Max Weber

Vortrag in Graz DGPA 13.-16. Oktober 1994

Die protestantische Ethik oder die
Entwicklung des modernen Kapitalismus

(Anmerkungen zu Max Weber 1864 – 1920)

Wir leben in der Zeit eines allgemeinen Orientierungsverlustes, ohne dass neue allgemein akzeptierbare Werte im Sinne einer kohäsionsstiftenden Wirkung für die Gesellschaft erkennbar wären. Sicherlich stellt einen Wert heutzutage eine feste Anstellung oder ein Kapitalvermögen dar. Früher hochgeschätzte Prestigeerhöhungen, wie z. B. der Titel eines Professors, kulturelle, religiöse oder ideelle Werte, gibt es in unserer Zeit fast nur noch in Form von vermarktungsträchtigen sogenannten Kultgegenständen, womit ein Modeartikel gemeint ist, nicht etwa ein Kulturgegenstand. Die Begriffe Kult und Mode vermischen sich – und am Ende bleibt wieder die Frage nach den kulturellen Werten, die beliebig geworden sind wie Konsumgüter.

Wir bilden uns viel auf eine multikulturelle Gesellschaft ein – bestimmte Statusgruppen glauben sogar, damit eine gewisse Weltläufigkeit beweisen zu können. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich diese Multikultur aber als eine Desorientierung in Bezug auf die Werte, nach denen wir uns zu richten haben, als Zeichen der Endphase einer bestimmten Kultur. In unserem Fall ist dies die Kultur des sogenannten „modernen Kapitalismus“, wie ihn Max Weber beschrieben hat.

Max Weber ist uns Münchnern vor allem durch das unvergessliche Lied des Kabarettisten Weiß-Ferdl von dem (Nachkriegs-Trambahn-) Wagen der Linie 8 bekannt, in dem eine alte Dame außerordentlich hartnäckig immer wieder den vielbeschäftigten Schaffner nach dem Max-Weber-Platz fragt und ihn damit an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treibt.

Es lohnt sich jedoch, etwas mehr über diesen allzu früh verstorbenen großen Denker zu erfahren, hatte er doch eine äußerst scharfsinnige Analyse unserer Kultur vorgelegt, die sich vom Marxismus abhob und einerseits aus diesem Grunde viele Jahre bei den europäischen Intellektuellen verpönt war, andererseits auf dem Umweg über Amerika nun doch wieder bei uns gelandet ist. Denkerische Klarheit setzt sich – auf lange Sicht – eben doch durch.

Das Thema, das Max Webers Lebenswerk bestimmte, war die Entstehung und Auswirkung des modernen Kapitalismus. In seinen Aufsätzen zur Religionssoziologie vertritt er die These, dass das Alltagshandeln des Menschen (bewusst oder unbewusst) von seinen „letzten Werten“ bestimmt ist und damit die „Kulturerscheinungen des Okzidents“ in ihrer Besonderheit hervorbringt.

Weber geht davon aus, dass alle Religionen sittliche Anweisungen für weltliches Handeln – auch wirtschaftliches Handeln – geben, gleichgültig, ob dafür von den jeweiligen Religionsstiftern direkte Anweisungen kommen oder nicht. Es geht ihm also in erster Linie um Alltagsethik, da diese dem Individuum die Werte vermittelt, denen es sich – da es in dieses Wertesystem hineingeboren wird – nicht entziehen kann.

In der „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie formuliert er seine Fragestellung, die sich auf eine Universalgeschichte der Kultur bezieht: “Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ (S.1). Er stellt also die Frage nach dem kulturellen Hintergrund des modernen Kapitalismus, insbesondere nach seinen irrationalen Anteilen, und warum dieser eine fast ausschließlich okzidentale Leistung ist. „Wissen und Beobachtung von außerordentlicher Sublimierung hat es auch anderwärts, vor allem in Indien, China, Babylon, Ägypten, gegeben. Aber: Der babylonischen und jeder anderen Astronomie fehlte … die mathematische Fundamentierung, die erst die Hellenen ihr gaben. Der indischen Geometrie fehlte der rationale Beweis (und) das rationale Experiment. … Für eine rationale Rechtslehre fehlen anderwärts … die streng juristischen Schemata und Denkformen des römischen und des daran geschulten okzidentalen Rechtes.“ (S.1-2). „Ähnliches gilt für die Kunst und alle Kulturerscheinungen des Abendlandes wie die Presse und die Universitäten mit ihrem „rationalen und systematischen Fachbetrieb der Wissenschaft: Das eingeschulte Fachmenschentum …“ (S.3).

