Das Identitätsproblem im Alter

Zunächst soll geklärt werden, wie die verwendeten Begriffe verstanden werden sollen:

Unter Identität¹) soll hier die Eigentümlichkeit einer Person verstanden werden; die Eigenschaften, worin sie sich von anderen unterscheidet. Dies betrifft sowohl die Selbst- wie auch die Fremdzuschreibung. Da sich Identität über den Lebenslauf hinweg ständig neu entwickelt und im sozialen Umfeld behaupten muss, ist sie immer wieder neu gefährdet.

 Dadurch entsteht möglicherweise ein Problem ²), denn besonders im Alter wird die errungene Identität wieder brüchig. Sie muss – wenn man nicht resignieren will – neu erarbeitet werden. Das kann zu Konflikten mit der Umgebung führen, die bei nachlassenden Kräften möglicherweise schlecht auszuhalten sind.

 Unter Alter verstehen wir den Zeitabschnitt vom Beginn der zweiten Lebenshälfte an, in etwa ab dem fünften Lebensjahrzehnt bis zum Tod. Es ist die Zeit, in der sich die Lebensperspektive verkürzt und diese Verkürzung auch mehr oder weniger deutlich ins Bewusstsein dringt. Der damit verbundene, notwendige Perspektivenwechsel verändert die Persönlichkeit eines Menschen. Auslöser für die neue Sichtweise auf das eigene Leben und die eigene Persönlichkeit sind meist äußere oder innere krisenhafte Ereignisse, die einen Bewusstseinswandel hervorrufen.

 Der Altersbegriff ist in unserer Gesellschaft inzwischen dehnbar geworden. Übergänge in andere Lebensphasen wurden früher durch feierliche Rituale markiert. Leider stehen diese uns heute kaum mehr zur Verfügung. Wir betrachten sie eher als Folklore aus vergangenen Zeiten oder fernen Kulturen. In unserer Gesellschaft sehen wir in „Feiertagen“ wie Weihnachten, Jahreswechsel, Konfirmation, Firmung, Schul- oder Studienabschluss, Heirat ja sogar Scheidung höchstens einen Grund für exzessiven Alkoholgenuss oder sinnlosen Konsum. Die kirchlichen Rituale bei Hochzeiten und Beerdigungen werden gerne mitgenommen. Sie geben einen feierlichen Rahmen und strukturieren den Tag; dienen aber eher dazu, die eigene Ratlosigkeit zu überbrücken. Ihr tieferer Sinn ist weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden – ähnlich dem Tannenbaum zu Weihnachten, oder dem „Weihnachtsmann“, der sowohl mit dem Christkind, wie auch mit dem Hl. Nikolaus gleich gestellt wird.

 (Persönliche Anmerkung: Ich hatte darüber vor kurzem einen heftigen Streit mit einer Journalistin, die mich ernsthaft davon überzeugen wollte, dass an Weihnachten der Weihnachtsmann kommt. Vom Christkind, vom eigentlichen Sinn des Weihnachtsfestes, von seinen heidnischen Wurzeln, hatte sie noch nie etwas gehört.)

 Ohne die Taktgeber unserer kirchlichen Feste im Jahresverlauf gestaltet sich das Leben monoton. Gerade in diesem Fall aber wird man eher vom Alter überrascht. Plötzlich werden wir von einer Krankheit heimgesucht, verlieren die berufliche Perspektive, der Tod eines nahe stehenden Menschen konfrontiert uns mit unserer eigenen Vergänglichkeit und unserer Einsamkeit. In solchen Fällen wird das Alter als Katastrophe empfunden. Der Wechsel von einer Identität, z.B. im Beruf als Manager mit unbegrenztem Potential zum weniger belastbaren Angestellten, verlangt gebieterisch eine Anpassung, die nicht immer gelingt.

