Geheimnis und Individuum

Anna Schoch

Geheimnis und Individuum

Das Buch „The Circle“ von Dave Eggers1 bekam im Jahr 2014 ungewöhnlich viel mediale Aufmerksamkeit. Thematischer Kern ist der vollkommene Geheimnisverzicht in allen Lebensbereichen. Im Grunde ist der Roman eine Wiederbelebung von Aldous Huxleys2 „Schöne neue Welt“  aus dem Jahr 1931 – George Orwells3 „1984“, das er 1948 schrieb, ist seine düstere Entsprechung.

Es ist beunruhigend, wie wenig wir uns über die Ausspähungen durch allerlei Dienste – ob im Interesse des Staates oder des Konsums – bekümmern. Heftigste Proteste, Hungerstreiks, Straßenkämpfe oder Lichterketten sind Reaktionen auf Stuttgart 21,  Castor-Transporte oder Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften; aber die Ausspähung unserer Privatsphäre, unserer Ortsveränderungen, unserer Kaufgewohnheiten bis hin zu unseren physiologischen Befindlichkeiten, wird erstaunlich klaglos hingenommen oder verdrängt. Das wirft Fragen auf:

 Was ist ein Geheimnis?

Es gibt eine Vielzahl von Begriffen und Assoziationen, die mit dem Geheimnis verbunden sind: Verborgenheit, Enigma, Rätsel, Arkanum, Mysterium, die Kulte im antiken Griechenland oder im alten Ägypten. Christliche Mystik (Hildegard von Bingen, Nikolaus von Kues, Meister Eckhart) – oder auch islamische Mystik (Sufi) und jüdische Mystik (Kabbala) usw..

Ein wichtiger Punkt, der für mediale Dauerempörung sorgt, ist in diesem Zusammenhang der Geheimnisverrat. Judas ist sein Archetyp. Der Verräter gilt seit Urzeiten als das abscheulichste Individuum überhaupt.

Seit Julien Assange (gefangen in der Ecuadoranischen Botschaft in London) und Edward Snowden („gefangen“ in Russland), wissen wir, dass wir in allen Lebensbereichen ausgespäht werden. Heute nennt man das BIG DATA und gerade in unseren Tagen – im Oktober 2015 – wurde das Vorratsdaten-speicherungsgesetz (VDS) in Deutschland verabschiedet. Es besagt, dass personenbezogene Daten gespeichert werden dürfen. Dies sind die

-Standortdaten der Teilnehmer aller Mobiltelefonate bei Beginn des Telefonats (4 Wochen)

-Standortdaten bei Beginn einer mobilen Internetnutzung (4 Wochen)

-Rufnummern, Zeit und Dauer aller Telefonate (10 Wochen)

-Rufnummern, Sende- und Empfangszeit aller SMS-Nachrichten (10 Wochen)

-Zugewiesene IP-Adressen aller Internetnutzer, sowie Zeit und Dauer der

Internetnutzung (10 Wochen).

Entgegen der weit verbreiteten Meinung bedarf es dazu keiner richterlichen Anordnung. Wir werden alle überwacht.4

Dieses Eindringen in die persönlichste Sphäre verursacht Unbehagen, denn „Das Recht auf Privatsphäre gilt als Menschenrecht und ist in allen modernen Demokratien verankert.“5

Bereits in der Antike wurde das Recht auf die private Sphäre des Individuums diskutiert – allerdings galt es nur für die Eliten. Sklaven stand kein Recht auf Privatheit zu. Im Mittelalter konnten sich ebenfalls nur wenige Adelige und reiche Bürger privates Leben erlauben, Mönche hatten in ihren Klosterzellen eingeschränkte Rückzugsmöglichkeiten.

Die Neuzeit brachte eine andere Vorstellung von individuellen Menschenrechten mit sich. Seit der Big-Data-Entwicklung scheinen wir aber eher wieder auf den Stand des Mittelalters zurückgeworfen zu werden. Die Aufzeichnungswut der großen Datenverwerter erlaubt keine Privatheit mehr.

