Ende und Anfang – Abolitio nominis: Voraussetzung für den Neubeginn?

DGPA-Tagung 2022 München-Haar  22.-24. September 2022

Im Vortrag zum Thema „Ende und Anfang“ wird am Beispiel der Begriffe „abolitio nominis“ bzw. „damnatio memoriae“ der Frage nachgegangen, ob es für einen gelingenden Anfang sinnvoll ist, vergangene Geschehnisse zu eliminieren. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist unabdingbar. Der Versuch die Vergangenheit  zu leugnen, wirkt sich verhängnisvoll auf die Gegenwart aus.

Aus dem alten Ägypten kennen wir den Begriff „Abolitio nominis“. Es handelt sich dabei umdie  Tilgung des Namens und damit des Andenkens an einen unliebsamen Herrscher. Betroffen waren u.a. die Pharaonin Hatschepsut, der Pharao Echnaton, sowie mit der Amama-Zeit in Verbindung stehende Könige.)

Auch in Griechenland gab es entsprechende Strafen, wie z.B. für Herostratos, der den Tempel der Artemis in Ephesos niederbrannte. Sein Name durfte bei Todesstrafe nicht mehr genannt werden. Damit war die Tat sinnlos.

Die Polis von Ilion erließ um 280 ein Gesetz (OGIS 218), wonach die Namen von „jenen, die mit Tyrannen oder Oligarchen gemeinsame Sache machten, aus allen öffentlichen und privaten Inschriften auszumeißeln“ sind.

Der römische Senat belegte mit seiner der „Damnatio memoriae“ die Kaiser Caligula, Nero, Domitian, und viele andere. Bildnisse, Statuen, Büsten, Hermen, Münzen und alles was an sie erinnerte, wurden zerstört. Der Nachfolger, nicht der Senat, entschied ob ein toter Princeps der Damnatio verfiel oder in den Götterhimmel erhoben wurde.1)

Solche Verfahren der Ächtung finden sich bis in die Gegenwart. Dabei geht es nach wie vor darum, unliebsame Personen aus der Erinnerung zu tilgen; das ist einfacher, als sich mit ihren Ansichten auseinanderzusetzen. Unter Stalin wurden bestimmte Personen (z. B. Trotzki)  aus Fotographien und Gemälden heraus-retuschiert. Auch in DDR-Zeiten verschwanden Wochenschau-Filme oder Medienberichte von Republik-Flüchtlingen. Diese Personen sollten eigentlich nie existiert haben, auch – oder weil – sie vorher interessant waren.

Heute, in Zeiten des Informations-Overkill, genügen schon einige Monate, oder gar Wochen des Totschweigens missliebiger Personen oder Nachrichten, damit sie aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden. Dazu gehört auch die Sperrung von Internet-Accounts. Wer sich nicht öffentlich äußern kann, wird vergessen. – In unserer schnelllebigen Zeit vergisst man die Sensation von gestern leicht, denn schon wartet wieder die neue Schlagzeile.

Im politischen Betrieb hat sich die so genannte „Cancel-Culture“ bewährt, mit der missliebige Personen oder Meinungen totgeschwiegen werden. Die perfekte Damnatio memoriae!

Ist es die Vernichtung eines vorhergehenden Zeitabschnitts, einer Person, die es braucht, damit der Anfang gelingt?

Wenn ein Neubeginn die totale Auslöschung des „Vorher“ erfordert, dann entsteht der Verdacht, dass dieses „Vorher“ dem Neubeginn, dem Nachher, gefährlich werden könnte. Vorher soll nach dieser Vorstellung möglichst das Nichts sein. – Nun kann man aber – was immer gewesen sei, die Existenz einer Tatsache nicht leugnen. Dies macht diese Abolitio, sei der Grund dafür Rache oder gerechte Strafe, verdächtig.

Dieser Vernichtungswunsch für alles was vorher geschah, setzt eine Art Tabula rasa voraus, um anfangen zu können. Gäbe es die Möglichkeit totales Vergessen anzuordnen, ein Nichts im Vorher, dann gäbe es die unendlichen Weiten des Unbewussten, Vorbewussten, des Unterbewusstseins nicht; auch keine Träume, Archetypen – möglicherweise auch keine Kunst.

Ist es nicht so, dass wir das Vorher in der einen oder anderen Form  – meist unbewusst – im Anfang, in unsere Existenz, doch unhinterfragt voraussetzen? Jeder Humangenetiker wird uns das bestätigen.

