Einer Sünde Wert

„Die Sünde“ …von der Schuld zum Wahn, von der Sühne zur Therapie
DGPA München 25.-28.10.2001

Das…oder der… oder die… ist schon eine Sünde wert – eine scherzhafte Redensart, nichts weiter?

Schneller Sex in der Besenkammer? – Ist er die Millionenzahlungen wert? Blow-Job im Oval Office, riskiert man dafür das höchste Regierungsamt der Welt?. Oder ganz banal eine Steuerfahndung? (Nach Auskunft der Finanzämter kommen die meisten Anzeigen von enttäuschten Beziehungspartnern).

Wir rechnen munter Wert gegen Sünde auf und was dann unter dem Strich steht, schauen wir uns erst einmal gar nicht an. Bis wir merken, dass diese Rechnung doch nicht aufgehen kann. Weil wir den wesentlichsten Faktor darin nicht berücksichtigt haben: Den Wert der Sünde.

Alle Religionen schreiben in ihrer Weise bestimmte Regulative des Handelns vor. Sie sollen das persönliche- und/oder Gemeinschaftsleben steuern. Der Bruch mit diesen Regeln wird als Sünde begriffen und geahndet. Frömmigkeit in unserem christlich-religiös geprägten Kulturkreis ist aus dem öffentlichen und privaten Leben weitgehend in einen Sonderbereich verschwunden; mit Folgen für die physische und psychische Gesundheit. Dazu später zwei Beispiele.

„Freilich, Sokrates, das tun doch alle, die auch nur ein wenig über gesunden Verstand verfügen: wenn sie am Anfang einer Unternehmung stehen, sei sie klein oder groß, so rufen sie immer Gott an.“(Platon: Timaios 27 a). Nicht nur die Griechen hatten ein enges Verhältnis zu Gott, das durch Gebet aufrecht erhalten wurde; in den sogenannten Stammesreligionen ist nahezu keine Handlung ohne Bezug auf die Sinnmitte des Lebens denkbar. Auch für den Muslim gibt es kein Ereignis, das nicht von Allahs Willen hergeleitet wird. Wo das Verhältnis zu Gott gestört ist, herrscht nach dem Begriff des Alten- und Neuen Testaments Sünde. Heute sind wir nicht mehr gottesfürchtig, halten uns etwas darauf zugute, Gott los zu sein und schließen daraus, hemmungslos sündigen zu können. Und weil es scheinbar alle (auch gerne öffentlich) tun hoffen wir, die Folgen würden uns erspart. Gesellschaftlich gibt es kaum noch Einschränkungen. Man kann auch viermal heiraten und Bundeskanzler werden. Oder als Minister (nicht nur der Bundeswehr) alle Konventionen des guten Scheins vernachlässigen zu können. …Seit dem 11. September gibt es doch hier und dort Zweifel, ob wir mit unserer grenzenlosen Freiheit auch verantwortungsbewusst umgehen.

Der Wert der Sünde zeigt sich erst, wenn wir die Konsequenzen unserer Handlungen erkennen. Der Sündenfall im Paradies mit dem „alles“ begann, war – genau genommen – ein hypnotischer Auftrag von Gott an die Menschen. Er muss die Sünde gewollt haben, als Entwicklungsvoraussetzung vielleicht, oder um die Spannung zwischen den Polen nicht zu vereinbarender Bedürfnisse zu erzeugen, aus deren Widerstreit der „Vater aller Dinge“ kommt. Gerade dadurch, dass der Baum so hervorgehoben wurde, musste das Gebot übertreten werden. Wie sonst hätte die Schlange gesprochen: „Gott weiß, dass welches Tages ihr davon esset, so werden euch eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott, und wissen, was gut und böse ist.“ (1.Mose 3.5). Der Sündenfall ist die Voraussetzung dafür, zwischen Sünde und Nicht-Sünde unterscheiden zu können. Ohne Sünde keine Tugend, keine Engel oder Teufel, kein Himmel oder Hölle, keine Entscheidung für das Eine oder das Andere, keine Spannung, die „die Welt im innersten zusammenhält“. …

Aber: Sünden haben Folgen, es ist ein Preis zu bezahlen, den man vorher noch nicht kennt – oder nicht kennen will. Meist ist die Versuchung so groß, dass man – ganz wie ein Spieler – glaubt mehr zu gewinnen als zu verlieren.

Dabei wissen wir: schon die erste Unbotmäßigkeit wurde mit, Strafe und Fluch geahndet. Es folgt auch typischerweise sofort der Versuch, die Untat zu verheimlichen und die Verantwortung abzuschieben. „Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum“. (1. Mose 3.12). In der weiteren Folge der Geschichte geschieht auch schon der Brudermord – und so geht es fort bis zur Sintflut: Strafe, Sühne, darauf Vergebung in einem neuen Bündnis, aber dann werden schon wieder neue Sünden begangen, diesmal am Bau, in Babel … und wieder Sünde – Strafe – Sühne! Trotz härtester Bestrafung ging jedoch das Sündigen immer weiter; – und der Fortschritt bekam immer längere Beine. …

Und wie sieht es heute mit den Sünden aus? –

Straft unser Gott, wenn es ihn denn gibt, noch?

