Wahnwelten

Jahrestagung DGPA 2010 in München

Unsere alltäglichen Wahnbildungen mit Hilfe der Medien

Wahn, Wahn!
Überall Wahn!
Wohin ich forschend blick’
in Stadt- und Welt-Chronik,
den Grund mir aufzufinden,
warum gar bis aufs Blut
die Leut sich quälen und schinden
in unnütz toller Wut!
Hat keiner Lohn
noch Dank davon:
in Flucht geschlagen,
meint er zu jagen;
hört nicht sein eigen
Schmerz Gekreisch,
wenn er sich wühlt ins eigne Fleisch,
wähnt Lust sich zu erzeigen.
Wer gibt den Namen an?
´s bleibt halt der alte Wahn,*
(Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg.)

Was ist nur aus ihm geworden, dem „alten Wahn“?

Während ich hier spreche, werden auf der ganzen Welt Milliarden Klicks zu Informationen führen, die wir nicht mehr durch eigenes Denken gewinnen, sondern die ein elektronisch gesteuertes Rechenprogramm aufgrund von Milliarden Daten zu einer Gewissheit zusammenfügt, die wir so, wie sie der PC ausrechnet, hinnehmen müssen, denn wir selbst können während unserer kurzen Lebensspanne eine derart komplexe  Informationszusammenfügung nicht erbringen.

Dies führt einerseits zu einer explosionsartigen Vermehrung von Wissen, das nicht mehr in unseren Köpfen existiert, sondern extern in einem riesigen Wissensraum ausgelagert ist, andererseits beraubt uns die Computer-basierte Gewissheit unserer eigenen Intuition und Kreativität – was mich zum Thema meines Vortrags gebracht hat:

„Unsere alltäglichen Wahnbildungen mit Hilfe der Medien.“

Beginnen möchte ich mit einem Zitat von C.G. Jung:

„Die Hybris des Bewusstseins will aber, dass alles aus dem Primat des Bewußtseins hergeleitet wird, wo es doch selber nachweisbar aus einer älteren unbewussten Psyche entsteht. Die Einheit und Kontinuität des Bewusstseins ist (…) eine so junge Erwerbung, dass immer noch die Furcht besteht, sie könnte wieder verloren gehen.“ (Jung, Ges. Werke, 10, S. 482, § 836)

Die Massenmedien, Rundfunk, Fernsehen und vor allem das Internet, gewinnen einen Einfluss auf unser Leben, wie dies bis vor wenigen Jahren noch undenkbar war.

Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was uns erwartet, wurde bereits schon 1938 spürbar, als Orson Welles mit seinem Hörspiel „The War of the Worlds“ in New York und New Jersey eine Massenpanik auslöste, obwohl das Werk von H. G. Wells eigentlich als Satire gedacht war und obwohl das Hörspiel am Abend vor Halloween gesendet wurde – ein subtiler Hinweis auf die Fiktion.

Der Glaube, dass medial vermittelte Informationen wahr sind, sitzt tief.

Seit es das Internet gibt, ist jedoch alles anders geworden. Hier findet sich Wahrheit, Lüge, Fiktion und Wirklichkeit in derart enger Gemeinschaft, dass auch der nüchterne „User“ die Dinge nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Die größte Schwierigkeit, sich die allgegenwärtigen unzähligen Informationen einigermaßen auf Distanz zu halten, liegt in der Entscheidung darüber, ob eine Nachricht wichtig ist oder nicht.

Schon zu Orson Welles Zeiten herrschte ein Medienkrieg, in den er mit seinem Hörspiel geraten war. So wurde auch behauptet, es hätte keine Massenpanik gegeben, die kopflose Hysterie wäre nur ein mediales Ereignis gewesen. Immerhin wird eingeräumt, dass es – zumindest bei einigen Leuten – Panik gegeben hatte, es wurde sogar von einem Todesopfer berichtet.