Weber vergleicht die großen Weltreligionen und die ihnen zugrundeliegende Ethik, um zu erklären, warum sich kulturelle Merkmale in eine ganz bestimmte Richtung entwickelt haben. Dabei schließt er von politischen und geographischen Besonderheiten auf eine entsprechende Empfänglichkeit für bestimmte religiöse Ideen, die je nach den vorhandenen Gegebenheiten die Chance hatten, sich zu entwickeln. Die Entstehung von Religionen ist nach Max Weber also nicht zwangsläufige Folge einer besonderen politischen Konstellation, sondern bietet bestimmten sozialen Statusgruppen die Möglichkeit, sich in Konkurrenz zu anderen durchzusetzen oder auch zu scheitern. Weber arbeitet die Besonderheiten der protestantischen Ethik im Vergleich zu anderen Religionen heraus. Seine Methode ist der sogenannte idealtypische Vergleich. Unter dem Idealtypus versteht er eine nicht in der Wirklichkeit vorkommende, überzeichnete Ausprägung einer bestimmten Eigenart, ähnlich einer Karikatur. Aus diesem so scharf akzentuierten Bild werden die Unterschiede der verschiedenen Religionstypen herausmodelliert. Er übersieht dabei nicht, dass religiöse Ideen auch als Antwort auf materielle und ideelle „Interessen identifizierbarer sozialer Gruppen“ verstanden werden können (S. 274). Die Durchsetzung einer religiösen Idee verlangt nach seiner Ansicht Berührungspunkte mit der jeweiligen Struktur der Gesellschaft. Dies bedeutet, dass das Werk der Religionsgründer nur andauert, solange es von Menschengruppen, nicht nur von einzelnen, getragen wird.

In seinem wohl bedeutendsten Aufsatz „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ befasst Weber sich vorwiegend mit dem protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums (S. 18). Dabei geht er von einer Studie seines Schülers Martin Offenbacher aus, der die wirtschaftliche Lage der Katholiken und Protestanten in Baden im Jahre 1901 untersucht hatte. Aufgrund dieser Studie und weitergehender Untersuchungen konnte Max Weber herausarbeiten, dass ein wesentliches Charakteristikum der Sozialethik der kapitalistischen Kultur die Berufspflicht ist. Der Gedanke „Beruf als Berufung“ ist ein „Produkt der Reformation“, nämlich Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als höchster sittlicher Inhalt. Der kapitalistische Geist konnte nur unter dem Einfluss der Reformation entstehen, allerdings als eine ungewollte Folge ihrer religiösen Inhalte.

Zur Veranschaulichung dieser inneren Einstellung zitiert Weber aus Benjamin Franklins „Anleitung junger Kaufleute“:

„Bedenke, dass die Zeit Geld ist; wer täglich 10 Schillinge durch seine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag spazieren geht, der darf, auch wenn er nur 6 Pence für sein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen, er hat neben dem noch 5 Schilling ausgegeben oder vielmehr weggeworfen.

Bedenke, dass Kredit Geld ist. Lässt jemand sein Geld, nachdem es zahlbar ist, bei mir stehen, so schenkt er mir die Interessen …

Bedenke, dass Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur ist. Geld kann Geld erzeugen, und die Sprösslinge können noch mehr erzeugen und so fort. 5 Schilling ausgeschlagen sind 6, wieder umgetrieben 7 Schilling 3 Pence und sofort … . Wer ein 5-Schilling-Stück umbringt, mordet (!) alles, was damit hätte produziert werden können …“

In dieser „Anleitung“ handelt es sich nicht nur um Lebenstechnik oder Geschäftsklugheit, hier wird eine Ethik gepredigt, deren Verletzung nicht nur als Torheit, sondern als Kapitalverbrechen (Mord am 5-Schilling-Stück) behandelt wird. Weber interessiert sich für das Ethos dieser Lebensführung, in dem er den „Geist des Kapitalismus“ sieht, wobei nur vom westeuropäisch-amerikanischen Kapitalismus die Rede ist, denn auch anderenorts und zu früheren Zeiten gab es bereits „Kapitalismus“ – er hatte jedoch nicht jenes eigentümliche Ethos. „Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen.“