 Gleiches gilt für eine Frau, die sich Zeit ihres Lebens als treu sorgende Mutter verstand und in der Lebensmitte gegen eine jüngere Konkurrentin ausgetauscht wird. Auch dieser Verlust der sozialen- sowie der Rollenidentität verlangt eine anstrengende Entwicklung, die idealer weise das Leben mit neuem Sinn erfüllt. Die Übereinstimmung der Person mit dem, was sie darstellte geht verloren. Es ist nicht einfach, sich völlig neu zu orientieren. Das Alter und die damit verbundenen Krisen und Verlusterlebnisse werden zur Problematik: Verlust der beruflichen Rolle, Verlust der physischen Unversehrtheit, der eigenen Stärke, Verlust aller Sicherheiten in der Familie, Verlust durch den Wegzug der Kinder und dazu kommen noch viele andere Krisen, die mit seelischen Kränkungen einhergehen. Je älter man ist, desto schwieriger erscheint es, neu zu beginnen. Dazu trägt die Jugendverliebtheit unserer Gesellschaft erheblich bei. Wenn ein vorgezogenes Renteneintrittsalter die Regel ist, fühlt man sich auch entsprechend. Man glaubt, es sei zu spät. Obwohl Entwicklungskrisen aller Art vorhersehbar sind, treffen sie das Individuum aber doch meist überraschend. Alle Formen von Scheitern, Zurückweisungen und Kränkungen sind letztlich Identitätskrisen.

 Erikson schreibt, dass Sigmund Freud den „Begriff Identität nur einmal vollinhaltlich“ verwendet hätte, in einem psycho-sozialen Zusammenhang: „Bei seinem Versuch, seine Bindung an das Judentum zu formulieren, sprach er von der ‚klaren Bewusstheit innerer Identität’ (1926 b), die sich nicht auf Rasse und Religion stütze, sondern auf eine gemeinsame Bereitschaft in der Opposition zu leben, und auf die gemeinsame Freiheit von Vorurteilen, die den Gebrauch des Verstandes einschränkten. Hier weist der Begriff ‚Identität’ also auf das Band hin, das den einzelnen Menschen mit den von seiner einzigartigen Geschichte geprägten Werten seines Volkes verbindet.“ 

 So verstanden könnte selbst ein Hartz-IV-Empfänger z.B. seine kulturelle Identität als „Deutscher“ aufrechterhalten, pointiert z.B. als Berliner. Er könnte aber auch kreativ werden und neue Beschäftigungsfelder finden – z.B. als Künstler, ja er könnte sogar sein berufliches Scheitern als besondere Aussteiger-Philosophie verklären und daraus gewissermaßen eine Tugend machen, die seine Identität zu seinen Gunsten verändert. Zu viele aber bleiben an ihre frühere Rolle gebunden. Der Forderung der modernen Gesellschaft nach Flexibilität können sie nicht nachkommen. Sie verändern sich nicht, sie bleiben in der Opferrolle stecken und verstehen sich selbst nur noch über ihre früheren Erfolge. Einerseits bietet unsere Zeit unzählige Freiheiten und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, andererseits ist die Seele zu konservativ, um solche Rollenwechsel ohne innere Verluste einzuüben.

 Bis in unsere Tage gab und gibt es immer noch feste Vorstellungen davon, welche Rolle man im Alter einzunehmen hat. Dabei werden diese Rollenidentitäten – zumindest in unserer Gesellschaft – fast täglich verändert. Gerade für die ältere Generation sind bisher ungeahnte Freiheiten möglich geworden. – Andererseits ist es der Boulevardpresse immer noch eine Schlagzeile wert, wenn ein Siebzigjähriger noch einmal Vater wird. Es gibt aber auch immer häufiger fünfzig- und sechzigjährige Mütter. Das unsichtbare und unausgesprochene Diktat, dass man sich etwa ab dem vierzigsten Lebensjahr „würdig“ zu benehmen und zu kleiden hat, ist längst überwunden. Es gibt Motorradfahrer, Extrembergsteiger und Skifahrer im Rentenalter, Marathonläufer – und eben auch Väter und Mütter.

 Berthold Brechts Erzählung „Die unwürdige Greisin“ aus dem Jahr 1939, beschreibt die unerbittliche Rollenzuweisung der Gesellschaft an ältere Menschen. Nach aktuelleren Erkenntnissen der Neurobiologie haben solche Erwartungen und inneren Bilder Einfluss auf das Ich-Gefühl, auf die Gesundheit und selbst auf den Tod eines Menschen. (Gary Bruno Schmid: Tod durch Vorstellungskraft. 2. Aufl. Springer-Verlag, Wien, 2010, oder Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder. usw.).