Tatsächlich ist das Einholen von Informationen einerseits einfacher geworden, andererseits sind die wenigsten davon auch für uns wirklich wichtig. Wir werden aber trotzdem damit belästigt und daher müssen wir ständig mit viel Energieaufwand unsere Wirklichkeit neu konstituieren. Unsere Wahrnehmung verändert sich. Wir leben in virtuellen Welten und verlieren den Kontakt zum wirklichen Leben. Wirklich ist offensichtlich nur noch, was im Internet existiert. Wir verlieren den Sinn für Qualität. Wir lassen uns mitreißen von dem, was uns die Medien befehlen, für wichtig zu halten.

Ein Beispiel wäre der Lena-Wahn, den die Massenmedien im Frühsommer dieses Jahres inszenierten. Lena Meyer-Landruth hatte den Eurovisions-Schlagerwettbewerb gewonnen mit einem seichten Liedchen, – aber mit Hilfe von Stefan Raab, einem fragwürdigen, jedoch höchst erfolgreichen TV-Entertainer. Zeitungen und Internetforen lobten Lena und ihren Manager hymnisch. Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland wurden sie von einer vierzigtausendköpfigen (!) Menschenmenge empfangen. Hysterischer Jubel brach aus, als die bewegenden Worte gesprochen wurden: „Ich heiße Nena Meyer-Landruth und ich habe den Eurovisions-Song-Contest gewonnen.“ – „Wahnsinn!“ schrieb die Süddeutsche Zeitung in ihrem Streiflicht.

Wir kennen ja spätestens seit Elvis Presley oder den Beatles die übertriebene Begeisterung für Popstars. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass sie sich mit Beendigung der Pubertät beruhigt. Nicht selten aber bleibt ein „harter Kern“ von Fans (bzw. Fanatikern), erhalten, der in dem Wahn lebt, durch die übertriebene Begeisterung und Überidentifikation mit dem Idol zu verschmelzen und dadurch selbst ein Teil von ihm zu werden.

Informationen aller Art, die ständig wiederholt werden, stellen in den angesteuerten Hirnregionen neuronale Verknüpfungen her, so dass sich entsprechend die Struktur des Gehirns verändert. Solche Veränderungen finden auch noch im höchsten Alter statt. Allerdings müssen die jeweiligen Informationen emotional besetzt, d.h. bedeutsam sein. Das ist der Grund für die überbordende Sensationshascherei der Medien. Informationen bleiben nur hängen und bekommen die gewünschte Aufmerksamkeit, wenn sie Emotionen wecken. Wir verändern uns demnach permanent, – meist ohne es selbst zu bemerken. Das wäre an sich eine gute Botschaft, denn sie beweist, dass wir immer noch lernen und uns verändern können. Die Plastizität unseres Gehirns hat aber auch einen großen Nachteil: Wir sind den ständigen Wiederholungen schutzlos ausgesetzt, wir können uns nicht dagegen wehren. Es sei denn um den Preis des Ausschlusses aus der Gesellschaft. Denn unsere Wahrnehmung schaltet nie ganz ab. Wir können zwar das Bewusstsein weitgehend ausschalten, aber wir bemerken trotzdem immer mehr, als wir uns dies vielleicht sogar manchmal wünschen.

David Altheide, ein bedeutender amerikanischer Soziologe und Medienwissenschaftler, hat sich mit der Art und Weise, wie der Irak-Krieg in den USA medial vorbereitet wurde, auseinander gesetzt. Nach seinen Erkenntnissen wurden die Nachrichten so verbreitet, dass zwangsläufig eine Einheitsmeinung generiert wurde. Plumpe Propaganda wird heute allerdings weniger eingesetzt. Wir werden viel subtiler gesteuert. Dies geschieht z.B. dadurch, dass unerwünschte Inhalte in den Nachrichten einfach weggelassen werden oder Nachricht und Meinung nicht mehr sauber voneinander getrennt werden. Im Stakkato werden Informationen mit einem Gemisch von belanglosen und wichtigen Nachrichten über die Sender geschickt. Das Publikum wird so in Atem gehalten, dass man am Nachrichtensender hängen bleibt, wie ein Süchtiger an der Nadel.