Es gibt zwar Widerstand. Whistleblower wie z.B. Assange oder Snowden versuchen auf das ungeheure Ausmaß der Ausspähungen und den damit verbundenen Bruch der Menschenrechte aufmerksam zu machen, – allerdings ohne Erfolg! Assange, Snowdon und ihren Mitstreitern haftet der Geruch des Verrats an und so bleiben die Reaktionen ambivalent, indifferent oder abwartend.

Dennoch haben wir ein ungutes Gefühl, da wir uns mit jedem Click ins Internet selbst verraten. Wir leben wie auf einer Bühne, auch wenn uns das nicht immer bewusst ist. Wir verändern uns aber auch im Wissen darum, dass ständig jemand mithört, mit bewertet. Wir fühlen uns dadurch diffus bedroht. – Wer weiß schon, wie irgendwann einmal die Daten gegen uns sprechen, wie sie interpretiert werden.

Das Wissen um die digitale Überwachung macht uns vorsichtig. Wir werden eingeebnet, Unterhaltungen werden banaler, die Medien vermeiden anspruchsvolle Themen und damit dreht sich die Spirale unserer Kultur immer weiter nach unten. Wenn man z.B. Literatur, die unter gebildeten Leuten im 18. Jahrhundert verbreitet war und auch lebhaft diskutiert wurde, mit Gesprächen unter den heutigen Eliten vergleicht, dann hat sich das Wort Max Webers bereits erfüllt: „Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.6

Die Entwicklung von Persönlichkeit, eines Selbst, wird auf diese Weise vermieden. Dabei geht von individuierten Menschen ein Geist und eine Energie aus, von dem das Kollektiv profitiert. Eine Gesellschaft, in der man frei denken und handeln darf, besitzt ihr kostbarstes Gut in diesen Menschen. Sie wird sich besser entwickeln, als jedes Land, das mit Bodenschätzen oder Industriegütern reich gesegnet ist. Voraussetzung für die Freiheit des Denkens und Handelns ist ein Konsens darüber, dass diese Freiheit dort endet, wo die eines anderen anfängt.

Das Geheimnis ist also eng mit der Selbstentwicklung verbunden. Sie beginnt in der Kindheit im Alter von etwa acht Jahren und endet eigentlich nie. Wie immer man einen Menschen betrachtet: wenn man seine Würde nicht antasten will, darf man auch seine Geheimnisse, sein Privatleben, nicht berühren. Die Psyche würde so reagieren, als ob sie von Verrätern umstellt wäre.

Im Mittelalter wurde Verrat als Kapitalverbrechen, gleich wie Mord, geahndet. Das bedeutet, dass ein Geheimnis eigene Würde und Wert besaß, obwohl es zu dieser Zeit kaum ein Privatleben gab. Heute sollten wir daran denken, dass sich die Seele nicht so schnell auf modernere Ansichten einstellen kann. Der etwas einfältige Satz „Ich habe nichts zu verbergen“ den man allzu oft hört, wenn man die resignierte Gleichgültigkeit zum Thema Überwachung anspricht, verfehlt die Bedeutung, die der Schutz des Privatlebens für jeden Einzelnen hat.

Ein Geheimnis zu hüten, kann einen hohen Preis fordern, wie z.B. bei Helmut Kohl und seinem Ehrenwort. Man denke an die Paparazzi, die Prominente regelrecht vor sich her treiben. bis zur völligen gesellschaftlichen Vernichtung wie etwa den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff.

König Ludwig II von Bayern schrieb an die Schauspielerin Marie Dahn-Hausmann am 25. April 1876: „Ein ewig Räthsel will ich bleiben mir und anderen.“7. Die geheimnisvollen Menschen, die sich der Öffentlichkeit entziehen, bleiben unsterblich. Es ist immer das Rätsel, das Geheimnis, das uns bannt und interessiert.

Angehörige von Geheimbünden wie z.B. Freimaurer oder Rosenkreuzer versprechen sich Verschwiegenheit. Allein schon deshalb sind sie stark. Ein Geheimnis verbündet, schweißt zusammen, selbst dann, wenn die Zielsetzungen anrüchig sind, wie z.B. bei der Mafia. Aber auch hier haben wir ein Beispiel für die Macht und Energie, die Geheimhaltung mit sich bringt. (Man vermutet sogar, dass der oft als erstaunlich bewertete Machterhalt, der von der Regierung Merkel ausgeht, im hohen Maße von ihrer eigenen Verschwiegenheit und der ihrer engsten Mitarbeiter herrührt.)