So, wie wir an den unterschiedlich farbigen Erdschichten an den Abhängen einer Sandgrube, die Überreste längst vergangene Epochen finden und erkennen, so ist es immer sinnvoll sich darüber bewusst zu sein, dass wir buchstäblich auf dem Boden stehen, in dem unserer Vorfahren liegen, einem Boden, den unsere Ahnen kultiviert haben.

Ahnenverehrung, die sich in allen Kulturen  findet, hat mit Kontinuität und Erinnerung an die Vergangenheit zu tun. Wird diese Erinnerung unterdrückt oder verachtet, ist damit zu rechnen, dass sich durch den Abriss dieser Kontinuität schwere Identitätsprobleme ergeben, die sich früher oder später in psychischen Problemen äußern; in individueller oder kollektiver Form.

Alle Kulturen haben Märchen, Sagen und Überlieferungen, die Identität und Zugehörigkeit verleihen.  

Wenn neue Machtstrukturen, Religionen oder Ideologien entstehen, wird immer wieder versucht, die Erinnerung an die vorherigen Herrscher oder Denkweisen auszulöschen.

Da dies bei der verbleibenden Bevölkerung meistens schwierig ist, versuchen die neuen Machthaber vor allem die Kindererziehung an sich zu reißen, wohl wissend, dass damit eine neue Generation so indoktriniert wird, dass sie sich im Ernstfall sogar gegen die eigenen Eltern richtet. (So geschehen z.B. im Nationalsozialismus, im Kommunismus und natürlich in den Koranschulen, Klosterschulen usw.) Diese Umerziehung der Kinder muss nicht nur immer schlechte Auswirkungen haben. Sie kann auch Fortschritt mit sich bringen, aber die totale Verdrängung der ursprünglichen Kultur ist nicht ohne seelische Einbußen im Kollektiv zu meistern.

Wenn ich an meine psychotherapeutische Arbeit denke, dann wurde auf die Frage nach der erwünschten Zielvorstellung der Therapie fast immer das Ende eines Konflikts bzw. eines Zustands angestrebt.

Für solche Fälle ist der Therapieansatz von Steve de Shazer  hilfreich,  in dem eine so genannte Wunderfrage gestellt wird. Sie lautet: „Stellen sie sich vor, heute Nacht geschieht ein Wunder, und das Problem, über das wir gerade sprechen, ist gelöst!“2) genau genommen: Stellen Sie sich vor, das Problem gibt es nicht! Der Patient wird jedoch unwillkürlich immer wieder darauf zurückkommen, und seiner Erleichterung darüber Ausdruck verleihen, dass er das Problem nicht mehr hat. Man muss ihn dann geduldig darauf hinweisen sich vorzustellen, dass er von dem Problem gar nichts weiß. – Schließlich findet er zu einer Neubeschreibung der zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten, zu einer veränderten Sprache und damit zu einem veränderten inneren Zustand.

Diese Erkenntnis benutzen Sprachwissenschaftler wie Elisabeth Wehling3), die in den USA lehrt und forscht: Im Auftrag der Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel erstellte sie ein Werk, wie „Framing“ im öffentlichen Diskurs, insbesondere in den Medien nützlich eingesetzt werden kann. Über Framing und Gendern wird das Bewusstsein weiter Kreise im Sinne einer neuen Ideologie verändert. (Z.B. Modeprospekte mit Models verschiedener Hautfarben, Heimatfilme bzw. Krimis mit, Afrikanern und Asiaten, die zeigen sollen, dass es keine Rassenunterschiede gibt.) Nach einiger Zeit wird diese Szene absorbiert und als Normalität empfunden.

Ist damit das 20. Jahrhundert endgültig verschwunden? Hebt ein neues Denken an, indem man Begriffe und ihren Bedeutungszusammenhang verändert? Oder kann man an der neueren Sprech- und Ausdrucksweise eine gewisse politische Kaste erkennen, die alle vorherigen Begriffe neu einordnet (framt) und damit zugleich das Denken im Sinne ihrer erwünschten Ideologie verändern will? Framing gilt seit Obamas Wahlkampf als Geheimrezept für eine gelungene politische Kampagnenführung.

Elisabeth Wehlings Buch: „Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht,  hat die Augen dafür geöffnet, dass „gedankliche Deutungsrahmen …,  Frames genannt“  den politischen Diskurs entscheiden.  Wer also die passenden Begriffskonzepte zur Hand hat, kann die Deutungshoheit in der politischen Landschaft erringen, weil sich dies über Sprache vollzieht. (siehe auch die Forschungsarbeiten von George P. Lakoff und Mark L. Johnson.4).)