Die Neuigkeiten müssen in ein Schlagwort-Format passen und starke Emotionen wecken. Besonders beliebt sind sentimentale und gleichzeitig grausame Geschichten. Alle Medienschaffenden kennen die neuronalen Effekte solcher Gehirnwäsche und nutzen sie.

Altheide machte auf die unheilvolle Allianz zwischen Politik und Massenmedien in den USA aufmerksam: Nach dem Anschlag vom 11. September wurde konsequent die angebliche Massenvernichtungswaffen-Produktion im Irak mit dem Terrorismus der Al Kaida sowie mit erfundenen Opfergeschichten und Drogenkriminalität verquickt. Damit wurde eine Politik der Angst und Bedrohung als dominantes Motiv für die Nachrichten und die gesamte Medienkultur in den USA implementiert, Es wurde konsequent täglich eine Mischung aus Angst und Bedrohung in der Bevölkerung erzeugt.

Vor diesem Bedrohungs-Hintergrund wurde der Irakkrieg angezettelt und gleichzeitig ein Überwachungsstaat mit erheblichen Einschränkungen der Bürgerechte durchgesetzt. Eine gekonnte Propaganda und die Kooperation der größten US-Nachrichtenmedien mit der Politik ermöglichten es, dass komplexe Ereignisse mit eindeutigen Lügen erklärt werden durften. Die Aufforderung an die Bürger, gegenüber potentiellen terroristischen Anschlägen wachsam zu sein, diffamierte die aufmerksamen, rationalen und Alternativen abwägenden Mitbürger als destruktiv, als Feinde der Vereinigten Staaten. Eine intrusive Überwachung aller privaten Lebensbereiche und voyeristische Kameras waren die Folge dieser veränderten Informationsgesellschaft. Dabei ist das eigentliche Ärgernis dieser Überwachung und der zahlreichen Körperkontrollen, dass der Staat damit kommuniziert, dass dieses Kontrollformat die Menschen als Objekt und nicht mehr als Subjekt betrachtet.

Wenn die Forschung nach einer Theorie der Evidenz des Terrorismus und der Bedrohung sucht, einer Evidenz dafür, dass alle verdächtig sind und etwas verbergen, so trifft man auf  das soziologische Paradox, dass diese Theorie und ihre Evidenz schwer zurückzuweisen sind, weil es innerhalb dieser Logik keinen Platz für eine gegenteilige Evidenz gibt, so Altheide.

Die meisten Amerikaner glaubten nach diesem medialen Bombardement, Saddam Hussein wäre schuld an den Anschlägen vom 11. September. Dies hatte mit der ständigen Wiederholung der Bilder der Anschläge zu tun, die mit Geschichten über Gräueltaten im Irak und Kriminalität gemischt, permanent gesendet wurden. Die Terrorismus-Legenden haben nach Altheide der Evidenz, wenn man sie als vollständiger Gewissheit verstehen will, einen Makel aufgedrückt.

Offenbar bildet sich bei uns Menschen – wenn wir nicht von vernünftiger Seite gebremst werden – von Zeit zu Zeit eine Art von Wahnblase, die ihren Irrsinn in Aktion setzen muss. (Das Wort „Blasenbildung“ kennen wir bezeichnenderweise vom Aktienmarkt.) Welch’ schreckliche Formen sie annehmen kann, sehen wir an vielen Beispielen aus der Geschichte. Man sollte glauben, wir wären aufgrund dieser Erfahrungen ein für alle Mal für derartige Exzesse immun, es ist aber zu befürchten, dass wir noch gar nicht bemerkt haben, dass Wahn in immer neuen Verkleidungen auftritt und sich seine Opfer sucht.