Der eigentliche Ursprung der Faszination von Geheimnissen liegt in den religiösen Wurzeln, denen das Geheimnis entstammt. Geheimnisse wecken unwillkürlich Interesse. Es geht ein energetischer Sog vom Geheimnis aus. Man umkreist es, will es „lüften“ – „ent-decken“. Ein Geheimnis ist ein Versprechen, eine Hoffnung, auch eine Befürchtung ein Numen, die Anwesenheit eines gestaltlos Göttlichen8 (Rudolf Otto). Die Mysterienkulte und Orakel der Antike, in Ägypten, die Magier, Auguren, Astrologen und Schamanen hatten durch ihr Geheimwissen Macht; Selbst über Herrscher und Könige.

C.G. Jung9 gibt einen Hinweis auf den Ursprung des Geheimnisbegriffes in seinem Aufsatz „Über die Energetik der Seele“: Nach seiner Auffassung sind die Anfänge der religiösen Symbolbildung mit einem „energetischen Begriff“ verbunden. Sie „zeigen die aller primitivste Vorstellung von einer magischen Potenz, die ebenso wohl als objektive Kraft betrachtet wird, als sie auch subjektiver Intensitätszustand ist“. Zum besseren Verständnis nennt Jung einige Beispiele, die er bei Ethnologen und Anthropologen gefunden hat: Die Dakota nennen diese magischen Potenz oder Kraft: Sonne, Mond, Sterne, Unwetter, Donner und Blitz. Schamanen bezeichnen viele Tiere, selbst Gegenden mit auffälligem Charakter mit „Wakanda“. Diesen Ausdruck könnte man mit „Geheimnis“ wiedergeben – aber er ist zu eng, da Wakanda ebenfalls „Kraft“, „heilig“ „unsterblich“ usw. bedeuten kann. Jung macht darauf aufmerksam, dass es überall in der Welt ähnliche Begriffe gibt, wie z.B. „oki“ bei den Irokesen, „Manitou“ bei den Algonkin, ähnliche Begriffe finden sich in Afrika, Australien und Fernost. Sie haben immer die abstrakte Bedeutung von Kraft oder produktiver Energie.

Jung schreibt: „Das Leben des Primitiven dreht sich sozusagen in allen seinen Interessen darum, diese Kraft (Geheimnis) in genügender Menge zu besitzen. Diese „fast universale Verbreitung der primitiven Energieanschauung“ gilt Jung als Bedürfnis der Menschheit „die Dynamik des seelischen Geschehens anschaulich zu bezeichnen“10. Man denkt unwillkürlich an unseren Ausruf: „Mein Gott!“ – oder „Oh Gott, oh Gott!“ … Das Bedürfnis diese Energie (der Seele) in genügender Menge zu besitzen, erklärt unsere Affinität mit dem Geheimnisbegriff, in dem alles steckt: Mächtigkeit, Macht und Potenz im weitesten Sinn.

Die heutigen Auguren sind Meinungsforscher. Sie sorgen dafür, dass durch genaue Bewegungs-, Kontakt-, Lese- und Einkaufsprofile die Denkgewohnheiten der Bevölkerung vermessen und aufgeschlüsselt werden. Wer weiß, wie das Volk denkt, kann es beherrschen. Das ist eine uralte Weisheit aller Mächtigen.

Heute sind die Gedanken also nicht mehr so frei wie wir immer dachten! Wir verraten durch unser Verhalten mehr, als uns lieb ist. Wir können nichts mehr verbergen, da jederzeit von interessierter Seite auf unser Leben und unsere Vergangenheit zugegriffen werden kann. Wir werden uns also bemühen, ein weitgehend untadeliges Leben zu führen. Früher war es nur der „liebe Gott“, der auf uns blickte und von dem wir Vergebung erhoffen durften, heute kann man sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Späher trotz unserer Schuldhaftigkeit  wohlwollend auf uns blicken. Wer weiß, ob die Big Data-Besitzer im Silicon Valley die Größe haben, die Menschheit ohne Eigeninteresse zu betrachten. Was wissen wir von den eigentlichen Herrschern, von ihren Geheimnissen und Absichten in dieser datengetriebenen Welt?

