Die Botschaft unzähliger Motivationsbücher, die letztlich auch eine Art von Religionsersatz sind, lautet: Du kannst alles schaffen, was Du dir vornimmst. Es gibt keine Einschränkungen in Bezug auf Talent oder Neigung. Erfolg wird ausschließlich am Geld gemessen und so heißt das heutige Berufsbild: „Geldverdienen“, nicht etwa ein Werk vollbringen. Amerikaner pflegen zu Intellektuellen gerne etwas herablassend zu sagen: When you are so smart, so why ain’t you rich? Bildung gilt nichts. Sie zählt nur im Hinblick darauf, wie viel Geld damit zu verdienen ist. (Dazu passt die aktuelle Debatte zur Schließung der geisteswissenschaftlichen Fakultäten an unseren Universitäten; – und auch die Frage nach der Kontinuität unserer Gesellschaft.)

Wir haben eine Orientierungskrise! Das Absterben der auf religiöse Werte ausgerichteten Lebensführung hat uns eine kurze Erfolgstory beschert, aber eine innere Öde hinterlassen. Jetzt wissen wir nicht mehr, wie es weiter gehen soll.

Es stellt sich also auch im Gradmesser des Erfolges, beim Geld, so dar, wie Calvin gepredigt hat: Es gibt nur wenige, die „prädestiniert“ sind. Aus dieser Haltung heraus können sich Top-Manager ohne weiteres Millionengehälter genehmigen und gleichzeitig tausende von Arbeitern entlassen. So ist sich jeder nur noch selbst verantwortlich und kann nur durch eigene Anstrengung zeigen, ob er zu den „Auserwählten“ oder zu den „Verworfenen“ gehört. (Max Weber)

Arbeitslosigkeit wird immer noch nicht als kollektives Schicksal empfunden, sondern als persönlicher Misserfolg. Dieses nicht sehr christliche „von Gott verlassene“ Denken macht die Menschen so mitleidlos, ihre Lage so hoffnungslos. Wir wissen nicht, was wir ohne Erfolg anfangen sollen. Ein Ausweg ist nicht in Sicht. Wir haben keinen Moses, der mit Gesetzestafeln vom Berg herabsteig!. … Der Mythos besagt allerdings, er habe in seinem Zorn, als er das Volk um das Goldene Kalb tanzen sah, die Tafeln zerschlagen.

Können wir darauf hoffen, dass es uns gelingt, die Scherben einer christlich-abendländischen Werteordnung wieder neu zusammenzufügen? Die Werteveränderungen, die sich durch die mitgebrachten Religionen der riesige Anzahl von Immigranten nach Europa ergeben, erfordern eine neue Form von Toleranz im Umgang miteinander. Die Amtskirche wäre prädestiniert, Beispiel zu geben. Aber da kommen gleich die alten Bedenken, dass die Kirche versagt habe. Das stimmt zum Teil, jedoch sollten wir nicht vergessen, dass wir die Kirche und die Verfehlungen ihrer Würdenträger immer mit ihren eigenen Werten und Argumenten kritisieren!

Oder haben wir bereits eine ganz andere Religionsbewegung, die wir nur noch nicht wahrgenommen haben?

Die jüngsten Debatten um Minarette in deutschen Städten, das Kopftuch bei Lehrerinnen oder islamischen Religionsunterricht an unseren Schulen zeigen, dass Gott – bei allen Säkularisierungsbestrebungen – das Feld noch lange nicht geräumt hat. Wir haben zwar unsere Kreuze aus den Klassenzimmern verbannt, jetzt kommen die Symbole aus einer ganz anderen, unerwarteten Richtung zu uns zurück.

Bei der Konzeption einer Europäischen Verfassung wurde von einigen Parteien vergeblich darum gekämpft, dass auf unsere christliche Tradition Bezug genommen wird. „Europa als Rechts- und nicht als Gesinnungsgemeinschaft“, wie die ZEIT schreibt; – offenbar glaubt man ohne Bezug auf eine übergeordnete Idee auszukommen. Es stellt sich die Frage, ob Europa bestehen bleibt, wenn gemeinsames Handeln geboten ist.