Mit seiner Methode der idealtypischen Beschreibung schildert Weber den Menschen, der dieses Ethos lebt, in etwa folgendermaßen: Er stellt seinen Reichtum nicht zur Schau, genießt seine Macht nicht bewusst, und gesellschaftliche Anerkennung ist ihm eher unbequem. Damit trägt seine Lebensführung einen gewissen asketischen Zug an sich. Dieser Idealtyp hat für seine eigene Person nichts von seinem Reichtum, außer der irrationalen Empfindung guter „Berufserfüllung“. Für den präkapitalistischen Menschen erscheint diese Lebensführung unfasslich und im Grunde genommen verachtenswert und schmutzig. Der Zweck einer Lebensarbeit, belastet mit Geld und Gut ins Grab zu sinken, scheint diesem nur „als Produkt perverser Triebe“ erklärlich.

Die Einstellung, den Beruf als Berufung, Pflichterfüllung als höchsten sittlichen Inhalt aufzufassen, ist – wie gesagt – ein „Produkt der Reformation“. Erst bei Calvin und den puritanischen Sekten (nicht bei Luther und schon gar nicht in der katholischen Kirche) findet Weber den „überlegenen Geist“ für die okzidentalen Kulturerscheinungen. Wichtig ist jedoch dabei, dass er nicht „töricht-doktrinär“ behauptet, der Kapitalismus sei ein ausschließliches Erzeugnis der Reformation. Nach seinen Erkenntnissen sind wichtige Formen des kapitalistischen Wirtschaftssystems „notorisch erheblich älter, als die Reformation“; ob und wieweit indessen „religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes Geistes über die Welt“ mitbeteiligt waren und welche konkreten Seiten der kapitalistischen Kultur auf jenes Ethos zurückgehen, ergründet Weber in virtuoser Weise.

Dabei wendet er sich dem calvinistischen Dogma der „Gnadenwahl“ zu, dem Kern der sogenannten „Prädestinationslehre“. Danach hat das menschliche Leben keinen anderen Sinn, als den der Verherrlichung Gottes. Ein Teil der Menschen ist als selig, ein anderer als verdammt von Gott vorbestimmt, und kein Verdienst oder Verschulden kann an Gottes absolut freien Entschlüssen etwas ändern. Die „pathetische Unmenschlichkeit“ einer solchen Lehre hat in Webers Augen das „Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums“ zur Folge. Mit den Auswirkungen dieser Lehre: „kein Prediger, kein Sakrament, keine Kirche, in der letzten Konsequenz: kein Gott“ (S. 94) ist in den Augen Webers der Abschluss „jenes großen religionsgeschichtlichen Prozesses der Entzauberung der Welt (erreicht), welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte und, im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel. der Heilssuche als Aberglauben und Frevel verwarf“ (S. 94 f.). Hier findet sich „eine der Wurzeln jenes illusionslosen und pessimistisch gefärbten Individualismus, wie er in dem ´Volkscharakter` und den Institutionen der Völker mit puritanischer Vergangenheit sich noch heute auswirkt“ (S.95,f) Selbst die Nächstenliebe hat bei dieser inneren Einstellung, da sie ja nur Arbeit „in majorem Gloria Dei“ ist und nicht als Dienst an der Kreatur begriffen wird, sachlich-unpersönlichen Charakter. Weber fragt, wie eine solche Lehre ertragen werden konnte in einer Zeit, der das Jenseits wichtiger und in vieler Hinsicht auch sicherer war als alle Interessen des diesseitigen Lebens. Daher musste sich der einzelne fragen: „Bin ich erwählt? Und wie kann ich dieser Erwählung sicher werden“? Denn die Erwählten unterschieden sich ja äußerlich durch nichts von den Verworfenen. Einzig das beharrlich gläubige Vertrauen auf dieses „finaliter“ hin macht somit das Leben erträglich. Die Erwählten sind dadurch Gottes unsichtbare Kirche, was für die Praxis bedeutete, dass es Pflicht war, sich für erwählt zu halten. Andererseits wurde die Selbstgewissheit durch rastlose Berufsarbeit am ehesten erlangt. „Sie, und sie allein, verscheuche den religiösen Zweifel und gebe die Sicherheit des Gnadenstandes“(S.105, f.) – ganz wie unser moderner Workaholic, der die Sinnfrage mit rastloser Tätigkeit verscheucht. Diese Einstellung führte zu ständiger Selbstkontrolle und einer planmäßigen Reglementierung des Lebens (morgens Joggen, mittags Geschäftsessen, abends 30 Minuten Beziehungsarbeit mit der ebenfalls berufstätigen Ehefrau, 15 Minuten für die Kinder, Tagesschau, Akte wälzen, Dienstag Fitness, Mittwoch Squash mit dem Vorgesetzten, Aktiv-Urlaub, Rotary-Club usw. usw.). Weber fasst diese Reglementierung des Lebens unter dem Begriff der „innerweltlichen Askese“ zusammen im Gegensatz zur mönchischen Askese, die aus dem Alltagsleben hinausdrängte. Damit trat an die Stelle der geistlichen Aristokratie eine durch Gott von Ewigkeit her prädestinierte Aristokratie von Heiligen in der Welt. Diesem Gottesgnadentum war angesichts der Sünden der Nächsten nicht nach Hilfsbereitschaft im Bewusstsein der eigenen Schwäche zumute, sondern nach Hass und Verachtung gegen ihn als Feind Gottes, der das Zeichen ewiger Verwerfung an sich trägt.