 „Si jeunesse savait – si vieillesse pouvait!“… (Frankreich, XV. Jh.)

Dieser Spruch, dass die Jugend zu wenig weiß und dass das Alter nicht (mehr) kann, trifft heute immer weniger zu, hat aber mit der jeweiligen Identitätsproblematik sehr viel zu tun. Ein Beispiel hierfür wäre die Computertechnolgie: Viele ältere Menschen kapitulieren vor der Aufgabe, die plötzlich „digitales Denken“ verlangt. Denn mit der ihnen vertrauten, bisher logisch erscheinenden Herangehensweise, manövrieren sie sich in den meisten Fällen ins Abseits.  

 Seit die Altersgruppen entzerrt wurden und die Jungen via Internet Zugang zu allen gewünschten Informationen haben, wissen sie ungleich mehr, als in früheren Zeiten. Bei den älteren Menschen verhält es sich aber inzwischen auch ganz anders: Sie „können“ noch viel mehr und sind auch viel sportlicher und gesünder als vorherige Generationen und vor allem: Nicht jeder ältere Mensch resigniert beim Anblick eines Laptops. Immer mehr Ältere sind bereit, dazu zu lernen, und sie blühen dabei geradezu auf.

 Das hat viel mit unserer Vorstellungskraft zu tun und damit, dass wir uns aus den traditionellen Bildern Schritt für Schritt entfernen. Dabei spielen die medizinischen Fortschritte eine große Rolle. Viele Alterserscheinungen wie grauer Star, Hüftleiden und viele andere Abnutzungserscheinungen kann man heute vergleichsweise unspektakulär beseitigen. Dadurch entstehen andere Selbstbilder, ein anderes Selbstempfinden, ein anderes Gefühl für die eigenen Möglichkeiten, kurz: ein positiv verändertes Körpergefühl. Wer allerdings das innere Bild des siechen alten Menschen mit sich herumträgt, wird sein Alter auch so erleben.

 Dabei kommt es natürlich wieder auf das Umfeld, auf die Gesellschaft an. Identität als psychosoziales Konstrukt wird in der Großstadt anders erlebt, als in der Provinz. So betrachtet ist es verständlich, wenn sich ältere Menschen vehement gegen einen Aufenthalt im Altersheim sträuben. („Da sind nur Greise, die den ganzen Tag nur über ihre Krankheiten reden.“) Eine derartige Umgebung kann sich auf das eigene Identitätserleben tatsächlich schädlich auswirken.

 Am meisten lernt der Mensch in und durch Beziehungen (Hüther) – ganz so wie unser neuronales System auf diese Weise lernt. Die Neurone verknüpfen sich an jenen Stellen im Gehirn fester, die öfter angeregt, bzw. aktiviert werden. Daher ist es so wichtig und von den älteren Menschen auch richtig erkannt, dass man nicht in Altenghettos verkümmert. Sonst entwickelt sich das Ich-Gefühl und damit auch der Selbstwert nach dem Muster, das man täglich vor Augen hat.

 Damit sind wir bei der eigentlichen Frage, der Identitätsproblematik. Warum sollte die Frage der Identität im Alter problematisch sein, wo sie doch ohnehin eine lebenslange Aufgabe bleibt? Weil es von außen Rollenzuschreibungen gibt, denen wir uns gar nicht entziehen können. Sie haben Einfluss auf unsere Erwartungen, sie werden jedes Anzeichen von Schwäche als altersbedingt einstufen und schließlich haben sie sich alles soweit „ein-gebildet“ bis es zur physiologischen Tatsache wird. – Zum Glück kann man sich aber – wenn man sich etwas ein-bildet, auch „aus-bilden“. Es gibt Programme, wie das des britischen Psychologen Richard Wiseman von der Universität Hertfordschire, mit denen ein Pessimist binnen drei Monaten  in einen Optimisten verwandelt werden kann.