Wir sollten Sinn nicht dort suchen, wo sich andere Völker mit ihrer Heilsgewissheit gerade selbstmörderisch hineinsprengen. aber die radikalen Muslime haben uns gezeigt, dass wir viel zu intensiv den falschen Götzen „Erfolg“ angebetet haben. Götzen haben die unangenehme Eigenschaft, im Ernstfall keine Kraft zu verleihen. Daran zeigt sich, ob wir es mit einem leeren Symbol oder mit einer numinosen Macht zu tun haben.

Helfen die wurmstichigen Marienbilder, die dunklen Altäre noch? Sind die Reliquien in barocken Schreinen nicht allzu archaische Überreste, denen wir kein Heil mehr entringen können? Bieten die bilderbereinigten protestantischen Kirchen etwa mehr Geborgenheit? Wo sollen wir einkehren? Sollen uns Halbedelsteine oder andere magische Gegenstände in jene transzendenten Sphären entrücken, wie dies vor Zeiten eine Rosenkranz-Andacht mit ihrer Trance-erzeugenden monotonen Gebetswiederholung konnte? Die alten Rituale z.B. eines katholischen Gottesdienstes verstehen wir heute nicht mehr und infolgedessen verfügen wir auch nicht mehr über die dort verborgenen Gnadenmittel zu unserem Heil. In der alten Kirche gibt es noch eine Vergebung der Sünden, und die damit verbundene Entlastung unserer Seele. In der modernen Welt aber, der gottverlassenen, gibt es das nicht mehr.

Die Frage stellt sich nicht, ob es einen Gott gibt! Die Frage ist, ob wir einen Gott brauchen!

Diese Frage wurde seit der Aufklärung über Jahrhunderte falsch gestellt, mit der Konsequenz, dass wir selbst unsere Kultur, unsere Werte vernichtet haben und in der heillosen Gegenwart gelandet sind. (Ich erinnere zur Illustration unseres gegenwärtigen inneren Zustandes an Autoren wie Michel Houllebecq oder Elfriede Jellinek!)

In unserer jüngeren Generation scheint sich hingegen ein erfreuliches Bedürfnis nach moralischer Fundamentierung zu entwickeln. Die Jugend ist erstaunlich wissbegierig, wenn es um höhere Werte geht. Sie ist auf der Suche nach Orientierung – und die Alten sind es insgeheim auch.

Moralische Fundamentierung – muss man sich auf der Suche danach zu neuen Göttern, neuen Ritualen hin bewegen? Oder liegt die Lösung nicht doch viel mehr in einem christlich- abendländischen Wertesystem zeitgemäßer … zeitgemäßerer Prägung?

Auf dem Weg in die Zukunft ist unserer und auch den folgenden Generationen keine Umkehr anzuraten. Eine Umkehrung allerdings könnte doch wertvolle Orientierungshilfe sein. Wir haben sie bei dem zeitgenössischen Poeten und Satiriker Robert Gernhard gefunden, der neben „seinem“ Nietzsche offensichtlich auch noch etwas anderes kennt. Zitat:

„Gott ist tot!“ (Nietzsche)

„Nietzsche ist tot!“ (Gott)

Literatur:
Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. C. H. Beck, München 2004
Houllebecq, Michel: Ausweitung der Kampfzone. Roman. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 5. Aufl. 2001
Jelinek, Elfriede: Lust. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1989
Jung, C. G.: Psychologie und Religion. dtv München 2001
Lehmann, Hartmut: Topografie des Glaubens. MaxPlanck Forschung 2/2004
Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. 1. Aufl. 1920. Tübingen: Mohr 1.-8. photomechan. gedr. Aufl.- 1986