Ein von seiner schweren reaktiven Depression genesener Patient fühlt sich in der Lage, seine Medikamente langsam abzusetzen. Im gleichen Verhältnis wird er wacher und unternehmungslustiger. Er nimmt seine Umgebung wieder farbig und anregend wahr, erfreulicherweise ohne die geringsten Anzeichen einer Manie! Er verliebt sich heftig, wird aber von einem Nebenbuhler ausgeschaltet. Das wirft den frisch Genesenen nicht um, denn inzwischen macht ihm eine attraktive Kollegin Avancen. Diese Dame aber fordert von ihm die sofortige Trennung von seiner langjährigen Lebensgefährtin. Er wird unruhig, überfährt mehrmals Ampeln bei Rot, wird wegen zu hoher Geschwindigkeit ertappt und findet sich schließlich eines Nachts auf der Autobahn mit eingeschalteten Warnblinkern auf dem Seitenstreifen wieder, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen war. Es war ihm nichts geschehen, er beachtet diese Vorfälle aber als Warnung und beendet das aufreibende Verhältnis.

Nun aber melden sich Gewissensbisse. Er hat als guter Katholik das Bedürfnis zu beichten, sein Pfarrer aber wiegelt ab, das sei heute nicht mehr üblich, die Einzelbeichte sei in seiner Gemeinde weitgehend abgeschafft. Daraufhin will er seiner Lebensgefährtin ein Geständnis machen, wohl in der stillen Hoffnung nun von ihr Absolution zu erhalten, wartet aber noch, denn er fühlt, dass er damit die Beziehung riskiert. Nun flüchtet er sich wieder in seine vertrauten Depressionen. Er lässt sich in einer Luxus-Klinik behandeln, sein Zustand verschlechtert sich jedoch. Darauf liefert er sich selbst in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrischen Klinik ein und bleibt dort auf eigenen Wunsch für drei Monate, obwohl er keine Suizid-Impulse verspürt. Er weiß um die Funktionalität seiner „Erkrankung“. Er hat nun einmal das dringende Bedürfnis, in irgend einer Form Busse zu tun. Der Naturfreund opfert einen herrlichen Sommer. Auch beruflich fügt er sich Schaden zu…. Nach einigen Monaten spürt er, dass es nun genug ist. Er fühlt sich befreit. Die Erkenntnis und Anerkenntnis seiner Grenzen waren ihm die Sünden und die Busse wert. Das Bedürfnis, der Partnerin den Fehltritt zu beichten, war geschwunden. Nach nunmehr zwei Jahren ist er mit sich und der Welt wieder vollkommen im Reinen.

Ein etwas komplizierterer Fall betrifft einen Mann, der auf jede neue, immer konfliktbeladene Verliebtheit, mit schwerer Krankheit reagiert und auf diese Weise – wohl unbewusst – drastische Selbstjustiz übt, möglicherweise kompensiert er damit unbewusste Schuldgefühle wegen seiner Unfähigkeit tragende Bindungen zu gestalten.

Während seiner ersten Ehe entsprießt einem, zunächst harmlos erscheinenden Seitensprung, ein Kind. Er reagiert mit Ohnmachtsanfällen, bei denen er sich schwere Kopfverletzungen zuzieht. Es folgen Scheidung, Heirat der Affairenpartnerin und, obwohl diese Ehe von Anfang an problematisch war, weitere Kinder. Dann verliebt er sich aufs Neue. Er lebt in einem Dreiecksverhältnis und kann sich nicht entscheiden seinem Leben eine klare Richtung zu geben. Der Konflikt zwischen „Pflicht und Neigung“, beschert ihm nach seinem Selbstverständnis einen Hirntumor. Nach einer komplizierten Operation erholt er sich schnell, schafft aber in seinen Familienangelegenheiten keine Klarheit, was zu ständigen Spannungen Anlass gibt. Im Laufe von mehreren Jahren entwickelt sich daraufhin eine weitere Krebserkrankung, diesmal inoperabel. Das hindert ihn nicht an weiteren amourösen Abenteuern. Nach langem Leiden und unzähligen Behandlungen wird er von seiner Geliebten verlassen. … Obwohl er schon mehrfach von seinen Ärzten aufgegeben worden war, verbessert sich sein Zustand daraufhin in erstaunlicher Weise. Allerdings stürzt er sich trotz – oder vielleicht auch gerade wegen seiner Krankheit – sofort wieder in Abenteuer. Die neuerlichen Affairen haben von vornherein wieder einen skandalösen, konflikthaften Charakter. Seine Schmerzen und Todesängste erträgt er über alle Jahre hinweg erstaunlich klaglos, mit schwarzem Humor. Irgendwie scheint es, ein Teil seiner Persönlichkeit empfinde Genugtuung über seine persönliche Tragödie. Andererseits bezieht er aus seinem Leiden auch Gewinn. Kein Mensch aus der näheren oder ferneren Umgebung übt Kritik, denn einem Todgeweihten gesteht man jede Torheit zu.

Die fehlende transzendentale Verankerung fordert ihren Preis. Inzwischen ist der Patient zwar bereit, auch psychische Mechanismen als Mitauslöser seiner schweren Erkrankungen anzuerkennen, dennoch ist er nach wie vor überzeugt, dass er in einem neuen Leben, – wenn es ihm gewährt würde, – nichts anders machen würde. Er unterschätzt dabei jedoch das Sühnebedürfnis seiner Seele. Lieber bezahlt er mit seinem Leben, als Einstellung und Verhalten zu ändern. Er hält es mit Friedrich Nietzsche, der zur „Fröhlichen Wissenschaft“ reimt: „Schmale Seelen sind mir verhasst: da steht nichts Gutes, nichts Böses fast.“ …

(„Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!“)

 

Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Gedichte. Manesse Verlag, Zürich
Platon, Timaios, 27a, Jubiläumsausgabe Zürich, 1974
Ratschow, Carl Heinz: Von der Frömmigkeit. In Ratschow, C. H. (Hrsg.) Ethik der Religionen. Kohlhammer, Stuttgart. 1980