 Man könnte in Bezug auf die gefährdete Ich-Identität ebenso verfahren, wie Blaise Pascal (1623-1662) mit seiner Gotteswette:

  • Man glaubt an Gott, und Gott existiert – in diesem Fall wird man mit dem Himmel belohnt und hat gewonnen.
  • Man glaubt an Gott, und Gott existiert nicht – in diesem Fall gewinnt man zwar nichts, hat aber auch nichts verloren.
  • Man glaubt nicht an Gott, und Gott existiert nicht – in diesem Fall gewinnt man ebenfalls nichts, verliert aber auch nicht).
  • Man glaubt nicht an Gott, und Gott existiert – in diesem Fall verliert man alles und wird auch noch mit der Hölle bestraft.

Wer sich auch im späteren Leben mehr zutraut kann nur gewinnen, auch wenn er nicht mehr alles schafft. Er kann wenigstens von sich behaupten, den Versuch gewagt zu haben.

 Die eigentliche Aufgabe für den heutigen älteren Menschen besteht darin, dass man den gefühlten Vorwurf, zu alt zu sein, um noch etwas leisten zu können, widerlegt; trotz des möglichen Widerstandes im sozialen Umfeld. Die starren Grenzen des Renteneintrittsalters, die Forderungen der Kinder nach Rückzug, die Lästerei der Gesellschaft über alte Paare, verändern sich zwar gegenwärtig in eine positivere Richtung, solche Veränderungen haben aber im Selbsterleben eine lange Inkubationszeit. Wir können jedoch optimistisch sein: Nie war es so leicht wie heute, den tradierten Vorstellungen zu entkommen und das Ziel: Werde der Du bist! (Pindar, Pythische Oden) im bestmöglichen Sinne zu erreichen.

 Nun könnte man sagen, dass jede Krise ein Identitätsproblem mit sich bringt. Z.B. wenn ein großer Erfolg nicht wirklich ausgekostet werden kann, weil zu viele Kritiker und Neider Essig in den Wein gießen, den man eigentlich in vollen Zügen genießen wollte. Das gilt natürlich auch für andere Formen von Kränkungen.

 Warum gibt es aber im Alter ein spezifisches Identitätsproblem? Scheitern bei einem wichtigen Vorhaben, kann gerade im Alter zum Desaster werden. Junge Menschen haben die Chance noch einmal von vorne anzufangen. Im Alter aber reicht die Zeit nicht mehr.

 Die Selbstmordrate von Menschen über 60 ist sehr hoch. Das Verhältnis beträgt etwa 60:40. Dabei sind ältere Männer mit 17,4 pro 100.000 und Frauen in einem Verhältnis von 5,7 auf 100.000 betroffen. (Jeder 87. Mann und jede 243. Frau). Der Hauptgrund liegt in zunehmender Vereinsamung, Krankheiten die mit Immobilität einhergehen, vor allem aber in der Angst vor Abschiebung ins Pflegeheim. Der Verlust von Autonomie wird als Verlust der Ich-Identität erlebt. Suizid bedeutet die selbst bestimmte, bewusste Vernichtung dieser Identität bevor sie einem genommen wird.

 Die besonderen Identitätsprobleme im Alter könnte man also zusammenfassend als Gefühl der Sinnlosigkeit verbunden mit dem Gefühl der Perspektivlosigkeit beschreiben.

 Unsere Zeit verlangt Flexibilität und Schnelligkeit. Sie bietet dafür einen prompten materiellen Vorteil, aber wenig Sinn. Für Religiosität haben wir keine Zeit. Gerade im Alter sind es aber religiöse oder philosophische Fragen, die dem Identitätserleben neuen Schwung verleihen.

 Moderne Menschen definieren sich über ihren Erfolg und ihre materielle Potenz. Wer nicht mithalten kann, wird ausgesondert, vereinsamt, verliert sein Sinnerleben.