Welche Erinnerung wird bei Opferfamilien beider Seiten nach einem Krieg eines Tages zulässig sein? Die Namen werden – je nach Narrativ – von den Siegern gelöscht. Kann auf dieser Grundlage ein völliger Neubeginn gelingen? Könnte ein solches Ende den Anfang für neue Kriege bilden?

Bekanntlich schreiben die Sieger die Geschichte, und setzen das jeweilige Narrativ in einen neuen Rahmen, aber ist das dann wirklich ein Anfang? Frei von Erinnerung? Gibt es auf diese Weise eine echte Versöhnung? Kommen nicht immer wieder die alten Ressentiments an die Oberfläche? Sowohl beim Sieger, wie auch beim Besiegten?

Sprache schafft Wirklichkeit. Nehmen wir womöglich nur noch solche Fakten wahr, die in die Frames passen? Um genau zu sein, heißt es bei Wehling (S. 47) „Kurzum, bei gleicher Faktenlage – seien es Arbeitslosenzahlen, Fakten zur Umweltverschmutzung oder auch Fakten zu Löhnen und Steuern – machen Frames die Musik. Und nicht etwa die Fakten. Diese Tatsache macht Fakten in der Politik nicht obsolet, im Gegenteil. Aber Fakten ohne Frames sind bedeutungslos.“.

In Deutschland wurde nach dem Krieg eine Erinnerungskultur etabliert, die das Andenken an die Opfer des Krieges und der damit verbundenen Verbrechen pflegt. Auch wenn diese Erinnerung ausdrücklich aufrechterhalten werden muss und nichtsvergessen werden darf und zum Frieden mahnen soll, so würden allzu Viele nur zu gern ein Ende finden und nichts mehr davon wissen wollen. Hier muss Erinnern, darf also kein Ende stattfinden. Allerdings wird dieses Erinnern natürlich auch „geframt“, was wiederum von interessierter Seite mit anderen Frames beantwortet wird.

Viele andere Gräueltaten, wie der kommunistische Terror mit Millionen von Toten, die Kulturrevolution unter Mao oder die unzähligen kleineren Genozide in Afrika oder Südamerika und auch an den indigenen Völkern Nordamerikas sind zwar bekannt, aber wurden weit seltener thematisiert und somit mehr oder weniger vergessen.  

Man soll die Ahnen in Ehren halten. Das Wort „de mortuis nil nisi bene“, dass man über die Toten nur Gutes sagen soll, gehört wohl auch zum Respekt gegenüber den Ahnen, auch wenn der tiefere Grund vielleicht Angst vor dem „Geist“ des Verstorbenen war.

Wenn man aber wenig Gutes zu sagen weiß? Es gilt ja auch, dass sich die Sünden der Väter bis ins vierte und fünfte Glied rächen sollen. – Oft sind es durchaus auch Wahrheiten, die man lieber nicht hören will. Wir haben in unserer heutigen Zeit dafür den neuen Begriff der Cancel Culture ersonnen. Darunter versteht man, dass unliebsame Stimmen, z.B. von Kabarettisten, oder Äußerungen von Parteien aus einem anderen politischen Lager, zum Schweigen gebracht werden, indem sie in der Öffentlichkeit, insbesondere aus den Medien, ausgesperrt werden. Sie werden ignoriert und nicht mehr zum Diskurs zugelassen. Kann so der Anfang gelingen?

Man kann sicher darauf zählen, dass in der heutigen Zeit der ungesunden Informationsflut vieles im Lärm der aufgeregten Medien-Skandalisierung übertönt werden kann. Man kann schon ablenken; aber wenn es sich um Tatsachen handelt, dann verschwinden die nicht einfach, selbst wenn mit Gedächtnislücken argumentiert wird, auch dann nicht, wenn die gerade herrschende Klasse noch so sehr ihre eigenen Anliegen auftischt.

Die niedergerissenen Stalin-Denkmäler, die ausgemeißelten Hakenkreuze können nicht verbergen, dass es sich doch um Bauten aus der jeweiligen Diktatur handelt. Soll man auch die Bauten abreißen? Teilweise wurde das getan, aber meistens wäre das zum eigenen Schaden. Was ist besser? Die Ahnen dort zu ehren, wo sie ehrenhaft waren und zu verurteilen, wo sie schuldig wurden, oder die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart dort einfach zu verdrängen, zu negieren, wo sie scham- und schuldbeladen ist?