Dieses Szenario wird schon bei Huxley und Orwell beschrieben. Vielleicht kennt man diese unfreie Wirklichkeit noch aus den Zuständen der DDR oder aus Zeiten der NS-Diktatur. Heute wird der Eingriff ins Privatleben mit „Sicherheit und Gefahrenabwehr“ begründet, – was immer auch darunter zu verstehen ist.

Warum brauchen wir Geheimnisse?

Wer ein Geheimnis besitzt, ist durch dieses Geheimnis vom Kollektiv

(zunächst einmal) getrennt. Diese Trennung ist aber unabdingbar für die Entwicklung zur eigenständigen Persönlichkeit, die aus sich selbst heraus denken, fühlen und handeln kann und nicht in infantiler Abhängigkeit vom Kollektiv lebt.. Andererseits entstehen daraus erhebliche Probleme – sowohl für den Geheimnisträger – wie auch für seine Umgebung. Persönlichkeiten, die sich „ihres Verstandes ohne fremde Hilfe bedienen“11, sind den Mächtigen suspekt. Sie hinterfragen die Obrigkeit. Die aber wünscht sich einfach zu lenkenden Bürger.

Der Gesetzgeber hat dem Bedürfnis nach Wahrung der Privatsphäre Rechnung getragen und bezüglich der Verletzung von Privatgeheimnissen im Strafgesetzbuch entsprechende Paragraphen formuliert12. Es handelt sich also eigentlich um eine öffentliche Aufgabe die Privatsphäre zu schützen. Damit wird ihre Notwendigkeit anerkannt. Diese Gesetze entstanden allerdings noch vor der digitalen Revolution, als der Mensch noch als Individuum respektiert wurde. Dies bringt uns zur Frage nach dem Zusammenhang von Geheimnis und Individuum: Dazu fällt einem sofort Facebook ein, das immer zuerst die Frage stellt: „Was machst Du gerade?“

Wie entwickelt man sich zum Individuum?

C.G. Jung erzählt in seiner Biographie folgende Geschichte: Als Kind, etwa im Alter von 7-10 Jahren, hatte er sich aus einem Stift ein kleines Männlein geschnitzt. Er bekleidete es mit einem Mäntelchen und einem Hut und legte es zusammen mit einem länglichen bemalten Stein in ein Federkästchen. Das versteckte er an einem geheimen Ort im Speicher des Elternhauses. Von Zeit zu Zeit beschrieb er in Geheimschrift (!) kleine Papierröllchen und brachte sie zum Versteck. Dabei hatte er ein feierliches, erhabenes Gefühl. Er hatte sein Geheimnis! Dieses Geheimnis blieb ihm etwa zwei Jahre lang sehr wichtig, danach vergaß er es.

Erst viel später, als er bereits Forschung betrieb und ähnliche geheimnisvolle Verstecke bei primitiven Stämmen fand, fiel ihm sein eigenes Kindheitsgeheimnis wieder ein. Es war eine typische Handlung, die mit seiner Entwicklung und Selbstwerdung zu tun hatte! Durch das Geheimnis vereinzelte er sich und wurde zum eigenständigen Wesen, zum Individuum zur eigenständigen Persönlichkeit13.

 „Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte “Individuation“ darum auch als „Verselbsttung“ oder als „Selbstverwirklichung“ übersetzen.“ 14

Wenn man an unsere mediale Dauerbefeuerung denkt, die eine Entwicklung zum Selbst geradezu unmöglich macht, und vielmehr eine Umgestaltung in eine Kollektivpsyche betreibt, dann wird einem klar, warum es unerlässlich ist, sich zu individuieren, denn das Aufgehen im Kollektiv führt zu Handlungen, die man selbst niemals ausführen würde. Man denke nur an die Veränderungen, die in Menschen vor sich gehen, wenn sie in Diktaturen leben. … Das sind die großen Gefahren, die von Big Data ausgehen. Sie verhindern, dass Persönlichkeiten entstehen, unbeeindruckt vom Mainstream ihr Leben so führen, wie es mit sich selbst verantworten können.