 An diesem Punkt trennen sich die Geschlechter immer noch deutlich. Männer erleben sich selbst über ihre Macht, ihr Prestige. Dies erklärt z. B. die harten Ablösungskämpfe in Familienunternehmen, die den designierten Nachfolger oft zur Verzweiflung bringen. Für ältere Männer mit einiger Macht bedeutet Prestigeverlust auch Identitätsverlust. Die religiöse Frage haben sie nie gestellt. Meistens wird das Dilemma mit einem Partnerwechsel vordergründig gelöst. Mit einer jüngeren Frau kommt nicht nur das Prestige zurück, mit ihr stellt sich auch eine Aufgabe. Katastrophal wird dieser Lösungsversuch allerdings, falls das Experiment scheitert. Das muss jedoch nicht zwangsläufig so sein. Es gibt bekanntlich auch junge Leute, die sich aus Liebeskummer das Leben nehmen. Allerdings geschieht dies dann eher im Affekt, nicht so überlegt und bei so klarem Bewusstsein wie bei älteren Menschen.

 Für Frauen wird es schwieriger, nach der Lebensmitte einen Partner zu finden. Frauen erwerben traditionell ihre Identität mit der Heirat. Noch bis vor einigen Jahren war es üblich, dass z. B. in Frankreich Briefe an eine verheiratete Frau mit dem Vor- und Familiennamen des Ehemannes adressiert wurden. Die Frau verschwand gewissermaßen vollständig hinter dem Namen des Mannes. Diese totale Identifikation mit dem Ehegatten wurde erst in den letzten Jahren durch die Berufstätigkeit der Frau verändert. Das Klischee steckt aber immer noch tief in jungen Frauen. Es zeigt sich in den Träumen und Vorstellungen vom perfekten Mann. Besonders Frauen mit dieser Einstellung finden oft erst spät von der ihnen zugewiesenen zu ihrer wirklichen Identität. Dafür gehen sie aber meistens vorher durch viele schwere innere Prüfungen. Umso mehr sind sie dann erstaunt, wie viel Potential sie noch haben und was noch alles möglich ist.

 Im Grunde geht es bei Frauen das ganze Leben lang um ihr Alter. Schon 20-jährige finden an sich Zeichen des Alterns. Immer tickt die „biologische Uhr“, die Angst, keine Kinder mehr gebären zu können. Die ganze kosmetische Milliarden-Industrie beschäftigt sich ausschließlich damit, alle Alterszeichen möglichst lange hinauszuzögern.

 Übrigens nimmt diese Angst auch bei Männern zu. Sie hat aber überwiegend berufliche Gründe, da der ideale Mitarbeiter vor allen Dingen durch sichtbare Fitness und gutes Aussehen beeindrucken soll. Zigarren rauchende ältere Herren, die in den 60er Jahren Macht und Kompetenz ausstrahlten, sind nicht mehr en vogue. Plastische Chirurgen sprechen inzwischen von einem Anteil von bis zu 40% männlicher Klienten. Wir kennen aus den Medien maliziöse Berichte über den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, den deutschen Kanzler Gerhard Schröder, den US Filmstar Michael Douglas und viele andere mehr.

 Mit zunehmendem Alter wird die Identität wieder diffus. Man ringt um den Erhalt der sicher geglaubten Identität. Das Selbstwertgefühl sinkt, weil man anerkennen muss, dass es jüngere Menschen gibt, deren Leistungsfähigkeit die eigene übertrifft. Aktuell wird dies in unserer Generation durch die völlig neuen Internet-Technologien erlebt. Man fühlt sich nicht mehr auf der Höhe der Zeit, denkt und handelt immer noch analog und nicht, wie gefordert, digital. Selbst wenn man den Wert der inzwischen etwas antiquierten humanistischen Bildung und Denkweise als hohes Gut schätzt, so verhält es sich doch wie mit dem einst kostbaren Porzellangeschirr: Es wird nicht mehr gebraucht, weil es nicht spülmaschinentauglich ist. Es mag zwar viel ästhetischer aussehen, – aber Ikea hat auch witziges Geschirr. Es nützt nichts zu betonen, dass die Großmutter das gute Geschirr nur an Festtagen aus der Vitrine geholt hat. Wir feiern keine Festtage mehr. Sie entstammen religiösen Vorgaben und sind inzwischen zur „Freizeit“ verkommen. An solchen Tagen wird vor allen Dingen ausgeschlafen. Es gibt keinen feierlichen Ritus mehr, der die Seele ordnet und erbaut. Hauptsache ist heute, dass möglichst viel Action stattfindet. Identität stiftet  bei Kollegen und Freunden die Erzählung davon, was man alles unternommen hat, welche Urlaubsziele man anstrebt und was man sich alles leisten kann. Die religiös begründete Identität als Mitglied einer Glaubensgemeinschaft, die jeden ohne Altersbegrenzung annimmt, ist verloren gegangen. Insofern hat der Gottesverlust auch den Identitätsverlust zur Folge.