Die puritanische Berufsidee wirkt sich insofern auf das Erwerbsleben aus, als der Gnadenstand nicht durch „magisch-sakramentale Mittel“ oder Entlastung in der Beichte oder andere fromme Leistungen erlangt wurde, sondern ausschließlich durch die Bewährung in einem spezifisch gearteten Lebensstil. Daraus folgte der Antrieb zur methodischen Kontrolle des Gnadenstandes in der Lebensführung und deren asketischer Durchdringung. Daher die rationale Gestaltung des gesamten Daseins. Diese Leistung wurde jedem zugemutet, der selig werden wollte – was bisher nur von Mönchen verlangt wurde, also außerhalb des normalen Weltgeschehens. „Die innerweltliche protestantische Askese … wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuss des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion, ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengte die Fesseln des Gewinnstrebens, indem sie es nicht nur legalisierte, sondern direkt als gottgewollt ansah.“ So wurde durch den asketischen Sparzwang Kapital gebildet, dessen „säkularisierende Wirkung“ Weber aber nicht entging (die erste Generation schafft das Kapital, die zweite versucht, es noch recht und schlecht zu erhalten, und die dritte verpraßt es. – Unsere Generation scheint mit den angesammelten Ressourcen – auch den immateriellen – sehr leichtsinnig umzugehen). Zum Schluß noch einmal Max Weber im Original:

„Indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der ökonomische Erwerbstätigen -, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist. `Nur wie ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte`, sollte nach Baxters (anglikanischer Pfarrer 1615-1691) Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr. … Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keines von beiden – mechanisierte Versteinerungen, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-Nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die `letzten Menschen` dieser Kulturentwicklung das Wort Wahrheit werden: `Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: Dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschtums erstiegen zu haben`“ (203, f.).

Noch leben wir von den geistigen Ressourcen unserer älteren Mitmenschen – sie beginnen aber natürlicherweise zu versiegen. Da unsere religiösen Lebensinhalte nach der leider allzu wahr gewordenen Prophezeiung Max Webers (das Zitat stammt aus dem Jahre 1920!) inzwischen kaum noch vorhanden sind, steht bedrohlich eine andere Kultur und Religion buchstäblich Gewehr bei Fuß: der Islam, die jüngste der großen Weltreligionen. Vielleicht könnte uns diese beängstigende Vorstellung dazu veranlassen, uns wieder auf unser kulturelles Erbe als Europäer zu besinnen. In Europa ist ja schließlich nicht nur der Calvinismus zu Hause, sondern Gott sei Dank auch ein sittlicher Konsens, der seine Wurzeln in der Ganzheit unserer griechisch-römischen, jüdischen und christlichen Geschichte hat, zu der auch noch etwas byzantinische und islamische Kultur gehört. Diese multikulturelle Durchdringung Europas mit ihren ganz spezifischen (ursprünglich monarchistischen) Ausprägungen müsste dem Islam einen Geist entgegensetzen können, der eine neue, überlegene Ethik schafft, die in unsere Zeit passt.

 

Literatur:

Weber M (1920) Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. I. (8., photomechanisch gedruckte Auflage. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1986)