Hatten wir nicht alle in unserer Kinder- und Jugendzeit unsere ganz besonderen Geheimnisse? Haben wir die mit dem besten Freund, der besten Freundin geteilt? Das Tagebuch, das heimliche Versteck? Bestimmte Rituale? Heimliche Lektüre? Schwärmereien, von denen man niemand etwas erzählte? Selbstgespräche? Geheimschriften? Das sind die Vorboten der Entwicklung zum Selbst, zur Persönlichkeit.

Warum ist es so schwer, ein Geheimnis für sich zu behalten?

Wir tragen in uns zwei gleich starke Bedürfnisse, die einander entgegengesetzt sind: Es ist das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Bindung und das Bedürfnis nach Autonomie und Freiheit.

Bei totaler, symbiotischer Zugehörigkeit gibt es kein Geheimnis da man vollständig zu allen gehört. (Das Erfolgsgeheimnis von Facebook, Twitter und Co.).

Beim Bedürfnis nach Selbstentwicklung und Freiheit ist man allein und alles ist Geheimnis.

Wie kann man diesen unvereinbaren Forderungen gerecht werden? Den Konflikt zwischen Zugehörigkeit und Autonomie kennen wir alle.

Haben Sie schon einmal Eltern beobachtet, die mit ihrem Kind, das gerade erst Laufen gelernt hat, spazieren gehen? Das Kind probiert sich aus und läuft, so gut es seine kleinen Beinchen tragen können, den Eltern davon. Nach einiger Zeit bleibt es stehen und vergewissert sich, ob die Eltern noch da sind. Es ist ein beliebtes Spiel, sich von der besorgten Mutter oder dem Vater wieder einfangen zu lassen. – Es kann aber auch sein, dass die Eltern sich nun ihrerseits verstecken und das Kind damit in Verwirrung stürzen. Wenn es sich umdreht, wird es erst nach den Eltern suchen, sind sie längere Zeit nicht zu sehen, könnte es große Angst bekommen und weinen.

In diesem Spiel sehen wir schon den Ansatz zum späteren Konflikt:

Einerseits wollen wir unsere Kräfte und unseren Spielraum ausloten, – andererseits brauchen wir eine sichere Basis, von der aus wir operieren können. Eine Heimat, eine Familie, einen Ort, an den wir immer wieder zurückkehren können.

Ein ständiger Konflikt in Paarbeziehungen! Entweder lebt man symbiotisch zusammen; die Folge ist Langeweile – oder jeder ist nur mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigt und man wird sich fremd – und fühlt sich einsam.

Diese Ambivalenz muss man aushalten können und sich – wie auf einer Brettwippe – um den Mittelpunkt herum etwas hin- und her bewegen. In der Mitte liegt die Lösung!  Geht man nur auf eine Seite, droht Stillstand, der alle Kreativität erstickt. Wer mit diesem Konflikt reifer umgeht und um den Mittelpunkt herum spielerisch tanzend sich bewegen kann, wird sich weit besser fühlen. (Die Darstellung und Lösung dieses Konfliktes würde eine abendfüllende Erörterung verlangen.)

In Richard Wagners15 Oper, singt Lohengrin, Retter der Elsa von Brabant, eindringlich: „Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam‘ und Art!“

Elsa, die ihm für ihre Rettung zutiefst dankbar ist – verspricht: „Nie, Herr, soll mir die Frage kommen!“ – Da singt Lohengrin noch einmal eindringlicher: „Elsa! Hast du mich wohl vernommen? Nie sollst du mich befragen…“. – Später redet ihr die falsche Ortrud ein, dass Lohengrin sicher Gründe hat, seine Herkunft zu verbergen, dass er möglicherweise sogar ein böser Magier sei, der genauso plötzlich wieder verschwindet wie er aufgetaucht ist. – Aus Angst ihn zu verlieren, fragt sie ihn in der Hochzeitsnacht dann doch – und verliert ihn!