 Die Folgen zeigen sich im Alter am deutlichsten. Eine Perspektive, die über die eigene Person hinaus weist, wird in der aufgeklärten Gesellschaft nicht akzeptiert; im besten Fall in die esoterische Ecke verbannt, als etwas für Frauen im Postklimakterium. Stattdessen zeigen sich Rivalität, Verzweiflung, Zynismus und Destruktivität. Das Identitätsproblem im Alter führt zu Neid auf die Jugend und nicht – wie von Eric Ericsson vorgeschlagen – zu einer Phase der Generativität und Weisheit. Generativität verlangt, die materiellen und geistigen Ressourcen an die jüngere Generation weiter zu reichen; nicht daran fest zu halten, um die eigenen Erfolge möglichst lang für sich behalten zu können.

Die Lösung liegt nach wie vor in der von Erikson vorgeschlagenen Generativität, worunter alles zählt, was für die folgenden Generationen nützlich sein kann. Nicht nur die eigenen Kinder und Enkel zu erziehen ist die Aufgabe, sondern auch Unterricht, Kunst und Wissenschaft, auch religiöse Überlieferung zu tradieren. Nicht zuletzt sollen wir durch das Vorleben einer klar erkennbaren Werthaltung der jüngeren Generation Wegweiser und Vorbild sein. C.G. Jung nennt die Aufgabe und den Zweck der zweiten Lebenshälfte Kultur. (GW 8 §767) Kultur verleiht dem eigenen Leben Sinn und stiftet gleichzeitig für die nachfolgende Generation Sinn.

Vielleicht ist der erlöst-glückliche Ausdruck im Gesicht von Toten ein Zeichen dafür, dass nun ihr Kampf um die Identität beendet sein darf. Am Ende sind wir wieder „all-eins“.

Zwischen der Ewigkeit, aus der wir geboren werden und der Ewigkeit, in die wir mit dem Tod wieder zurückkehren liegt nur eine kurze Zeitspanne. Wenn wir sie mit Sinn erfüllen konnten, haben wir glücklich gelebt.

 

 (1) „Identität“ (spätlat., zu lat. idem <derselbe>) wird allgemein als „die völlige Übereinstimmung einer Person oder Sache mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird.“ (Brockhaus-Enzyklopädie: in 24 Bde. – 19. Aufl. – Mannheim)

(2) „Problem“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel, wie das Vorgeworfene, das (zur Lösung einer Streitfrage) Vorgelegte. „Problematik“ ist nach dieser Definition eine „Streitfrage“. Frei nach Brockhaus

 SelbsttoetungSterblichkeit

 Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland: https://www.genesis.de

 Literatur:

Bauer, Joachim: Das Gedächtnis des Körpers. TB Piper Verlag. München, 3. Aufl. 2005
Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was Du fühlst. Hoffman und Campe. Hamburg. 1. Aufl. 2005
Damasio, Antonio R.: Ich fühle, also bin ich. Ullstein Verlage Berlin. 5. Aufl. 2004
Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp TB Wissenschaft 16. Frankfurt/Main 1973
Hüther, Gerald: Die Macht der inneren Bilder. Vandenhoeck & Rupprecht Göttingen. 2004, 2010
Jung, C. G.: GW 8. Walter-Verlag Olten, 2. Aufl.1971
Petzold, Hilarion G.: Sinn, Sinnerfahrung, Lebenssinn in Psychologie und Psychotherapie. Edition Sirius Bielefeld und Locarno. 2005
Schmid, Gary Bruno: Tod durch Vorstellungskraft. 2000 und 2010 Springer-Verlag Wien
Schoch, Anna: Altersspezifische Verhaltensweisen. Diss.: München,1990
Wiseman, Richard: Wie Sie in 60 Sekunden hr Leben verändern. Fischer Tb. Frankfurt. 6. Aufl. 2011