Absichtlich gesteuerte Wahnbildungen gab es schon immer und überall. Kriege, Krisen und Umwälzungen in Politik und Wirtschaft natürlich auch. Der Anpassungsdruck durch krisenhafte Ereignisse begünstigt solche Entwicklungen. Heute können sich aber solche Massenwahn-Phänomene über das Internet mit einer Geschwindigkeit ausbreiten, dass sie nicht mehr zu beherrschen sind.

Können wir überhaupt noch zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden? Sind

wir noch in der Lage, eine Entscheidung darüber zu treffen, was uns und unseren Mitmenschen zuträglich ist oder nicht, wenn wir täglich einer Bilderflut von monströsen Verbrechen, brutalem Sex, Morden, Hunger, Naturkatastrophen usw. ausgesetzt werden? Kann dies auf Dauer ohne Schaden für unsere Psyche bleiben? Wir lernen am Modell, (A. Bandura) aber die Produzenten der unappetitlichsten Videos und Killerspiele werden nicht müde zu behaupten, die Filme und Killerspiele hätten keinen Einfluss auf das Verhalten oder auf unsere Charakterbildung – und man hätte ja die freie Wahl, abzuschalten. Die Gewaltexzesse der Jugendlichen sprechen eine deutlich andere Sprache.

Schillers Vorlesung „zu Mannheim“ vom 26. Juni 1784 mit dem Titel „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ wäre jedem Medienschaffenden als Pflichtlektüre zu verordnen:

Es ist nicht Übertreibung, wenn man behauptet, dass diese auf der Schaubühne aufgestellten Gemälde mit der Moral des gemeinen Manns endlich in eins zusammenfließen, und in einzelnen Fällen seine Empfindung bestimmen.“ (F. Schiller Bd. V, dtv S. 823)… und …“Ich kenne nur ein Geheimnis, den Menschen vor Verschlimmerung zu bewahren und dieses ist – sein Herz gegen Schwächen zu schützen. – Einen Großen Teil dieser Wirkung können wir von der Schaubühne erwarten. „ (ebenda: S. 825).

Wenn Schiller schreibt „Unmöglich kann ich hier den großen Einfluss übergehen, den eine gute stehende Bühne auf den Geist der Nation haben würde.“

Wenn unsere TV-Programme, die You Tubes, Facebooks usw. keine stehende Bühne sind, was sind sie dann? Schiller hätte sicher gejubelt, über die ungeheuren Möglichkeiten dieser „Schaubühne“, wie positiv diese auf die „Nation“ wirken könnte; – angesichts der Wirklichkeit aber würde er verzweifeln und sich mit Grausen abwenden.

Die sarkastischen Vorschläge in Online-Foren, z. B. des SPIEGEL, die im Frühsommer, nach dem Rücktritt unseres Bundespräsidenten Horst Köhler, Stefan Raab als Nachfolger vorschlugen, waren nicht alle so absurd gedacht, wie man glauben könnte. Für Lena wurde sofort nach ihrem Eurovisions-Sieg von der SPD das Bundesverdienstkreuz gefordert – warum nicht auch gleich Stefan Raab für das höchste Amt? Lena for Kanzler! – Raab for President! … – … Wahnsinn!

 

Literatur:

Altheide, D.L.: Terror Post 9/11 and the Media War. Peter Lang New York, 2009
Bandura, A., Walters, R. H.: Social learning and Personality Development. New York, 1963
Jung, C. G.: Das Gewissen in psychologischer Sicht. Vortrag 1957/58. In: GW Bd. 10, Zivilisation im Übergang. Walter-Verlag, Olten, 1974
Schiller, F.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Bd. V. Theoretische Schriften, S. 818-831. Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? dtv München, 2004
Wagner, R.: Die Meistersinger von Nürnberg. Dritter Aufzug. Reclams Universal Bibliothek Nr. 5639. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002