Dabei hatte Lohengrin ein gutes Geheimnis: Er war Gralsritter und brauchte sich seiner Herkunft nicht zu schämen.

Richard Wagner hat hier ein immer wieder auftauchendes Problem zwischen Mann und Frau thematisiert. Es sind sehr oft Frauen in den alten Geschichten, den Märchen und Sagen, die ihre Neugier nicht zügeln können und dadurch Geheimnisse aufdecken. Dadurch richten sie meist Unheil an. Woher kommt dieses Vorurteil? Es hat möglicherweise mit Existenzängsten, der schwachen Stellung der Frau und ihrer damit verbunden Unsicherheit zu tun. Eine in sich ruhende Persönlichkeit muss nicht schnüffeln, sie hat genug Vertrauen in sich und die Welt, so dass sie den Dingen, die da kommen ruhig entgegen sehen kann. Wer unsicher ist, muss spionieren, ausspähen. Dies gilt natürlich auch für die Politik: Je unsicherer das Regime, umso umfassender sind seine Geheimdienste.

Warum ist es so schwer, ein Geheimnis zu bewahren? – Weil allein schon durch das Wissen um die Existenz eines Geheimnisses, die gesamte Umwelt in Erregung versetzt. Das Wissen um ein Geheimnis verlangt gebieterisch nach Aufklärung.

Der gewichtigere Grund, ein Geheimnis preiszugeben, aber ist der dringende Wunsch, “dazu“ zu gehören. Der Mensch ist ein auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen. Insofern wird uns die Vereinzelung, der wir durch den Geheimnisbesitz ausgesetzt sind, immer auch schwer belasten.

Es gäbe keine Geständnisse – weder bei Gerichten noch privat – wenn dieser Druck nicht existierte.

Das Beichtgeheimnis der römisch-katholischen Kirche16 ist unverletzlich. Die direkte Verletzung desselben wird mit Exkommunikation bestraft. Rechtsgeschichtlich handelt es sich hier um eine der ältesten Datenschutzvorschriften!

Auch die evangelischen Landeskirchen haben das Beichtgeheimnis zu beachten. Die Beichte hilft den Druck des Ausschlusses von uns zu nehmen; vorausgesetzt, man erhält Absolution.

Jedem Geständnis geht ein schwerer innerer Kampf voraus. Ein Geheimnis mit sich „herumzuschleppen“ – das Wort zeigt uns genau, was es damit auf sich hat – kann tatsächlich die Körperhaltung verändern. Von dieser Last möchte man sich befreien, damit man wieder aufrecht gehen kann. Das Geständnis führt zurück in die Gemeinschaft, selbst wenn sie die schwersten Strafen verhängt.

Was sollten wir dem jeweils anderen an Geheimnissen zugestehen?

Von Ephraim Kishon17 ist folgendes Bonmot verbreitet: „Es kommt im Leben jedes Mannes einmal die Stunde der Wahrheit der man sich stellen muss: Dann hilft nur eines: lügen, lügen, lügen!“ Das könnte sogar sehr ratsam sein, denn nicht jede Beziehung hält die ganze Wahrheit aus.

Wir müssen unsere Geheimnisse in die eigene Verantwortung nehmen. Das kostet zwar etwas Nähe, andererseits fühlen wir in uns in dieser Einsamkeit* auch stolz und – durch unser Wissen um etwas – erleben wir uns als Individuum als ein unteilbares Ganzes. Wir erlangen dadurch eine spürbare Würde.

*(das Wort „einsam“ drückt das „Eins sein mit sich zusammen“ sehr gut aus)

Manche Geheimnisse wirken wie tödliches Gift, wie z.B. langjährige Untreue, verschwiegene Erkrankungen, Suizide, Missbrauch, existenzgefährdende Schulden, außereheliche Kinder, schwerwiegende Vertrauensbrüche.