Kann ein Anfangen überhaupt gelingen, wenn man Tatsachen negiert? Reagiert man dann nicht wie ein Kind, das glaubt es sei unsichtbar, wenn es sich die Augen zuhält?

Friedrich Nietzsche hatte diesen Sachverhalt so treffend beschrieben: „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. – Schließlich gibt das Gedächtnis nach. …“. 5)

So wird dann mit subtilen Mitteln (Frames) das Gedächtnis zum Schweigen gebracht, statt – wie sich das ein vernunftbegabtes Wesen vorstellt – demokratisch und fair das Problem zu bearbeiten.

George Orwell hat in seinem Roman „1984“ diesem Mechanismus ein Denkmal gesetzt: Alles, was den Herrschern missfiel, verschwand im „memory hole“. Damit konnten alle Dokumente umgeschrieben werden. Wer die Macht über die Geschichte hat, hat auch Macht über Gegenwart und Zukunft.

In unserer heutigen Zeit wird eine politisch unpassende Meinungsäußerung mit dem „sozialen Tod bestraft. Wer in öffentlichen Ämtern tätig ist, wird sich vorsehen, Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu üben. Die omnipräsenten Medien sorgen dafür, dass mainstreamwidrige Meinungen nicht mehr diskutiert werden. Man kann beim täglichen „Informationsgetrommel“ getrost darauf wetten, dass unliebsame Ereignisse, die man lieber nicht öffentlich diskutieren möchte, aus dem Gedächtnis verschwinden. Zur Ablenkung betonen regierungstreue Medien dann möglicherweise Sportereignisse, oder schüren anderweitige Ängste vor allerlei Gefahren. Es könnten ja auch tatsächlich Meteoriten vom Himmel fallen und eine neue Eiszeit provozieren. Die wirklichen Probleme, die aus den Frames der aktuell verordneten Meinung fallen, werden aus allerlei interessengesteuerten Gründen dann nicht angepackt. Über 70 % der Deutschen haben die Meinung geäußert, dass sie ihre Meinung lieber für sich behalten, weil sie Nachteile für sich befürchten.6)

In Familien laufen diese Mechanismen ähnlich ab. Eine wichtige therapeutische Aufgabe besteht darin, blinde Flecken aus den Familiengeschichten sichtbar zu machen, die schwarzen Schafe aus dem Familienverbund zu würdigen und – wenn man einen systemischen Ansatz verfolgt – die fehlenden Bausteine zu integrieren.

In Familienaufstellungen zeigen sich Orwells „memory holes“ verblüffend deutlich, denn ein Familiengeheimnis verbraucht sehr viel Energie, die Anfänge immer wieder sabotiert. Dabei wissen wir: zumindest im kollektiven Unbewusstsein  bleibt alles erhalten, und drängt in der einen oder anderen Form doch ins Bewusstsein.

Historiker beklagen oft die Geschichtsvergessenheit der jüngeren Generation. Tatsächlich werden entwurzelte und konfuse Generationen auch für Ideologen und Fanatiker anfällig. Es fehlt der sichere Boden, das Wissen um die Herkunft, für die Vergangenheit, mit der man nur abschließen kann, wenn man um sie weiß, nicht wenn man nichts davon wissen darf. So kann man Zukunft entwickeln und gestalten und vor dem Anfang auf einem sicheren Boden bauen.

Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wohin man gehen will, nur dann weiß man auch, wer man ist. Dieses Wissen, diese Sicherheit, ist die Voraussetzung für einen gelingenden Anfang.

Literatur:

1) (https://de.wikipedia.org/wiki/Damnatio_memoriae#%C3%84gypten_und_Griechenland

2) Shazer, de Steve/Yvonne Dolan (2008). Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte    Kurztherapie heute. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag.

3) Wehling, Elisabeth (2016). Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet –     und daraus Politik macht. edition medienpraxis. Köln: Halem-Verlag.

Zusätzlich verwendete Literatur:

4) Lakoff, George, Johnson, Mark (1980). Metaphores we live by. University of   Chicago Press.

    Lakoff, George, E. Wehling (2008). Auf leisen Sohlen ins Gehirn: Politische Sprache und ihre   heimliche Macht. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag.

6) Nietzsche, Friedrich (1886). Jenseits von Gut und Böse. Viertes Hauptstück. Sprüche und       Zwischenspiele. Berlin: Boer-Verlag.

7) https://www.welt.de/politik/article193977845/Deutsche-sehen-Meinungsfreiheit-in-der-Oeffentlichkeit-eingeschraenkt.html

   Ayan, Steve (2022). Was man noch sagen darf. Die neue Lust am Tabu. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verlag.