Daneben gibt es aber andere Geheimnisse, die wir alle kennen: Gedanken, die wir für uns behalten, Träume, Pläne, Fantasien – und unser Intimleben. Sie gehören nur uns. Sie sind wichtig für unsere Integrität und Individualität. Um sich selbst bleiben zu können, brauchen wir einen inneren Raum der nur uns gehört.

So möchte ich am Ende meiner Ausführungen aus der Oper „Iphigenie auf Tauris“ von Christoph Willibald Gluck19 zitieren:

Orest sagt zu Iphigenie die unvergleichlichen Worte:

„Ich ehrte dein Geheimnis – du forsche nun nichts mehr!“1819

Literaturverzeichnis:

1Eggers, Dave (2014, 2. Aufl.): Der Circle. Köln: Kiepenheuer & Witsch

2Huxleys, Aldous (1932): Schöne neue Welt. Frankfurt am Main, Mai 2012: S. Fischer Verlag

 3Orwell, George (1949), (2013, 36. Aufl.): 1984. Berlin: Ullstein Verlag

4https://de.wikipedia.org/wiki/Vorratsdatenspeicherung(letzter Zugriff: 25.10.2015)

5https://de.wikipedia.org/wiki/Privatsph%C3%A4rehttps://de.wikipedia.org/wiki/Privatsph%C3%A4re (letzter Zugriff: 25.10.2015)

6Weber, Max (1.-8., photomechan. gedr. Aufl. – 1986): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: J.C.B. Mohr 1920, S. 204

7von Böhm, Gottfried (1924): Ludwig II. König von Bayern. Sein Leben und seine Zeit. Berlin: zweite, vermehrte Aufl. S. 438).

https://de.wikiquote.org/wiki/Ludwig_II._von_Bayern

8 Otto, Rudolf https://de.wikipedia.org/wiki/Numen (letzter Zugriff: 25.10.2015)

 9Jung, C.G. Die Dynamik des Unbewussten. Über die Energetik der Seele. GW 8, § 114-120, 2. original gemäß rev. Aufl. 1976. Walter-Verlag Olten (1971)

10Ebd. § 116

11 Kant, Immanuel Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift, 1784

https://de.wikipedia.org/wiki/Beantwortung_der_Frage:_Was_ist_Aufkl%C3%A4rung%3F (letzter Zugriff 16.12.2015)

Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung. 1784. (Büchmann, Gg.: Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz. 39. Aufl. Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin 1993, S. 330).

12Strafgesetzbuch 15. Abschnitt – Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs §§ 201-206)

http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/BJNR001270871.html (letzter Zugriff: 16.12.2015)

13Jaffé, Aniela: Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. 6. Aufl. 1988, S. 27-30. Walter-Verlag Olten, 1971)

14Jung C. G., GW 7, Zwei Schriften über analytische Psychologie: 5. Die Funktion des Unbewussten. § 266, 4. vollst. rev. Aufl. 1989 Walter–Verlag Olten 1971

15Wagner, Richard Oper (1983): „Lohengrin“. 1. Aufzug, 3. Szene. Seite 21. Reclam. Universal-Bibliothek Nr. 5637

16 Kirche, Römisch-katholisch(can. 983§ 1 CIC)

https://de.wikipedia.org/wiki/Beichtgeheimnis (letzter Zugriff: 16.12.2015)

17 Lisa Kishon-Witasek (2012) Geliebter Ephraim. München: Langen Mueller Herbig

18Bd. Vermischte Schriften – Google Books-Ergebnisseite

https://books.google.de/books?id=YnA5AAAAMAAJ

Johann Baptist von Alxinger, ‎Florian – 1812

Iphigenie Nun wohl denn — Grausamer! erfülle deinen Wunsch. Orestes (zu … Ich ehrte dein Geheimnis;; Du forsche nun nichts mehr. Pylades. Wohl, ich will … (Letzter Zugriff: 29. 12. 2015)

19 Gluck, Christoph Willibald, Oper Iphigenie auf Tauris, Uraufführung 1779, Paris

https://de.wikipedia.org/wiki/Iphig%C3%A9nie_en_Tauride

https://www.google.de/#q=ich+ehrte+dein+Geheimnis (Letzter Zugriff: 19.12.2015)